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Ein religiös imprägnierter Humanismus

Thomas Manns amerikanische Religion

Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 352 Seiten, 18,99 Euro.

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Neu ist die Information nicht. Spätestens seit Erika Mann 1965 eine dreibändige Ausgabe mit Briefen ihres Vaters herausgebracht hatte, hätte man im dritten Band den entsprechenden Hinweis finden können, einen Brief, gerichtet an einen gewissen Stephen H. Fritchman, „seit 1948 Pfarrer an der First Unitarian Church in Los Angeles“, wie die Herausgeberin im Anhang vermerkt. Ein höchst aufschlussreiches Schreiben, zumindest für diejenigen, die am „Faktor“ Religion in Werk und Leben Thomas Manns Interesse haben. Denn in dem Brief, geschrieben zwei Jahre nach Rückkehr der Familie Mann aus den USA im schweizerischen Kilchberg und auf den 5. Dezember 1954 datiert, stehen mehr als die üblichen Liebenswürdigkeiten Menschen gegenüber, an die man sich gerne erinnert. Thomas Mann macht hier zwei bemerkenswerte Angaben, die hätten aufhorchen und weiterfragen lassen sollen.

Er fühle sich der Unitarian Church „auf mancherlei Weise verbunden“, schreibt Thomas Mann, „auf persönliche und allgemein geistige“ Art. Persönlich, weil alle seine vier Enkel (die beiden Töchter von Elisabeth Mann-Borgese, Angelica und Dominica, sowie die beiden Söhne von Michael Mann und seiner Schweizer Frau Gret Moser, Frido und dessen Bruder Anton) in dieser Kirche „die Taufe empfangen“ hätten und Pastor Fritchman persönlich auch seinen Bruder Heinrich, der im März 1950 fast achtzigjährig in Kalifornien verstorben war, „für die Ewigkeit eingesegnet“ habe. „Allgemein geistig“, weil der „Geist“ der unitarischen Kirche für Thomas Mann der Geist eines „christlichen Humanismus“ ist, den er nicht nur bejaht, sondern „in wahrer Sympathie bewundert“, seit er ihn kennengelernt habe. Ja, angesichts des gegenwärtig grassierenden Ungeistes eines denunziatorischen Antikommunismus unter Federführung des damals berühmt-berüchtigten US-Senators McCarthy, unterstützt von bestimmten christlichen Kirchen in den USA, eines Ungeistes, der auch ihn, Thomas Mann, aus den USA zu vertreiben half, bescheinigt der Autor der Unitarian Church, „jene westlichen und christlichen Ideale in ihrer Reinheit“ vertreten zu haben, „und zwar unter Opfern“! War doch Fritchman wie Thomas Mann in den Verdacht der Kommunismusunterstützung geraten.

So neu also ist die Information über eine enge persönliche und sachliche Beziehung Thomas Manns zu einer Kirche in der Tradition des Unitarismus nicht. Denn spätestens seit die entsprechenden Bände der Tagebücher vorliegen, hätte man noch Genaueres erfahren können: dass beispielsweise Tochter Elisabeth ihren Mann Giuseppe Antonio Borgese am 21. November 1939 in der Kapelle der Universität Princeton im Rahmen einer unitarischen Feier geheiratet hat.

 

Ohne innere Bindung?

Nur: Nachgegangen war diesen von Thomas Mann selbst gesetzten Signalen in der Forschung bisher niemand. Man nahm sie nicht ernst, unterstellte stillschweigend, dass Thoma Mann, ohnehin stets auf korrekte Formwahrung bedacht, für Familienanlässe die unitarische Kirche ohne jede innere Bindung fallweise ausgenutzt habe, weil diese ihm theologisch und „dogmatisch“ am wenigsten zumutete. In der Tat leitet sich schon der Name „Unitarier“ von Auseinandersetzungen ab, die bereits im sechzehnten Jahrhundert um das Dogma von der Trinität geführt worden waren. „Unitarier“ halten aus Gründen von Schrifttreue und Vernunft an dem „Ein-Gott“-Glauben fest. Ihre Verwerfung des Dogmas hatte den ersten Unitarier, Michael Servet, auf den Scheiterhaufen gebracht. Kein Geringerer als der Reformator Calvin hatte ihn dort verbrennen lassen. Unitarismus, ab 1800 vor allem unter Intellektuellen Neuenglands populär geworden, steht so mit seiner Distanz zum Dogmatismus und seiner Betonung von Vernunft und Ethik von Anfang an unter dem Verdacht der Häresie und ist entsprechend von den etablierten christlichen Kirchen verworfen worden.

Und Thomas Mann? Berührungen mit Unitariern sind vielfach belegt. Und doch kam man gar nicht auf die Idee, zu fragen, ob seine Bejahung einer rituellen kirchlichen Praxis im Kontext der Unitarier „stimmig“ und getragen war von einem tiefer liegenden Interesse an einer bestimmten Form von Religion. Eine solche Zustimmung war in langen Jahren im Zuge der Arbeiten an den „Josephs“-Romanen gewachsen, die 1943 in vier Bänden abgeschlossen vorlagen und religions- und kulturgeschichtlich eindrucksvoll dokumentieren, dass Religiosität und Humanität eine wechselseitig sich befruchtende Synthese eingehen können. Selbst die noch 2011 unter dem programmatischen Titel Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952 vorgelegte Untersuchung von Hans Rudolf Vaget, einem der besten Kenner des Werkes von Thomas Mann, der seit Jahren in den USA lehrt, gibt von Princeton bis Hollywood, von der Verlegergattin Agnes E. Meyer bis zu Präsident Roosevelt über vieles Auskunft und über vieles erschöpfend; sie hat aber für die Beziehung Thomas Manns zur unitarischen Kirche und damit zum Komplex „Religion“ auf ihren nahezu 600 Seiten nur einige Randbemerkungen übrig. Dabei hatte man doch schon in Thomas Manns Rechenschaftsbericht „Die Entstehung des Doktor Faustus“ von 1949 Hinweise auf die Bindung an die Unitarian Church finden können.

 

Späte Entdeckungen

Deshalb liest man die 2012 vorgelegte relativ kleine Studie von Heinrich Detering mit besonderer Spannung. Ihr Titel ist nicht weniger programmatisch: Thomas Manns amerikanische Religion. Man liest und staunt über all das, was zu entdecken gewesen wäre, hätte man sich wie der Göttinger Germanist derselben gründlichen Recherche unterzogen. Dabei kann Detering einen Fingerzeig aufnehmen, den Thomas Manns Enkel Frido zuerst 2005 bei einem Vortrag in Lübeck und zuletzt 2008 in seiner Autobiografie Achterbahn gegeben hatte. Schon der einstige „Lieblingsenkel“ habe, so Detering, die unitarischen Kontakte Thomas Manns mit den religiösen Sujets in Zusammenhang gebracht, die im „biblischen Werk“ des „Joseph“-Romans und der Mose-Novelle Das Gesetz, dann im Doktor Faustus und schließlich im „Erwählten“ so unübersehbar in den Vordergrund getreten seien. Allerdings sei Frido Mann dieser Spur selbst nur wenige Schritte nachgegangen. Es ist ein glücklicher Einfall, Frido Mann am Ende des Buches von Detering in einem eigenen Beitrag „Was mich betrifft“ zu Wort kommen und persönliche Erinnerungen und Schlussfolgerungen schildern zu lassen.

Detering aber ist in das Archiv der unitarischen Kirche eingestiegen, angesiedelt in Boston bei der Bibliothek der Harvard University, hat vor Ort in Los Angeles recherchiert und ist dabei fündig geworden. Das Wesentliche knapp zusammengefasst, hat er Folgendes, versehen mit einer Fülle dokumentarischer Fotos, zutage gefördert:

Erstens: Erste Kontakte zur unitarischen Kirche dürften schon auf das Jahr 1940 zurückgehen. Nie hat Thomas Mann vergessen, dass es Unitarier waren, zusammengeschlossen in einer Hilfsorganisation für Flüchtlinge aus Europa (Unitarian Service Committee), die 1940 seinem Bruder Heinrich, seinem Sohn Golo und dem Ehepaar Alma und Franz Werfel ihre riskante, abenteuerliche Flucht aus Frankreich über Spanien und Portugal in die USA ermöglichten. Ein sichtlich erleichterter Thomas Mann misst diesem Ereignis derart viel Gewicht bei, dass er diese Rettung seiner Lieben geradezu ein „Familien-Dünkirchen“ nennen kann. Detering zufolge spricht alles dafür, „dass Thomas Manns bewusste, praktische, tatkräftige Sympathie mit den organisierten Unitariern hier ihren Anfang genommen hat: in der Hilfeleistung für verfolgte und bedrohte Hitler-Gegner, unter denen auch seine Nächsten waren“.

Zweitens: Nicht erst zu Stephen Fritchman, sondern schon zu dessen Vorgänger im Amt hatte Thomas Mann eine enge Verbindung. Er hieß Ernest Caldecott. Zum ersten Mal in der biografischen Thomas-Mann-Forschung hat Detering Rolle und Profil dieses Mannes „aufgedeckt“. Mit ihm dürfte Thomas Mann sich bei mehreren Besuchen vor allem über den Themenkomplex „Religion, Christentum, Demokratie“ ausgetauscht haben. Das wird nicht immer im Konsens geschehen sein, ist Caldecott doch „einer der profiliertesten Vertreter des radikal-humanistischen Flügels seiner Kirche“. So hatte er 1933 (im Jahr seines Amtsantritts in Los Angeles) ein „Humanistisches Manifest“ unterzeichnet, das die unitarische Bewegung erschüttern und in einen jahrelang geführten Streit zwischen „Theisten“ und „Humanisten“ hineintreiben sollte. Es ging hier buchstäblich „ums Ganze“, sprich: um das Gottesverständnis der Unitarier und damit um ihren Status als „Religion“ oder als „christliche“ Kirche. An den Überzeugungen des radikalen „humanistischen Agnostikers“ Ernest Caldecott, der nach Widerständen gegen seine Amtsführung 1948 sein Amt an Stephen Fritchman abgeben musste, konnte Thomas Mann sein eigenes Religions- und Gottesverständnis überprüfen. Detering fördert ein Dokument vom 30. Oktober 1948 zutage, eine Weihnachtsbotschaft zu Händen von Caldecott, in dem Thomas Mann sein Verständnis von „Religiosität“ unter deutlicher Bezugnahme auf „Gott“ präzisiert.

Drittens: Wie eng dann die Beziehungen Thomas Manns zu Stephen Fritchman sind, kann Detering ebenfalls anhand neuer Dokumente eindrucksvoll belegen. Darunter ist Fritchmans umfassende Würdigung von Thomas Manns Werk nach dessen Tod 1955, vor allem aber eine Kanzelrede, die der Autor auf Einladung des Pfarrers am 4. März 1951 in der First Unitarian Church in Los Angeles gehalten hat. Drei Informationen aus diesem Text sind besonders aufschlussreich: Zum einen spricht Thomas Mann jetzt öffentlich davon, dass er besonders mit dieser Gemeinde in Los Angeles „intimately connected“ sei, was Detering zufolge „auf eine formelle Mitgliedschaft“ ebenso schließen lässt „wie darauf, dass er auch ohne Beitrittsakt faktisch als Mitglied angesehen wurde“. Zum Zweiten verweist der Kanzelredner ausdrücklich auf seine „lutherische“ Herkunft, („I am a Lutheran“), was in diesem Kontext ein klares Signal ist. Thomas Mann hatte nie daran gedacht, die eigene geistige Verwurzelung in einem lutherischen Christentum zu verleugnen. Zugleich aber macht er drittens klar, dass er jetzt dazu neige, Religion in einem „etwas breiteren Sinn“ zu verstehen, „allgemeiner moralisch und ethisch“ und nicht in den engen Grenzen „irgendeines Einzel-Dogmas“. Zu Erläuterung fügt Thomas Mann noch an: „Was heute, vielleicht dringlicher als jemals zuvor vonnöten ist, das ist angewandte Religion, angewandtes Christentum – oder, wenn Sie wollen, ein neuer, religiös imprägnierter Humanismus, aggressiv darauf ausgerichtet des Menschen Stand und Zustände auf der Erde zu verbessern, indem er sich zugleich ehrend und ehrfürchtiger vor dem Geheimnis verneigt, das aller menschlichen Existenz zugrunde liegt und das niemals gelüftet werden kann und wird, denn es ist heilig.“

 

Respekt vor dem Heiligen

Das war nicht das Statement eines radikalen „humanistischen Agnostikers“, wohl aber ein Signal der geistigen Übereinstimmung mit solchen Kräften innerhalb der unitarischen Bewegung, die Religion nicht auf Humanität und Humanität nicht auf religionsfreien Humanismus reduzieren wollten. Das Schlüsselwort heißt „religiös imprägnierter Humanismus“, ein Wort, das genau kalkuliert und in allen seinen Komposita ernst genommen werden will, einschließlich des Respekts vor dem Geheimnis des „Heiligen“. Es ist damit ein Signal an alle diejenigen, die mit Thomas Mann eine Religiosität mit dem Primat zwar nicht des Dogmas, wohl aber der praxis pietatis suchen, der tätigen Nächsten- und Fernstenliebe, und die so nicht ein sozial und politisch folgenloses, sondern ein „angewandtes Christentum“ leben wollen. Weil Thomas Mann für diese Form des Christentums bei den Unitariern der USA Verständnis und Bundesgenossen fand, kann man dafür mit Fug und Recht wie Detering das Etikett „amerikanische Religion“ benutzen. Er selber nennt es in seinem letzten Brief an Fritchman vom Oktober 1954 sachgemäßer einen „christlichen Humanismus“. Diesem gilt seine ganze „Sympathie“, ja seine „Bewunderung“, seit er erstmals davon hörte – in Kalifornien, wie wir jetzt ergänzen dürfen.

Wie sehr Kirchenpraxis und Gemeindeverbundenheit eine spezifisch amerikanische Erfahrung war und blieb, macht Frido Mann in seinem Beitrag noch einmal deutlich. Thomas Mann als aktives Mitglied einer Gemeinde von Unitariern in Los Angeles – das war stimmig. Als aktives Mitglied einer katholischen oder protestantischen Gemeinde in Europa? Undenkbar! „Seit der Einstellung seiner Gottesdienstbesuche in der protestantischen Marienkirche in Lübeck als Halbwüchsiger hat Thomas Mann in Europa nur ganz ausnahmsweise noch protestantische Gottesdienste [...] besucht. Anders im amerikanischen, genauer: erst im kalifornischen Exil an der Pazifikküste. Hier äußert sich Thomas Manns Überzeugung an der Schnittstelle zwischen Humanismus und Religion zum überhaupt ersten Mal über das Schriftstellerische hinaus auch praktisch: in seiner aktiven und engagierten Mitwirkung in einer Kirche, im Gemeindeleben und in den dort von ihm selbst initiierten Riten von Taufe und Beerdigung. Hier schlägt sich seine Überzeugung auch in sehr persönlichen Zeugnissen nieder.“

Wie informativ diese Zeugnisse sind und wie stimmig sie von Thomas Manns höchst reflektiertem Verständnis von Religion „gedeckt“ sind, macht das Buch von Heinrich Detering anschaulich nachvollziehbar. Ein Gewinn für alle, die dem Thema „Thomas Mann und Religion“ Bedeutung zumessen.

 

Karl-Josef Kuschel, geboren 1948 in Oberhausen, lehrt Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Fakultät für Katholische Theologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er ist Verfasser des Buches „Weihnachten bei Thomas Mann“ (2008). Zuletzt erschien von ihm: „Leben ist Brückenschlagen. Vordenker des interreligiösen Dialogs“ (2011).

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