Die Rolle der Nachrichtendienste hat sich im Zeitalter intensiver Nutzung immer komplexer werdender Kommunikationsmittel und gleichermaßen wachsender Risiken für die innen- und außenpolitische Sicherheit gründlich gewandelt. Ebenso ist seit der Erfindung des Internet der Umgang der Bürger mit ihren Daten freizügiger geworden: Seit Jahren speisen wir unsere Daten durch die Nutzung digitaler Medien in das gigantische System des World Wide Web ein, die mit unserem Wissen von Unternehmen für eine gezieltere Werbung verwendet werden. Gleichzeitig ist das internationale Bewusstsein für transnationale Bedrohungen wie Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Terrorismus, Organisierte Kriminalität oder Cyberwar gewachsen, was die Aufmerksamkeit nationaler Sicherheitsbehörden zunehmend auf die Entwicklung von digitalen Technologien und Kommunikationswegen lenkt. Dies geschieht in den westlichen Demokratien zum Schutz der Bürger. In den vergangenen Monaten ist jedoch ans Licht gekommen, in welch ungeheurem Ausmaß der US-amerikanische Geheimdienst NSA Daten sammelt und bearbeitet. Zu Recht herrscht bei den EU-Bürgern Wut darüber, wie einfach und ohne Rücksicht auf die Privatsphäre Mobiltelefone, E-Mails, soziale Netzwerke und genutzte Internetseiten ausgespäht werden können. Das Verhältnis zwischen der Gewährleistung nationaler Sicherheit und Angreifbarkeit der Privatsphäre der Bürger ist offenbar aus den Fugen geraten und ist kritisch zu hinterfragen. Es gilt, einen differenzierten Dialog über das Geschehene und dessen Auswirkungen auf Gesellschaft und Rechtsrahmen im Sinne eines verbesserten Datenschutzes und stabiler Beziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und den USA zu führen.
Es begann in Venedig
Überwachung und Spionage existieren, seitdem es gesellschaftliche und politische Macht gibt. Vor der Entstehung des institutionellen Flächenstaats im 16. und 17. Jahrhundert belauerten sich die Anführer der größeren Personenverbände gegenseitig. Es war die Seerepublik Venedig, die damit begann, systematisch Wissen zu sammeln und das Wissen zu archivieren. Jedoch blieb diese Art der Spionage lange Zeit auf diejenigen beschränkt, die Ambitionen auf eine Machtposition hegten und die dem Machthaber deshalb gefährlich werden konnten. Das einfache Volk war von der Überwachung bis zur Französischen Revolution ausgenommen. Seit dieser Zeit hielten es Staatsmänner wie Talleyrand für relevant, die Stimmung der Bürger und deren Loyalität gegenüber dem Staat in Erfahrung zu bringen. Während demokratische Staaten aber in späteren Jahren auf interne Transparenz und gegenseitige Kontrolle innerhalb des staatlichen Systems setzten und das Motiv ihrer Überwachungsaktivitäten auf den Schutz der außen-, innen- und sicherheitspolitischen Stabilität verlagerten, sahen autoritäre und diktatorische Systeme die Bedrohung in der politischen Meinung ihres Volkes und entwickelten sich zu Überwachungsstaaten. Anschaulich wurde eine solche Überwachungsmaschinerie in der DDR: Das Ministerium für Staatssicherheit beschäftigte 1989 rund 280.000 Menschen, davon 91.000 hauptamtliche und 189.000 inoffizielle Mitarbeiter, die sich auf die Überwachung von nur siebzehn Millionen Bürger konzentrierten.
Snowden enthüllt keine Aktivitäten Chinas und Russlands
Zugleich sind auch die Spionagemethoden und -instrumente über die Jahrzehnte und mit einer wachsenden Menge an zu verarbeitenden Informationen immer komplexer und moderner geworden. Wo vor dreißig Jahren noch – wie bei der Watergate-Affäre – mit Wanzen gearbeitet wurde, greifen Geheimdienste heutzutage vermehrt auf digitale Daten zu, die in massivem Umfang zusammengetragen, gespeichert und analysiert werden. Diese Methoden der Dienste müssen jedoch in einer Demokratie darauf beschränkt sein, präventiv gegen sicherheitspolitische Bedrohungen vorzugehen und ausschließlich in Fällen begründeter Verdachtsmomente auf kriminelle Aktivität in die Privatsphäre eindringen zu dürfen. Es ist nicht akzeptabel, dass Bürger wahllos ausgespäht werden – schon die Systemlogik repräsentativer, liberaler Demokratien spricht dagegen. Die Ausspähung der Meinungen individueller Personen ist kein legitimes politisches Mittel. Es ist insofern kein Zufall, dass jetzt infolge von Edward Snowdens Enthüllungen intensive öffentliche und parlamentarische Debatten über das Verhältnis und die notwendige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit sowie Sicherheit und dem Recht auf Privatsphäre sowohl in der EU als auch in den Vereinigten Staaten geführt werden. Es ist aber sicherlich auch kein Zufall, dass aus den Tausenden von Dokumenten, die Snowden mitgenommen hat, keine Information über Geheimdienstaktivitäten in China und Russland – Ländern, die Snowden Schutz gewährten – offenbar geworden ist. Weder China noch Russland hätten eine solche öffentliche Debatte toleriert und ausgehalten. Sicher ist jedoch, dass diese autoritär regierten Staaten digitale Technologien zu Spionagezwecken benutzen.
Das alles rechtfertigt nicht die Tatsache, dass der amerikanische Geheimdienst jahrelang EU-Institutionen, Politiker und selbst unbescholtene Bürger ausgespäht hat. Entsprechend groß ist die Empörung darüber, die nicht zuletzt daraus resultiert, dass die Europäer ein solches Verhalten durchaus von Russland oder China, nicht aber von ihren transatlantischen Freunden erwartet hätten. Das lässt den Vertrauensbruch umso schwerer wiegen. Da eine enge EU-US-Kooperation für Europa sowie Amerika essenziell, in manchen Bereichen wie Außen- und Sicherheitspolitik, Verteidigung, Terrorbekämpfung und Wirtschaft sogar lebenswichtig ist, müssen sich beide Seiten unverzüglich dafür einsetzen, das beschädigte Vertrauen schnellstmöglich wiederherzustellen.
Erwartungen gegenüber den USA
Während die Arbeit und Kooperation der Geheimdienste in den Kompetenzbereich der EU-Mitgliedsstaaten fällt, liegen Fragen des Datenschutzes in der Verantwortung der EU. Deswegen war ich als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments seit den ersten Snowden-Enthüllungen im Juni 2013 im intensiven Kontakt mit amerikanischen Partnern darum bemüht, ihnen klarzumachen, wie dringend es erforderlich ist, Lösungen zu finden, die die Datenschutzrechte der EU-Bürger auf der gleichen Ebene ansiedeln wie jene der US-Bürger. Ebenso muss die amerikanische Seite in Zusammenhang mit internen Reformen garantieren, dass das Sammeln und Bearbeiten der Daten von EU-Bürgern auf Fälle mit begründetem Straftatverdacht eingeschränkt wird. Die Europäische Kommission hat gegenüber Washington die gleichen Signale gesetzt. Ebenso hat die EU klargestellt, dass das TTIP – das transatlantische Handelsabkommen von enormer geostrategischer wie wirtschaftlicher Bedeutung, über das seit diesem Sommer verhandelt wird – nur Aussicht auf Ratifizierung hat, wenn es gelingt, durch Lösungen auf dem Gebiet des Datenschutzes beschädigtes Vertrauen wiederherzustellen.
Infolge dieser Kommunikation haben der Kongress sowie die amerikanische Regierung ermutigende Schritte unternommen, die signalisieren, dass der Ernst der Lage in Washington erkannt wurde. Von besonderer Bedeutung ist die in einer gemeinsamen Presseerklärung mit der EU-Kommission Mitte November 2013 veröffentlichte Verpflichtung von US-Justizminister Eric Holder, die laufenden Verhandlungen für ein EU-USA-Datenschutz-Rahmenabkommen vor Sommer 2014 abzuschließen und in diesem Zusammenhang eine Lösung für Rechte der EU-Bürger, ihren Zugang zu US-Gerichten eingeschlossen, zu finden. Die Europäische Kommission hat vor Kurzem weitere Punkte benannt, die auf US-Seite – insbesondere in Bezug auf die Erhaltung der „Safe Harbour“-Entscheidung, die Datentransfer zwischen der EU und den USA ermöglicht – dringend optimiert werden müssen.
Ein Weckruf für Europa
Die EU muss weiterhin geschlossen notwendige Reformen auf der US-Seite einfordern und eine neue Balance zwischen Sicherheit und Datenschutz im transatlantischen Verhältnis sowie im globalen Kontext mitentwickeln. Wichtige Verbündete sind amerikanische IT-Firmen geworden, die verstanden haben, dass sie ohne Stärkung des Vertrauens im transatlantischen Datenfluss riskieren, ihre Kunden zu verlieren. So haben Firmen wie Google, Facebook, Microsoft oder Yahoo Anfang Dezember 2013 einen entsprechenden Aufruf veröffentlicht, der auf Prinzipien drängt, die die Möglichkeiten der Regierungen, private Daten zu Zwecken der nationalen Sicherheit zu sammeln, beschränken würden.
Nicht zuletzt sollten die Snowden-Enthüllungen für die Europäer ein ernsthafter Weckruf sein: Sie haben gezeigt, wie wenig wir technologisch imstande sind, unsere Schlüsselnetzwerke gegen Cyber-Eindringlinge von außen zu schützen, europäische IT-Technologie auf dem Markt durchzusetzen oder eigene sichere Clouds zu betreiben. So ist jetzt – in Deutschland und auch in der EU – der aktuelle Abhörskandal als ein „Sputnik-Moment“ zu begreifen, der eine Initialzündung dafür sein kann, öffentliche und auch private Investitionen in die lebenswichtige Stärkung der technologischen Fähigkeiten Europas anzustoßen.
Elmar Brok, geboren 1946 in Verl, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments.