Wohin bewegt sich China? Angesichts der Unübersichtlichkeit und Aufgeregtheit der Gegenwart ist ein historischer Blick vonnöten, um langfristige Entwicklungslinien und Tendenzen zu erkennen und auf der Basis eines längeren Beobachtungszeitraums ein klareres Bild von den Chancen und Risiken zu gewinnen, die sich in China gegenwärtig abzeichnen.
Apokalyptische Prophezeiungen prägten schon früh die westliche Perspektive auf das Land der Mitte und allein im 20. Jahrhundert wähnten europäische und amerikanische Beobachter China mehrfach am Rande der Katastrophe. Bereits vor 100 Jahren beschrieben Journalisten China als „kranken Mann in Asien“. Fünfzig Jahre später, nachdem die Kommunistische Partei 1949 die Macht errungen und Mao Zedong selbstbewusst verkündet hatte, China „sei auferstanden“, warteten viele im Westen auf den in ihren Augen unmittelbar bevorstehenden Kollaps. Dieses Phänomen wiederholte sich drei Jahrzehnte später, als die bizarr anmutende Kulturrevolution ihren Lauf nahm und der Westen sich fest auf den wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des Landes einstellte.
Ebenso regelmäßig wie sein dramatischer Fall wurde auch der unaufhaltsame Aufstieg Chinas vorhergesagt, häufig mit Betonung auf der Herausforderung oder gar Gefahr für den Westen, die damit einhergehe. Schon kurz nach der Gründung der Republik China (der ersten Republik in Asien) im Jahr 1911 erschienen zahlreiche Bücher, in denen „das chinesische Jahrhundert“ als unvermeidlich beschrieben und untrennbar mit einer Bedrohung Europas verknüpft wurde („Gelbe Gefahr“). Diese Reaktion steht im Kontext historischer Tradition: Wegen seiner Größe hat China in Europa schon immer extreme Phantasien und Ängste geweckt.
Tatsache ist, dass die meisten Probleme und Chancen, denen China heute begegnet, historische Wurzeln haben und das Ergebnis langfristiger Entwicklungen sind. Die Position an der Spitze ist für China weniger ein Aufstieg als lediglich die Rückkehr zu einem historischen Dauerzustand. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts war China das unbestrittene Zentrum des Welthandels. Chinesische Produkte wie Seide, Porzellan und Tee fanden reißenden Absatz in Europa und den europäischen Kolonien. Das chinesische Reich konnte sich in jeder Hinsicht mit den expandierenden Reichen des eurasischen Kontinents wie Russland und Großbritannien vergleichen. Technologischer Fortschritt, eine hoch entwickelte Verwaltung sowie ein schlagkräftiges Militär untermauerten Chinas zentrale Stellung in der Welt.
Den Krisen zum Trotz
Im 19. Jahrhundert geriet China in eine Krise. Die Gründe hierfür sind vielfältig und zahlreich. Das Vordringen des westlichen Imperialismus sei hier aber beispielhaft als eine der zentralen Ursachen genannt. Bemerkenswert dabei ist, dass China trotz seiner großen Krise(n) im 19. Jahrhundert, anders als andere Länder, nie vollständig unter ausländische imperiale Kontrolle geriet. Statt klein beizugeben, bemühten sich chinesische Reformer und Intellektuelle Ende des Jahrhunderts um Selbststärkung und die Wiederherstellung der früheren Größe mithilfe westlicher Technologien und Ideen. Ihre Bemühungen sind Zeugnis dafür, wie tief in die Vergangenheit das aktuelle Streben nach Modernisierung reicht. Der große Wunsch dahinter, China wieder stark und wohlhabend zu machen, durchzieht die gesamte moderne chinesische Geschichte: vom Ende der kaiserlichen Dynastie über die nationalistische Partei unter Tschiang Kai-schek in den 1920erund 1930er-Jahren bis hin zu Mao Zedong. Selbst die Kulturrevolution war im Grunde ein Versuch, China zu Größe und Stärke zu führen. So verwundert es auch nicht, dass Propagandaposter dieser Epoche ländliche Kommunen mit Hochhäusern und Autos zeigen.
Das Ziel, die einstige Macht Chinas wiederherzustellen, einte im 20. Jahrhundert alle politischen Lager und Strömungen. Uneinigkeit bestand allerdings in der Frage, wie man dieses Ziel erreichen könne. Lange vor dem Beginn der Reformen unter Deng Xiaoping in den 1970er-Jahren wurden dabei wichtige Meilensteine erreicht, die heute oft übersehen werden. So wären die chinesischen Hochschulen gegenwärtig nicht in der Lage, weltweit zu konkurrieren, hätte sich nicht in den 1930er-Jahren die nationalistische Regierung um den Aufbau eines modernen Hochschulwesens bemüht. Das maoistische China baute das allgemeine Schulwesen aus und investierte in die Infrastruktur. Ohne solche Errungenschaften wäre der heutige Aufschwung ganz sicher nicht möglich. Auch aufsehenerregende (und umstrittene) Projekte der letzten Jahre, wie zum Beispiel der Bau des Drei-Schluchten-Dammes am Jangtse oder auch die spektakuläre Eisenbahnverbindung nach Tibet, reichen weit zurück: Sie wurden bereits von nationalistischen Ingenieuren in den 1930er-Jahren erdacht und von kommunistischen Kadern in den 1950er-Jahren weiterentwickelt.
Neben allen Erfolgen gab es auch immer wieder dramatische Rückschritte und Fehlschläge, manche davon mit katastrophalem Ausmaß. Unternommene Anstrengungen zur Modernisierung und Industrialisierung reichten nicht aus, um den Machtverfall der korrupten Ein-Parteien-Diktatur der Nationalisten zu stoppen und einen langen Bürgerkrieg zu verhindern. Der offene und gewaltsam geführte Konflikt zwischen Nationalisten und Kommunisten begann im April 1928 und wurde erst im Herbst 1949 entschieden. Maos radikale Vision eines modernen Chinas, die Kulturrevolution, erschütterte das Land ähnlich brutal. Selbst die vermutlich liberalste und offenste Periode des Jahrhunderts, die 1980er-Jahre, erlitt durch die Niederschlagung der Studentenbewegungen am Tiananmen ein gewaltsames Ende. Damals wie heute prophezeiten viele Beobachter das Ende von Reformen und einen baldigen Kollaps.
Fortwirkendes Gesamtprojekt
Trotz dieser großen Rückschläge und Fehler kam das Gesamtprojekt nie zum Erliegen. Im Gegenteil, denn auf jeden Rückschlag folgte eine Phase der Korrektur. Im historischen Rückblick ergibt sich dabei ein klares Muster: ein beständiges Alternieren zwischen pragmatischer Reform und Öffnung auf der einen Seite, und Re-Zentralisierung sowie Re-Ideologisierung auf der anderen Seite. Seit 1978 ist an dem grundsätzlichen Kurs von Reform und Öffnung allerdings beständig festgehalten worden.
China ist nicht nur ein Land von unermesslicher Größe, sondern verfügt auch über eine unüberschaubare Vielfalt von Landschaften, Menschen und Meinungen. Zu oft wird unterschätzt, wie groß die Zentrifugalkräfte in diesem Land sind. Ein derartiger Hinweis dient nicht der Rechtfertigung rigider Maßnahmen seitens der Regierung; er soll lediglich Teil der Erklärung sein, warum Peking eine so große Angst vor dem Auseinanderbrechen des Landes und einer krisenhaften Entwicklung wie in der Sowjetunion hat. Dazu passt, dass der neue Präsident Xi Jinping eine Gruppe von Historikern in die chinesische Hauptstadt eingeladen haben soll, um sich persönlich über die Ursachen des Zerfalls der Sowjetunion zu informieren.
Es stimmt, dass China vor fundamentalen Problemen steht. Ein Bewusstsein dafür, dass das Land eine Kursänderung braucht, ist in der chinesischen Bevölkerung weit verbreitet. Auch die politische Führung ist sich bewusst, dass ihr sogenanntes „China-Modell“ – eine vage definierte Kombination autoritärer Politik mit staatlich kontrolliertem Patriotismus – reformiert werden muss. Im Mittelpunkt stehen dabei zum einen die grundsätzliche Frage nach der Rolle der Partei in der Gesellschaft sowie das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Politik bei der Gestaltung des künftigen Kurses. Zum anderen geht es um den allgemeinen Wirtschaftskurs. Wirtschaftlich beruhte das „China-Modell“ bisher auf hohen Wachstumsraten, die durch Exporte, ausländische Direktinvestitionen und Investitionsvorhaben staatlicher Unternehmen, durch großzügige Kredite staatlicher Banken gefördert, generiert wurden. Hohe Investitionen, in Kombination mit niedrigen Löhnen und geringen Auflagen hinsichtlich Umweltschutz und sozialer Absicherung, machten China in nur zwei Jahrzehnten zum Exportweltmeister und zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Zur gleichen Zeit konnten Währungsreserven in Höhe von mehr als drei Trillionen US-Dollar angehäuft werden. Die Kehrseite des Ganzen ist ebenso dramatisch wie die Erfolge: Der relative Anteil privater Haushalte an der wirtschaftlichen Entwicklung nahm kontinuierlich ab und sorgte damit für eine immer größere Ungleichheit. Aufgrund mangelnder Bestimmungen und niedriger Energiepreise gingen viele Industrien sorglos und ineffizient mit natürlichen Ressourcen um. Dadurch entwickelte sich China zum traurigen Spitzenreiter in Sachen Umweltverschmutzung und weist heute die weltweit höchsten Umweltbelastungen in Luft und Wasser auf.
Regierung, Wissenschaft und Gesellschaft in China diskutieren intensiv über diese Probleme und nehmen sie ernst. Allgemein betrachtet ist China aber aufgrund der positiven Entwicklungen der letzten Jahre sowie der hohen Reserven in einer guten Ausgangslage und kann notwendige Korrekturen aus eigener Kraft vornehmen. Der Sommer 2015 war schwierig und hat wieder viele Pessimisten auf den Plan gerufen. Der Blick in die Vergangenheit lehrt uns: In China wird die Politik der Öffnung und Reform weitergehen. Aus Fehlern und Rückschlägen wird die Führung auch in Zukunft lernen und Korrekturen vornehmen. Dabei wird China wie in der Vergangenheit auf die intensive Zusammenarbeit mit internationalen Partnern wie Deutschland setzen. Für Deutschland wiederum ist China zu wichtig, um diese Zusammenarbeit nicht auch in schwierigen Zeiten fortzuführen.
Klaus Mühlhahn, geboren 1963 in Konstanz, Professor für chinesische Geschichte und Kultur und seit 2014 Vizepräsident der Freien Universität Berlin.