Die neue Härte
Der Parcours des Literaturwissenschaftlers durch die Tagespresse der letzten Jahre bietet wertvolle Aufschlüsse, hat jedoch den Mangel, sich auf die Rhetorik der parlamentarischen Rechten zu kaprizieren. Die Emphasen des Wir, denen die politische Linke seit den Tagen des Jakobinismus zuneigt – seit also die Linke überhaupt zur „Linken“ geworden ist und als solche firmiert –, sind kein Thema.
Weit umsichtiger hat Helmuth Plessner das Thema aufgegriffen, als er – lange vor Detering – sein Werk Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus verfasste. Demnach ist weder allein die ‚rechte‘ noch die spezifisch ‚linke‘ Anrufung des großen Wir problematisch, sondern unmittelbar die Platzierung dieser Instanz selbst. Die Emphase der Gemeinschaft, so die zentrale These Plessners, unterbietet die Anforderungen der Modernität. Plessner definiert die Gemeinschaft – die Gemeinschaft gleich welcher Couleur – als informellen Verbund von Menschen, deren Meinen auch über den Kreis der ohnehin Überzeugten hinaus aus ihrer Sicht unbestreitbar ist. Auf die Bestätigung durch zählbare Mehrheiten kann die Wir-Gemeinschaft verzichten, weil ihre Einstellung ihrem Selbstverständnis zufolge evident ist und sie sich fraglos im Recht wähnt.
Das kann gelingen, weil die Gemeinschaft den Realforderungen der Gesellschaft mit Idealforderungen begegnet, deren Bewährung in einer unbestimmten Zukunft liegt. Plessner verwendet für diesen Habitus das zu seiner Zeit neue, im Vorfeld des Nationalsozialismus aufgekommene Attribut „aktivistisch“. Der Elan der aktivistischen Wir-Gemeinschaft richtet sich, so Plessner, gegen alles „Bedingte“ und „Begrenzte“, gegen die „Stimme des Ausgleichs“. Entsprechend scharf ist seine Rhetorik. Dem großen Wir der Gemeinschaft ist nicht daran gelegen, Diskussionen zu eröffnen oder sie weiterzuführen. Als eine Instanz, deren Überlegenheit für sie selbst außer Zweifel steht, will das große Wir die Diskussionen beenden und seine Idealforderungen durchsetzen. So wird das politische Wir – schlicht aus seiner inneren Verfasstheit heraus – autokratisch.
Zustimmungsfähigkeit und Bindung
Helmuth Plessner spricht von der reaktiven, die Anforderungen der Modernität unterlaufenden Faszination eines Zusammenlebens, das die anachronistische Vorstellung einer „übergreifenden organischen Bindung“ lebendig hält.
Damit ist ein Problem berührt, das die Gesellschaften der Moderne bis heute begleitet. Bereits die schottischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts haben den klassischen Begriff des sensus communis, des „Gemeinsinns“, neu gefasst und ihm eine gesellschaftspolitische Dimension erschlossen. Während der Common Sense hierzulande als ein dem Verstandeswesen Mensch gegebenes, geistig-sinnliches Vermögen verstanden wurde, als anthropologische Grundausstattung, wiesen der schottische Philosoph Thomas Reid und seine Mitstreiter darauf hin, dass staatliches Handeln, sobald es nicht mehr von überweltlichen Mächten legitimiert ist, unabhängig von den Aussagen der Wissenschaft oder des Rechts zustimmungsfähig sein muss. Als Organ dieser Zustimmung bestimmten die Aufklärer den Common Sense. Angesichts der Labilität, die sich derzeit in den westlichen Gesellschaften bemerkbar macht, spricht der französische Politologe Pierre Rosanvallon heute von der Vertrauenswürdigkeit einer durch sich selbst – und nicht erst durch förmliche ‚Anerkennung‘ oder den Nachweis der ‚Funktion‘ – gerechtfertigten Ordnung.
Das politische „Wir“ tut sich allerdings schwer damit, der Repräsentant einer solchen Ordnung zu sein, die sich das Vertrauen der Bürger verdienen will. In dem Maße, wie es sich Geltung verschafft, entwickelt es die fatale Neigung, sich exklusiv zu setzen, Feindbilder zu pflegen und überhaupt alles, was das menschliche Zusammenleben betrifft, in seinem Sinn zu politisieren. Allein aufgrund seiner Konstitution – und im strikten Gegensatz zu den Intentionen der Aufklärer – wird das große Wir illiberal. Statt offen zu streiten und klug zu verteidigen, was der Verteidigung wert wäre, will es verbieten und ausschließen, wozu ihm nichts einfällt.
Mag sein, dass auch und gerade liberale Gesellschaften auf so etwas wie das große Wir, als der gleichsam zeitgemäßen Version des Common Sense, angewiesen sind. Um dieser Tradition und ihrem Anspruch zu genügen, müsste es sich allerdings selbst verändern und lernen, was ihm am schwersten fällt: Zurückhaltung.
Ralf Konersmann, geboren 1955 in Düsseldorf, emeritierter Professor für Philosophie und bis 2021 Direktor des Philosophischen Seminars der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Publizist und Autor zahlreicher Bücher, Essays und Feuilletons. Zuletzt erschienen sind „Die Unruhe der Welt“ (2015), das „Wörterbuch der Unruhe“ (2017) sowie „Welt ohne Maß“ (2021). Der im Frühjahr erschienene Essay über den „Außenseiter“ war Buch des Monats Juli im „Philosophie Magazin“.
Literatur
Detering, Heinrich: Was heißt hier „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten, Stuttgart 2019; siehe auch Reinhard Blomert et al. (Hrsg.): Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt am Main 1993.
Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Erstauflage 1924, Frankfurt am Main 2002.
Rosanvallon, Pierre: Unsichtbare Institutionen, Hamburg 2025.