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Schon wieder wählen? Kaum haben sich Wähler und Gewählte leidlich an die neuen politischen Konstellationen nach der Bundestagswahl gewöhnt, da steht der nächste Urnengang bevor – die Wahlen zum Europäischen Parlament am 25. Mai. Es dürfte nicht leichtfallen, die durch Bundestagswahlkampf und Koalitionsverhandlungen beanspruchten Deutschen erneut zur Stimmabgabe zu motivieren, zumal sie sich zunehmend unbeeindruckt von Europawahlkämpfen gezeigt haben: 2009 gingen nur noch 43 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen. Was die Beteiligung betrifft, werden wohl auch in diesem Mai keine Blütenträume wachsen. Schließlich herrscht, noch bevor das „größte transnationale Demokratiefest“ (José Manuel Barroso) steigt, Katerstimmung wegen der europäischen Schuldenkrise.

Kurzschlüssig wäre es in dieser Situation, die Bedeutung des Wahlakts zu überhöhen und ihn zu einer europäischen Schicksalswahl auszurufen. Eher ist Zurückhaltung angeraten. Nicht allein, weil Übertreibungen den euro- und europaphoben Gruppierungen, die die Wahl als Referendum über die Zukunft des Euro und Europas verkaufen wollen, in die Hände spielte. Überhaupt hat übersteigerte Europarhetorik wenig Überzeugungskraft. Die Bürger, gerade die jüngeren, sind nicht weniger europäisch gesinnt als vor Jahrzehnten, aber sie sind nüchterne Europäer – und das nicht nur wegen der Krise.

Für immer mehr Menschen hat die Europäische Union alltäglichen Charakter. Wie selbstverständlich nehmen sie – etwa beim ERASMUS-Programm – ihre Chancen europäisch wahr. Ihnen muss nicht unmittelbar einleuchten, wieso sie ihre Zustimmung zur europäischen Idee obendrein durch eine Stimmabgabe manifestieren sollen. Auch sagt ihnen ihre Grunderfahrung zu Recht, dass am 25. Mai weder der Euro noch Europa auf dem Spiel stehen. Trotzdem ist die Wahlbeteiligung wichtig. Aber das sollte über die Themen vermittelt werden, die auf europäischer Ebene auszuhandeln sind und die durchaus zukunftsweisende Bedeutung haben. An ihnen erweist sich, worum es bei der Wahl geht.

Die Fotostrecke dieser Ausgabe dokumentiert, dass europäische Grenzen zu Wegen geworden sind. Die Bilder spiegeln die unspektakuläre Normalität des heutigen Mit- und Nebeneinanders wider, die umso ergreifender ist, je mehr man sich die einstige Bedeutung der Grenzen ins Bewusstsein ruft. Gerade im 100. Jahr nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs besitzt diese unvollkommene und unvollendete Alltäglichkeit ein eigenes Pathos. Immerhin ist es für viele Bürger der Ukraine mitreißend genug, um Teilhabe an diesem Projekt zu fordern, das aber das genaue Gegenteil von gewaltsamer Eskalation beinhaltet.

 

Bernd Löhmann, Chefredakteur