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Die Ukraine ringt um ihre Souveränität

Eine Innenansicht

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23 Jahre nach ihrer Unabhängigkeit erlebt die Ukraine, dass ihre territoriale Integrität und ihre staatliche Souveränität trotz internationaler Garantien, durch die sie sich sicher wähnte, erneut behauptet werden müssen. Die Annexion der Krim durch Russland erfolgte durch einen völkerrechtswidrigen Bruch des „Budapester Memorandums“ von 1994, in dem die Ukraine, Russland, die USA und Großbritannien vereinbart hatten, dass die ukrainische Souveränität, die Grenzen des Landes sowie seine politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit gewährleistet werden. Als Gegenleistung verzichtete die Ukraine auf die im Land stationierten sowjetischen Nuklearwaffen.

Auf die Annexion der ukrainischen Krim im März dieses Jahres folgte die Verletzung der Grenzen im Osten der Ukraine. Russische Spezialeinheiten und Transporte von Waffen und Munition passierten die grüne Grenze in den Gebieten Lugansk und Donezk, der Donbassregion. Auf Widerstand stießen sie nicht, auch die Miliz in den Städten blieb weitgehend untätig. Die professionellen Kämpfer schossen sich den Weg in die Verwaltungsgebäude frei und verbreiteten Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Innerhalb weniger Wochen wurden Stadtverwaltungen, Gebäude der Miliz und der Staatsanwaltschaft, Flughäfen und Fernsehsender besetzt und rasch in die Hände von „Aufständischen“ übergeben. Unter denjenigen, die sofort bereit waren, das Machtvakuum als „Volkskommandeure“ und Kämpfer für eine „Volksrepublik Donbass“ zu füllen, waren nicht zuletzt sogenannte kriminelle Autoritäten aus der Region. Sie erhielten aus Russland den Auftrag, die Ausrufung einer autonomen Region im Donbass mittels selbst gestrickter Referenden nach dem Beispiel der Krim herbeizuführen. Am 11. Mai 2014 wurde dies umgesetzt. Nach Angaben ihrer Organisatoren sollen sich 96 Prozent der Wahlberechtigten in Lugansk und 89 Prozent in Donezk der an der Abstimmung Beteiligten für eine Unabhängigkeit des Donbass ausgesprochen haben. Am selben Tag gab es in einigen Bezirken des Donbass eine parallele Abstimmung, bei der sich die Bürger für eine Fusion mit dem Gebiet Dnipropetrowsk entscheiden konnten. Auch dazu soll es großen Zuspruch gegeben haben. Überprüfen lassen sich die Ergebnisse nicht. Bei dem Referendum für die Unabhängigkeit des Donbass, das weder von der Zentralregierung in Kiew noch von der EU und den USA anerkannt wird, waren keine nationalen oder internationalen Beobachter zugegen. Augenzeugen berichten von massivem Druck auf potenzielle Wähler, von Mehrfachabstimmungen und vorab ausgefüllten Stimmzetteln. Wenn auch die Schlangen vor einigen Wahllokalen im Donbass beeindruckten, so zeichnen repräsentative Umfragen zwischen dem 10. und 15. April in sechs Regionen der südöstlichen Ukraine ein anderes Bild. Bemerkenswert ist, dass diese Ergebnisse, was den russischsprachigen Anteil der Bevölkerung betrifft, tendenziell mit früheren Umfragen unter Präsident Viktor Janukowitsch übereinstimmen. So brachten im April 27,5 Prozent der Befragten im Donezker und 30,3 Prozent im Lugansker Gebiet ihren Wunsch, der Russischen Föderation beizutreten, zum Ausdruck. Die überwiegende Mehrheit aber sprach sich klar für die territoriale Integrität der Ukraine aus.

Der Wunsch einer Minderheit von immerhin knapp dreißig Prozent darf nicht ignoriert werden – das hat das Wochenende der selbst gestrickten Referenden gezeigt. Dabei ist zu beachten, dass die Entscheidung zu einem großen Teil auf die absolute Dominanz russischer Medien und ihrer sehr einseitigen Propaganda gegen die Zentralregierung in Kiew zurückzuführen ist. Bereits vor Wochen hatten die pro-russischen Kräfte in der Region die Frequenzen des ukrainischen Fernsehens mit russischen Sendern belegt. Aber auch die Kommunikationspolitik der ukrainischen Regierung war in den vergangenen Monaten unzureichend und trug nicht dazu bei, die bei den Menschen geschürten Ängste vor ihrer angeblich „faschistischen“ Regierung abzubauen. Vielen russischstämmigen Ukrainern, die derzeit tatsächlich hoffnungsvoll nach Moskau blicken, geht es nicht darum, Schutz zu finden vor ethnisch motivierter Unterdrückung oder sprachlicher Ausgrenzung. Auch hierüber geben kürzlich durchgeführte Umfragen Auskunft. Sie legen dar, dass sich über achtzig Prozent der Bevölkerung nicht als russischsprachige Gruppe diskriminiert fühlen. Die Ukraine ist ein bilinguales Land, in dem sowohl die Amtssprache Ukrainisch als auch das Russische im Alltag und in den Medien gleichberechtigt gesprochen werden kann. Unter Janukowitsch wurde 2012 ein damals heftig umstrittenes Sprachengesetz verabschiedet, das den Minderheiten, die über zehn Prozent der Bevölkerung einer bestimmten Region ausmachen, einen regionalen sprachlichen Sonderstatus zuspricht. Das Gesetz sollte die Möglichkeit schaffen, Sprachen wie das Russische, Ungarische, Rumänische oder Krimtatarische auch bei Behörden oder in Bildungseinrichtungen einzufordern, wurde allerdings nicht umgesetzt.

Kurz nach Bildung der Übergangsregierung Ende Februar sollte das Sprachengesetz auf Initiative der rechtsnationalen Partei Swoboda zurückgenommen werden. Die Rücknahme wurde dann ihrerseits eilig gestoppt, nachdem diese Absicht erhebliche Unruhe im Süden und Osten der Ukraine verursacht hatte. Premierminister Arsenij Jazenjuk wiederholt daher gerade in den letzten Wochen immer wieder, dass im Zuge der derzeit diskutierten Verfassungsreform und geplanten Dezentralisierung auch die Sprachenfrage in den Regionen Berücksichtigung finden werde.

Im Donbass und auf der Krim war das Engagement vieler älterer Bewohner für einen Anschluss an Russland auch dadurch motiviert, dass sie meinten, nun in den Genuss höherer Renten zu kommen. Eine solche Vermutung scheint der relative ökonomische Vorsprung Russlands gegenüber der Ukraine nahegelegt zu haben. Nachdem die Renten auf der Krim nur geringfügig (also nicht um das Dreifache, wie angekündigt) gestiegen waren, wurden mit der Umstellung auf das Zahlungsmittel Rubel auch die Preise auf russisches Niveau angehoben, sodass unter dem Strich nicht mehr oder sogar weniger übrig blieb. Schwer wiegt auch, dass in diesem Jahr die Tourismussaison auf der Krim wohl ausfällt und sehr vielen Menschen an der Küste damit die Lebensgrundlage entzogen ist.

Weitgehend unbeachtet von der internationalen Öffentlichkeit gibt es sowohl auf der Krim als auch nach der Übernahme von Lugansk und Donezk durch pro-russische Separatisten immer mehr Fälle von Verfolgungen derjenigen, die sich für einen Verbleib in der Ukraine einsetzen. Einer der wenigen bekannt gewordenen Fälle ist die Ermordung des „Batkiwschtschyna“-Abgeordneten Wolodymyr Rybak aus Gorliwka in der Nähe von Donezk, der mit Spuren schwerer Misshandlungen tot in einem Straßengraben aufgefunden wurde. Er hatte noch Ende Januar eine kommunalpolitische Schulung der Konrad-Adenauer-Stiftung besucht.

Im Donbass dreht sich die Gewaltspirale immer weiter. Zunehmend wird es auch für gänzlich Unbeteiligte sehr gefährlich. So wurde Anfang der Woche in Lugansk ein ukrainisch-sprachiger Kindergarten in Brand gesetzt. Die Sicherheitslage ist unübersichtlich; mittlerweile scheint es fünf unterschiedliche bewaffnete Gruppierungen zu geben, die mal für die Unabhängigkeit, mal für den Anschluss an Russland kämpfen. Unter sie mischen sich offenbar auch Kriminelle, die ihre Chance wittern, persönliche Rechnungen begleichen zu können.

Die Führungsspitze der Separatisten unterliegt einem andauernden Wechsel. Ständig werden neue und abweichende politische Forderungen erhoben. In Donezk hat in diesen Tagen Igor Strelok, der nach Meldungen der Ukrainska Pravda ein Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes sein soll, das Oberkommando übernommen. Er spricht von einem „Genozid an der Donezker Bevölkerung durch die Junta in Kiew“, von der „Gefahr einer Intervention der NATO“ und bittet Moskau um militärische Hilfe. Die Bevölkerung im Donbass ist verunsichert und verängstigt.

Auf der Krim müssen derweil zivilgesellschaftliche Organisationen schließen und sich nach russischem Gesetz neu registrieren lassen. Über 9.000 Flüchtlinge von der Krim und erste politisch motivierte Übersiedlungen aus dem Donbass wurden bereits offiziell in Kiew registriert. Die Ereignisse auf der Krim und im Osten der Ukraine haben die Stimmung der Menschen in der ganzen Ukraine verändert. Neben Bedrückung und Angst vor einem militärischen Konflikt ist die Enttäuschung über Russland sehr tief. In den vier Jahren der Präsidentschaft Janukowitsch waren die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland alles andere als gut, selbst wenn Janukowitsch in den letzten Monaten vor seiner Flucht zu einer Marionette des russischen Präsidenten mutierte.

Nach einer landesweiten Umfrage konnten Anfang Mai 2014 sich nur noch 4,9 Prozent der Ukrainer vorstellen, dass Janukowitsch wieder in sein Präsidentenamt zurückkehrt. Art und Umfang der imperialen Aggression Russlands übertrafen dann aber doch alle Erwartungen. Der Gesprächsfaden zwischen Ukrainern und Russen ist gerissen; der Riss geht nicht nur durch die politische Verbindung der Regierungen, sondern trennt auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Viele Ukrainer berichten, dass seit geraumer Zeit Funkstille zwischen ihnen und Verwandten in Russland herrsche. Es wird vermutlich mühsam und langwierig werden, die Gesprächsbande neu zu knüpfen und Vertrauen entstehen zu lassen. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften, welche in der ukrainischen Gesellschaft sehr hohes Vertrauen genießen, könnten hier eine wichtige Vermittlerrolle spielen. Selbst wenn es fast unmöglich scheint, nach mehrfach erfolgtem Vertragsbruch Russlands wieder Verhandlungen aufzunehmen, ist dies der einzige Weg zu Vereinbarungen und zu einer schrittweisen Deeskalation der Lage. Der Runde Tisch in Kiew war Mitte Mai zumindest ein erster Schritt in diese Richtung. Zöge man alle bewaffneten pro-russischen Kräfte aus der Ukraine ab und stellte deren Finanzierung ein, dann würde sich sehr schnell herausstellen, dass es ohne Anlass von außen einen innerukrainischen Konflikt nicht gäbe. Die Situation würde sich in kürzester Zeit beruhigen. Die ukrainische Übergangsregierung hätte dann endlich die Möglichkeit, sich voll und ganz den dringend erforderlichen politischen und wirtschaftlichen Reformen im Land zu widmen.


Gabriele Baumann, geboren 1963 in Berlin, Leiterin des Auslandsbüros Kiew/Ukraine der Konrad-Adenauer-Stiftung.


Redaktionsschluss für diesen Beitrag war der 16. Mai 2014.