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Pierre Manent und das Problem des Politischen

Giulio De Ligio / Jean-Vincent Holeindre / Daniel J. Mahoney (Hrsg.): La politique et l’âme. Autour de Pierre Manent, CNRS Éditions, Paris 2014, 540 Seiten, 25,00 Euro. || Pierre Manent: Le regard politique. Entretiens avec Bénédicte Delorme-Montini, Flammarion, Paris 2010, 18,00 Euro. || Pierre Manent: La raison des nations. Réflexions sur la démocratie en Europe, Gallimard, Paris 2006, 112 Seiten, 13,22 Euro.

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Gehen Frankreichs Uhren anders? Als Herbert Lüthy im Jahr 1954 mit dem Titel seines vielleicht bekanntesten Buches diese Vermutung äußerte, hatte der Schweizer Historiker den Niedergang der Vierten Republik vor Augen. Obgleich er seit 1946 als Journalist in Paris lebte, gab ihm Frankreich noch immer Rätsel auf. Der Gegensatz einer zum Äußersten gesteigerten Verwaltungszentralisierung und einer ständigen Auflehnung der Individuen gegen diese Verwaltung, die sich überstürzenden Regierungswechsel, die Stagnation der merkantilistisch geprägten Wirtschaft und die schleppende, ungeschickte Dekolonisation ließen aus der Sicht eines eidgenössischen Liberalen wahrscheinlich nur einen Schluss zu: Frankreichs Uhren gehen anders. Lüthy verließ das Land im selben Jahr, in dem die Republik zusammenbrach und durch Charles de Gaulles Fünfte Republik ersetzt wurde. Auch de Gaulles Uhren mochten anders gehen, Frankreich aber schien einen großen Teil seiner Probleme zu überwinden.

Heute hingegen haben ausländische Beobachter wieder den Eindruck, dass doch etwas anders sein müsse in Frankreich. Gila Lustiger, die seit 1987 in Paris lebt, hat verschiedentlich bemerkt, sie habe ihren Roman Die Schuld der anderen geschrieben, weil sie das Gefühl gehabt habe, ihr Gastland nicht mehr zu verstehen. Sie entwirft das Panorama einer Gesellschaft im Würgergriff einer korrupten Elite, in dem Wirtschaft und Staat unauflösbar verschränkt zu sein scheinen und in dem existenzielle soziale und ökonomische Probleme kollektiv verdrängt oder doch zumindest nicht gelöst werden. Sie muss befürchten, dass sie, nachdem man ihren Roman ins Französische übersetzt hat, ähnlich behandelt wird wie die wenigen Intellektuellen, die seit Langem in Essays und wissenschaftlichen Abhandlungen schreiben, was sie in Romanform gegossen hat. Schon vor dreizehn Jahren hat der mittelmäßige Publizist Daniel Lindenberg in seinem Pamphlet Le rappel à l’ordre. Enquête sur les nouveaux réactionnaires versucht, liberale Kritiker der Sklerose der Französischen Republik als reaktionäre, antidemokratische Konservative hinzustellen. Dass dieser Versuch gescheitert ist, ändert nichts an seiner Symbolhaftigkeit. Diejenigen unter den politischen Denkern in Frankreich, die die liberale Demokratie bejahen und mit dem Ziel ihrer Erhaltung Reformen verlangen, werden als Gegner des republikanischen Ideals diffamiert – und zwar von Intellektuellen, die die Kämpfe vergangener Zeiten führen und glauben, das, was sie für Demokratie halten, gegen den Liberalismus verteidigen zu müssen.

Unter den Attackierten waren nicht nur mediale Vorzeigeintellektuelle wie Alain Finkielkraut, Luc Ferry oder Alain Minc, sondern auch ein zurückhaltender, dafür aber umso gewichtigerer Denker wie Pierre Manent. Lindenberg wusste, was er tat. Damals war schon zu erkennen, woran heute kein Zweifel mehr besteht: dass nämlich Manent, der als emeritierter Professor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris lehrt, der bedeutendste politische Philosoph Frankreichs und einer der wichtigsten liberalen Denker des Westens ist. Manchen Leser wird diese Aussage überraschen, denn in Deutschland ist Manent, anders als in Amerika, so gut wie unbekannt. Dass bisher kein einziges seiner Bücher – nicht einmal sein Essay La raison des nations. Réflexions sur la démocratie en Europe – ins Deutsche übersetzt wurde, ist nicht nur bezeichnend für den Stand der deutschfranzösischen Kulturbeziehungen, sondern verweist auch auf die intellektuelle Selbstgenügsamkeit eines Landes, in dem alles in Ordnung zu sein scheint.

 

Orientierung am Tatsächlichen

Wer aus diesem geistigen Gefängnis ausbrechen möchte, kann sich jetzt mit der 540 Seiten starken Festschrift La politique et l’âme, die Schüler und Weggefährten Manents anlässlich seiner Versetzung in den Ruhestand herausgegeben haben, einen ersten Überblick über den Charakter seines Denkens verschaffen. Vor allem der Aufsatz von Crystal Cordell bietet sich dazu an, weil sie den aristotelischen Charakter seines politischen Liberalismus vor Augen führt. Manent hält nicht viel von einer Art des Philosophierens, die Edmund Burke als „abstrakt“ oder „spekulativ“ bezeichnet hat. Es ging und geht ihm um das Verstehen des tatsächlich Existierenden – eine Haltung, die auch politische Konsequenzen hat, wie er 2010 in dem Interviewbuch Le regard politique erklärt hat: „Rousseau, in diesem Sinne Großmeister der Modernen, sagte: ,Es gibt nichts Schönes außer dem, was nicht existiert.‘ Für mich ist im Grunde das Gegenteil richtig: Ich interessiere mich nur für das, was ist. Vielleicht konnte ich deswegen niemals, zumindest nicht, seitdem ich erwachsen bin, ein Linker sein, denn die Linke bevorzugt eine Gesellschaft, die nicht ist, und ich habe immer die Gesellschaft, die ist, interessanter gefunden als diejenige, die sein könnte.“

Manents Thema ist also das Politische in der Gesellschaft und Welt, in denen er lebt. Das heißt freilich nicht, dass er zu dessen Verständnis nicht auf Dinge zurückgriffe, die außerhalb oder oberhalb unserer Welt lägen. Darin unterscheidet er sich von seinem Lehrer Raymond Aron, dem er in den 1970er-Jahren als Assistent am Collège de France zur Seite stand. Von Aron hat er gewiss den Blick auf das Politische gelernt. Auch Aron orientierte sich, wie Manent kürzlich selbst hervorgehoben hat und wie Daniel Mahoney in seinem Beitrag zu La politique et l’âme zeigt, zuallererst am Tatsächlichen. Doch diese Gemeinsamkeit endet dort, wo es um die Begründung des Gesehenen geht, um die Frage nach den Kräften, die das liberale System am Leben erhalten.

 

Verlangen nach Transzendenz

Aron lebte, wie Manent in Le regard politique bemerkt, „ohne innere Unruhe in der Immanenz der menschlichen Dinge, die in seinen Augen offensichtliche Normen beinhalteten: Was die menschlichen Dinge bestimmen soll, ist in der Immanenz des politischen Lebens selbst vorhanden. […] Aron war, wenn man so will, der perfekte Gentleman, der keinerlei Bedürfnis nach Transzendenz hatte. Die der Menschheit innewohnende Norm genügte ihm. Übrigens hatte er vielleicht recht. Vielleicht ist das Weisheit. Aber was mich betrifft, so habe ich ein brennendes Verlangen nach dem ‚Maß‘, um die Sprache Platons zu gebrauchen, nach Transzendenz oder doch zumindest nach dem Maß, das schwerer wiegt als das Leben und ihm dadurch Orientierung bietet.“ Da Aron dieses Verlangen nicht befriedigen konnte, verwies er Manent an Leo Strauss. Mit dessen Hilfe erschloss sich Manent die Welt der klassischen politischen Philosophie, und diese Entdeckung ist der Grund dafür, dass sein Zugang zum Problem des Politischen etwa auf halber Strecke zwischen Arons politischer Soziologie und Strauss’ Reflexionen über die politische Philosophie liegt.

Doch auch die Philosophie konnte Manent nicht vollends zufriedenstellen. Etwas Drittes musste hinzukommen: die Religion. Im kommunistischen Milieu der französischen Nachkriegszeit aufgewachsen, fand Manent erst während des Studiums zum Katholizismus, dem er sich allerdings niemals mit dem Eifer verschrieb, wie er Konvertiten oft eigen ist. Wie zu allem, was ihm Inspiration bietet, hält Manent auch zum Katholizismus eine gewisse Distanz. Seine Art der Politikwissenschaft bewegt sich, wie Jean-Vincent Holeindre geistreich skizziert, seit Langem in einem Dreieck. Manent schwankt zwischen dem politischen Liberalismus Arons, der von Leo Strauss geforderten Wiederentdeckung der klassischen Philosophie und dem Thomismus Jacques Maritains, ohne dass er sich ganz und gar für einen dieser drei Pole entscheiden könnte. Mit dieser Unentschiedenheit nimmt Manent einen besonderen Platz innerhalb der französischen Schule der von ihm so genannten „liberalen Politikwissenschaft der demokratischen Gesellschaft“ ein, der er sich trotz seiner maßvollen Kritik an der Moderne zugehörig fühlt. Die Anziehungskraft die die großen Vertreter des französischen politischen Liberalismus auf den jungen Manent ausübten, hat niemals nachgelassen. Aber neben Benjamin Constant, François Guizot und vor allem Alexis de Tocqueville traten mit der Zeit andere Autoren und Traditionen.

 

Politische Form: innere Politik, äußere Verhältnisse

Es überrascht deshalb nicht, dass Manents Interesse an der Politik der Gegenwart nie die Form der Aron’schen politischen Soziologie annahm, sondern nur durch eine Umkehr der Perspektive gestillt werden konnte. Wie Strauss blickt er auf den modernen Liberalismus mit den Augen der klassischen Philosophen. Aber anders als die meisten amerikanischen „Straussianer“ interessiert sich Manent wenig für das Konzept des „politischen Regimes“, weil er, wie Vincent Descombes im Aufsatz La nation comme forme politique ausführt, die innere Politik nie gelöst von den äußeren Verhältnissen betrachtet. Wer die innere Verfasstheit eines Gemeinwesens verstehen will, muss sich aus Manents Sicht zuerst Klarheit über seine Beziehungen zum Rest der Welt verschaffen. Um diesen Zusammenhang erfassen zu können, hat Manent den Begriff der „politischen Form“ in die Debatte eingeführt und hervorgehoben, dass es in der Geschichte des Westens nur drei solche Formen gegeben habe, die Polis, das Imperium und den zum Nationalstaat weiterentwickelten Territorialstaat. Eine Gemeinschaft, die sich nicht über ihre „politische Form“ im Klaren ist, die vielleicht gar keine Form hat, ist wenigstens dysfunktional, sofern sie überhaupt existieren kann. In dieser Überzeugung ist Manents Kritik an der heutigen Europäischen Union (EU) begründet, deren Krise nicht zuletzt auf ihren unpolitischen Charakter zurückzuführen sei. Die EU hat für Manent keine „politische Form“, hat anders als die Vereinigten Staaten von Amerika keinen Gründungsmoment und ist deshalb zu einem kratos ohne demos geworden. Ändern kann man daran aus seiner Sicht nur etwas, wenn man bereit ist, das gegenwärtige System zu durchbrechen. Denn mit dem Konzept der „politischen Form“ rückt unweigerlich das Problem der äußeren Souveränität einer politischen Einheit in den Vordergrund. Nicht anders als für Aron oder de Gaulle kann die europäische Einigung aus Manents Sicht nur durch eine Übereinkunft souveräner Nationalstaaten zustande kommen, nicht durch ihre Fusion.

 

Liberaler Gaullist

Als eine Art liberaler Gaullist sieht Manent in einer engeren deutsch-französischen Allianz die einzige Möglichkeit, Fortschritte auf dem Gebiet der Europapolitik zu machen. Es sei Zeit für einen neuen Gaullismus, hat er vor einigen Jahren an der Harvard University gesagt, also für eine Renaissance der Politik, die de Gaulle und Adenauer am Anfang der 1960er-Jahre führten. Es spricht für Manents Großzügigkeit, dass er durchblicken ließ, Frankreich müsse sich dabei angesichts der Verschiebung der Machtverhältnisse mit der Rolle des Juniorpartners zufriedengeben. Doch das ist nicht unausweichlich: Wenn Frankreich die großen Strukturreformen, für die das Land den jüngsten Umfragen zufolge bereit zu sein scheint, in Angriff nähme, spräche nichts dagegen, dass sich beide Staaten gänzlich auf gleicher Ebene begegnen könnten.

Der Weg dahin ist lang und will einfach nicht kürzer werden. Wer schon von Sarkozy enttäuscht wurde, wird seine Hoffnung kaum in Hollande setzen. So müssen alle warten, bis Frankreich seinen homme providentiel gefunden hat. Erst nachdem er die Bühne betreten und die französischen Uhren gestellt hat, können sich beide Länder gemeinsam den europäischen zuwenden. Und die Deutschen? Auch sie, so glaubt Manent, hätten einiges zu lernen – vielleicht noch mehr als die Franzosen, zumindest dann, wenn es um das Problem der „politischen Form“ geht. Wir sollten keine Zeit verlieren und Manents Bücher schnell ins Deutsche übersetzen.

 

Matthias Oppermann, geboren 1974, Akademischer Mitarbeiter an der Professur für Neuere Geschichte (19./20. Jahrhundert) der Universität Potsdam.

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