Krankheit und Siechtum beherrschen das Alter – so die Befürchtung der meisten Menschen. Dabei führt eine aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Ende nicht zwangsläufig zu Niedergeschlagenheit, sie eröffnet auch neue kreative, menschliche und spirituelle Perspektiven. Zunächst gilt es, die beherrschenden Faktoren dieser Lebensphase, zu denen unbestritten auch bestimmte Krankheitsbilder gehören, zu betrachten.
Erkrankungen in der letzten Lebensphase
Drei Krankheitsverläufe dominieren die letzte Lebensphase: (I) onkologische Erkrankungen (diese sind zunächst durch eine relativ lange Zeit mit wenigen Einschränkungen im Alltag charakterisiert; innerhalb weniger Monate treten körperlicher Abbau, Funktionsverlust und Tod ein); (II) Herz-, Lungen- oder Nierenerkrankungen (diese erstrecken sich über mehrere Jahre mit mehr oder minder stark ausgeprägten Einschränkungen im Alltag; gelegentlich treten akute Verschlechterungen ein, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen; die sich anschließende Erholung erreicht das frühere Funktions- und Leistungsniveau nicht mehr); (III) Gebrechlichkeit, die vielfach mit einer demenziellen Erkrankung einhergeht (diese ist mit einem über mehrere Jahre bestehenden, kontinuierlich steigenden Niveau der Hilfsbedürftigkeit verbunden). Im hohen und höchsten Alter dominieren nun immer weniger die onkologischen Erkrankungen (die vor allem für die letzte Lebensphase im mittleren Erwachsenenalter charakteristisch sind), es treten hingegen die Herz-, Lungen- und Nierenerkrankungen sowie die Gebrechlichkeit immer mehr in den Vordergrund. Diese langwierigen Krankheitsverläufe erfordern vielfach ein Palliativkonzept bereits mehrere Jahre vor Todeseintritt. Aus diesem Grunde wird auch zwischen Palliative Care und End-of-Life-Care unterschieden.
Untersuchungen über das Krankheits- und Symptomspektrum von Patientinnen und Patienten auf geriatrischen Palliativstationen zeigen, dass die häufigsten Diagnosen nicht-onkologischer Natur sind: Zu diesen Diagnosen zählen der Schlaganfall, die Pneumonie (Lungenentzündung), die Demenz, die Herzinsuffizienz. Die Patientinnen und Patienten sind funktionell vielfach stark eingeschränkt (ungefähr bei sechzig Prozent der Patienten besteht Pflegebedarf) und weisen im Durchschnitt fünf Begleiterkrankungen auf. Während bei Tumorpatienten die Schmerzsymptomatik ganz im Vordergrund steht (fast neunzig Prozent dieser Patienten leiden an Schmerzen), sind es bei Patienten auf geriatrischen Palliativstationen Schluckstörungen, Fieber, Verstopfung, Unruhe, Atemnot. Wenn eine Schmerzsymptomatik besteht, so lässt sich diese bei den nicht-onkologischen Patientinnen und Patienten mit konservativen Mitteln oftmals gut behandeln. Aufgrund des häufigen Auftretens von Schluckstörungen in dieser Gruppe gewinnt die Frage nach einer möglichen Therapiebegrenzung besondere Bedeutung.
Bedeutung der palliativen Versorgung
Die Versorgung sterbender Menschen im hohen und höchsten Lebensalter stellt eine wachsende Herausforderung ambulanter und stationärer Einrichtungen der Alten- und Krankenpflege wie auch der im ambulanten und stationären Bereich spezialisierten palliativen Versorgungsdienste dar. Dieses Thema gewinnt zunehmend an Aktualität, da durch den Einsatz intensivmedizinischer Maßnahmen jene Schwerstkranken, die in vergangenen Jahrzehnten die bestehende Krankheit nicht überlebt hätten, nun über Monate oder Jahre mit der Krankheit leben können. Dabei ist allerdings auch das Risiko gegeben, dass die Patienten viele Monate, wenn nicht sogar Jahre schwerste körperliche und psychische Symptome wie auch stark ausgeprägte funktionelle Einschränkungen verarbeiten müssen – und dabei auf medizinische und umfassende pflegerische Hilfe angewiesen sind. Die Frage nach der Pflege am Lebensende ist auch deshalb aktuell, weil die Familien vielfach die Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen nicht leisten können – sei es, weil aufgrund der gestiegenen Erwerbstätigkeit von Frauen in der Lebensmitte potenzielle pflegerische Ressourcen nicht mehr vorhanden sind oder weil die Familien aufgrund gewachsener räumlicher Mobilität zunehmend multilokale Wohnformen zeigen, die die instrumentelle und die emotionale Unterstützung in Notfällen erschweren. Und schließlich ist durch gesundheitsökonomische und versorgungspolitische Entscheidungen ein weiteres Problem gegeben: Die palliative Versorgung wird sich voraussichtlich mehr und mehr von der Klinik in pflegerische Einrichtungen verlagern. Entsprechend wird die Bedeutung professioneller Pflege sowohl im stationären als auch im ambulanten Sektor wachsen, damit eine bedarfsgerechte, an den Vorstellungen von Lebensqualität orientierte Betreuung älterer Menschen am Lebensende gewährleistet ist.
Sich-einstellen auf die eigene Endlichkeit
In Untersuchungen zur hausärztlichen Versorgung sterbender Menschen wurden sehr verschiedenartige Gedanken, Hoffnungen und Ängste offenbar, die mit dem herannahenden Ende verbunden sind. Im Falle einer nachhaltigen Schmerzlinderung durch gute Analgetika-Einstellung und einer nachhaltigen Symptomreduktion (durch stimulierende und aktivierende Pflege, durch Physiotherapie und Krankengymnastik sowie durch medikamentöse Behandlung) kann ein Grad an Entlastung von körperlichen Symptomen erzielt werden, der es den sterbenden Frauen und Männern ermöglicht, sich bewusst auf das herannahende Ende einzustellen. Auch die sensible Anwendung psychopharmakologischer Substanzen im Fall übermäßiger Angst, Erregung und Niedergeschlagenheit dient diesem Ziel. Dieses bewusste Sich-Einstellen auf das herannahende Ende wird von fast allen Patientinnen und Patienten als großer Gewinn der Palliativversorgung gewertet. Auch bei bester medizinisch-pflegerischer, psychosozialer und seelsorgerischer Begleitung unterscheiden sich die Einstellungen zum herannahenden Lebensende deutlich. Manche versuchen, Gedanken an das Lebensende zu verdrängen, andere sind von der Erwartung bestimmt, wieder zu genesen, wieder andere reagieren niedergeschlagen. Die größte Gruppe bilden Frauen und Männer, die das herannahende Ende akzeptieren, also bewusst annehmen, oder die – über diese Annahme hinaus – in ihrer Situation eine Quelle der Wert- und Zielverwirklichung erblicken und ein „Sinn-Erleben“ erfahren. Zu diesen Werten und Zielen gehört vor allem die Weitergabe persönlicher Erfahrungen an Angehörige nachfolgender Generationen, die sich auch als symbolische Segnung oder Überreichung eines kostbaren Geschenks ausdrücken kann. Auch die Vermittlung von Dank an Menschen, die einem viel bedeutet haben und aktuell viel bedeuten, und schließlich der Versuch, mit jenen Menschen „ins Reine zu kommen“, zu denen nicht selten über Jahre ein konfliktbesetztes Verhältnis bestanden hat, ist ein solches Ziel. Einige Frauen und Männer sind zusätzlich von dem Gedanken getrieben, ein Werk – zum Beispiel ein wissenschaftliches, literarisches oder autobiografisches Werk – zu Ende zu führen, was durchaus das Leben noch einmal um mehrere Wochen verlängern kann.
Vor allem jene Patientinnen und Patienten, die sich als bezogen erleben – im Hinblick auf andere Menschen, auf ihr Werk, auf Gott oder, unspezifischer, auf Transzendenz –, zeigen sehr viel häufiger eine akzeptierende beziehungsweise eine wert- und zielverwirklichende Haltung im Sterben als jene, bei denen eine derartige Bezogenheit nicht erkennbar ist. Die wichtigste Form der Bezogenheit bildet dabei diejenige auf andere Menschen.
Wenn Schmerz- und Symptomkontrolle gelingen, wenn Sterbende die Zuwendung finden, die sie suchen und benötigen, dann kann sich ihr Blick, aber auch der Blick ihrer Bezugspersonen auf das Sterben noch einmal erheblich wandeln. Das Sterben kann dabei – neben einer persönlichen Krise – durchaus als ein Prozess erlebt werden, der das eigene Leben zu einer Rundung, zu einem Abschluss bringt.
„Symbolische Unsterblichkeit“
Blicken wir nun auf drei gerontologische Argumentationslinien, die ein tieferes Verständnis der Einstellung älterer Menschen zur eigenen Endlichkeit fördern. Die erste Argumentationslinie betont die Offenheit des Menschen, das heißt seine Fähigkeit und Bereitschaft, sich neuen Entwicklungsmöglichkeiten und -anforderungen gegenüber zu öffnen – und dies in allen Lebensaltern, in allen Lebenssituationen. Die Offenheit des Menschen bildet die Grundlage für die seelisch-geistige Entwicklung des Menschen, und dies bis in das höchste Alter. Sie fördert das Erleben ganz neuer personaler Qualitäten, wie sie sich im Alter und im Vorfeld des Todes einstellen können. Das Erleben dieser neuen Qualitäten wirkt sich positiv auf die Bereitschaft aus, die eigene Endlichkeit anzunehmen und bewusst zu gestalten.
Die zweite Argumentationslinie betont die Generativität. Sie hebt hervor, dass auch im Alter das Motiv, sich für andere Menschen zu engagieren, in anderen Menschen fortzuleben, anderen Menschen eigenes Wissen weiterzugeben und sich mit deren Zukunft vermehrt zu identifizieren, großes Gewicht besitzt – dies unter der Voraussetzung, dass mitverantwortliches Leben im bisherigen Leben ein zentrales Lebensthema bildete und sich im höheren Lebensalter entsprechende Möglichkeiten zum Engagement für nachfolgende Generationen ergeben. Die in der Generativität aufscheinende „symbolische Unsterblichkeit“ bildet dabei eine bedeutende Rahmenbedingung für die Deutung der eigenen Endlichkeit: Das Fortleben in anderen Menschen transzendiert in gewisser Hinsicht die eigene Endlichkeit und fördert damit deren Akzeptanz.
Die dritte Argumentationslinie bezieht sich schließlich auf die Integrität des Menschen, mit der das Motiv umschrieben wird, das eigene Leben mit seinen Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch mit seinen Beschränkungen und Grenzen als etwas Notwendiges, ja sogar als etwas Gutes zu begreifen. In dem Maße, in dem das eigene Leben mit seinen Höhen und Tiefen angenommen werden kann, nimmt auch die Bereitschaft zu, die eigene Endlichkeit zu akzeptieren.
Schöpferisches Wirken am Lebensende
Wenn wir nun die Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive am Lebensende zusammenfassen und nach einem Beispiel dafür suchen, so fällt der Blick auf den Komponisten Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750).[1] Johann Sebastian Bach litt in seinen letzten Lebensjahren an einem Diabetes mellitus Typ II, der mit Schädigungen der Nervenzellen und Sinneszellen einherging; bei ihm waren stark ausgeprägte motorische Läsionen erkennbar, die ihn mehr und mehr daran hinderten, seine Kompositionen selbst aufzusetzen. Er war auf die Unterstützung durch seine Schüler angewiesen. Schließlich erblindete er und erlitt einen Schlaganfall. Trotz dieser körperlichen Verletzlichkeit unterrichtete Johann Sebastian Bach Schüler (was damals hieß, diese bei sich aufzunehmen) und arbeitete an zwei Werken, die mit zu den größten gehören, die in der europäischen Kompositionsgeschichte je geschaffen wurden: der Kunst der Fuge (BWV 1080) und der Missa in h-moll (BWV 232). Nun muss man wissen, dass sich Johann Sebastian Bach am Ende seines Lebens vor allem mit dem Credo in unum deum und dem Confiteor in unum baptisma beschäftigt hat, also mit zwei Teilen der Missa in h-moll, die in besonderer Weise auf seinen intensiven Glauben an Gott verweisen. In beiden Sätzen baut er über das jeweilige Cantus-firmus-Motiv eine Fuge auf, die jeden Hörer in ihren Bann zieht: Hier werden das Ich glaube (credo) und das Ich bekenne (confiteor) mit einer musikalischen Kraft deklamiert, die einen körperlich hoch verletzlichen, die Endlichkeit schon sehr deutlich spürenden Menschen als Schöpfer kaum vorstellbar macht. Die hier zum Ausdruck kommende seelisch-geistige Energie kontrastiert mit der immer schwächer werdenden körperlichen Leistungsfähigkeit. Dies zeigt, dass im Angesicht des eigenen Todes Entwicklungsschritte vollzogen werden können – so bei Johann Sebastian Bach die Bekräftigung seines Glaubens an den Großen Gott bei wachsender Erkenntnis, bald zu sterben.
Andreas Kruse, geboren 1955 in Aachen, Direktor des Instituts für Gerontologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Zum Weiterlesen
Andreas Kruse: Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach. Psychologische Einblicke, Springer Spektrum Verlag, Heidelberg 2013.