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Standortbestimmung in einer multipolaren Welt

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„Führungsmacht Westen“, das ist ein zwiespältiger Titel. Er wirft sofort eine Reihe von Fragen auf. Geht es um die Vereinigten Staaten von Amerika, über Jahrzehnte die unbestrittene Führungsmacht des Westens? Das scheint gegenwärtig nicht mehr so selbstverständlich zu sein. Zurzeit ist es ja eher üblich, die weltweite Führungsrolle der USA offen infrage zu stellen. Oder geht es um den „Westen“ insgesamt als gemeinsame Führungsmacht im Rahmen einer neuen Weltordnung?

Bis 1990/91 war das internationale System klar definiert. 1945 war der Zweite Weltkrieg beendet worden. Fast unmittelbar danach schloss sich der „Kalte Krieg“ an, der die Weltpolitik in den folgenden 45 Jahren maßgeblich bestimmen sollte und wiederholt bis an die Schwelle eines neuen heißen Krieges führte. Die prägenden Kräfte dieses Ost-West-Konfliktes waren die beiden Weltmächte USA und UdSSR mit ihren jeweiligen Bündnissystemen Atlantische Allianz und Warschauer Pakt. Sicherheitspolitisch hatte sich mit dem Prinzip der „mutual assured destruction“ ein Gleichgewicht des Schreckens entwickelt, das eine vermeintlich stabile, tatsächlich aber stets labile europäische Nachkriegsordnung entstehen ließ.

Hinzu kam, dass sich in diesem bipolaren Weltsystem zwei sich gegenseitig ausschließende Gesellschaftssysteme gegenüberstanden: die kommunistische Ideologie des Marxismus/Leninismus und die freiheitlich demokratische und marktwirtschaftliche geprägte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung des Westens. Die Atlantische Allianz verstand und versteht sich bis heute als eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten. Daran hat auch die Mitgliedschaft der Türkei nichts geändert. Damit war der Begriff des Westens in Abgrenzung zum Osten sowohl machtpolitisch als auch gesellschaftspolitisch klar definiert. Ebenso unbestritten war, dass die USA als größte und wirtschaftlich wie militärisch stärkste Nation des Westens die Führungsrolle innehatten.

Dieses anscheinend stabile bipolare Weltsystem endete 1991 mit der fast lautlosen Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zerfall der UdSSR. Der Ost-West-Konflikt war beendet, die Teilung Europas überwunden und Deutschland geeint. Neue Entwicklungen bahnten sich an. In den 1980erJahren hatte die VR China bereits begonnen, ihren Markt zu öffnen. 1991 folgte Indien. So traten Anfang der 1990er-Jahre rund 2,5 Milliarden Menschen zusätzlich als Konsumenten und als potenzielle Wettbewerber in den Weltmarkt ein.

 

Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok

Im Oktober 1990 hatten alle 34 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten in Paris die „Charta für ein neues Europa“ unterzeichnet. Gemeinsames Ziel war es, eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen. Demokratie und Marktwirtschaft sollten die gemeinsamen Prinzipien der neuen Friedensordnung sein. Welch eine Vision! Sie ist jedoch bis heute eine Illusion geblieben. Dennoch war es kein Wunder, dass damals Autoren wie Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ sprachen, weil sie den endgültigen historischen Triumph des westlich-liberalen Demokratiemodells für möglich hielten.

Präsident George H. W. Bush forderte 1991 eine neue Weltordnung. Doch auch diese Aufforderung blieb international ohne Echo. Es ergab sich gewissermaßen eine neue unipolare Ordnung mit den USA als alleiniger und dominierender Weltmacht. Die europäische Abhängigkeit von den USA setzte sich fort. Sie zeigte sich erneut in den 1990er-Jahren im Verlauf der Balkankriege, die nur mit militärischer und diplomatischer Hilfe der USA beendet werden konnten. Ihre unbestrittene Führungsrolle wurde auch in dem persönlichen Angebot von Präsident Bill Clinton an den russischen Präsidenten Boris Jelzin dokumentiert, Russland solle der NATO beitreten.

Betrieb Clinton noch eine zurückhaltende Außenpolitik, so sollte sich das unter seinem Nachfolger George W. Bush dramatisch ändern. Ausgangspunkt waren die schrecklichen Terroranschläge am 11. September 2001 in New York und Washington. Bush rief zu einer weltweiten Allianz gegen den Terrorismus auf.

Alle Mitgliedsstaaten der NATO schlossen sich ihr an und riefen am 2. Oktober erstmals den Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages aus. Bundeskanzler Gerhard Schröder ging sogar so weit, öffentlich zu erklären: „Ich habe dem amerikanischen Präsidenten George Bush die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands zugesichert.“ Der Allianz gegen den Terrorismus schlossen sich sofort Länder wie Russland, China, Indien und Japan an. Eine weltweite Allianz zeichnete sich ab.

 

„Koalition der Willigen“

Doch Bush vergab diese Chance. Innerhalb von vier Wochen, am 7. Oktober, griffen die USA Afghanistan militärisch an, vertrieben die Taliban-Regierung und setzten eine Übergangsregierung ein. Doch noch hielt die internationale Solidarität an. Der UN-Sicherheitsrat legitimierte mit seinen Resolutionen vom 12. und 28. September den Anti-Terror-Krieg in Afghanistan und beschloss am 14. November die Einrichtung einer multilateralen Friedenstruppe. Auch die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder entschied sich für die Beteiligung der Bundeswehr. Der Bundestag stimmte dieser Entscheidung am 16. November mit großer Mehrheit zu. Es sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass es eine rot-grüne Regierung war, die sich zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands zu zwei Out-of-Area-Einsätzen der Bundeswehr entschied. Der Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan war ohne Mandat der Vereinten Nationen erfolgt.

Doch diese eindrucksvolle internationale Solidarität endete mit der Entscheidung von Präsident Bush, am 20. März 2003 ohne UN-Mandat den Irak militärisch anzugreifen, um angebliche irakische Massenvernichtungsmittel auszuschalten. Eine „Koalition der Willigen“ mit Großbritannien an der Spitze unterstützte ihn. Frankreich und Deutschland verweigerten sich.

Gerhard Schröder nutzte den Bundestagswahlkampf 2002 dazu, öffentlich zu erklären, dass sich die Bundeswehr nicht beteiligen werde. Er löste damit in der amerikanischen Regierung große Verärgerung aus, weil sie eine solche Anfrage zu einer deutschen Beteiligung weder gestellt hatte noch beabsichtigte.

 

Nie da gewesene militärische Stärke

Als das Weiße Haus im September 2002 die „Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika“ veröffentlichte, wies die Regierung mit Genugtuung darauf hin, dass „die großen Kämpfe des 20. Jahrhunderts zwischen Freiheit und Totalitarismus mit einem entscheidenden Sieg für die Kräfte der Freiheit beendet seien – und mit einem einzigen nachhaltigen Modell für nationalen Erfolg: Freiheit, Demokratie und freies Unternehmertum“. Sie fuhr damit fort, dass „die USA sich heute einer Position noch nie da gewesener militärischer Stärke und großen politischen und wirtschaftlichen Einflusses erfreue“. Auf dieser Grundlage führten die USA „weltweit einen Krieg gegen den Terrorismus“.

Präsident Bush dominierte in seiner Amtszeit die internationale Agenda in einem Ausmaß und in einer Weise, die fast zwangsläufig Gegenreaktionen auslösen musste. Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten reiste Wladimir Putin im Juni 2000 zu einem offiziellen Staatsbesuch in die Volksrepublik China. In einer gemeinsamen Erklärung sprachen sich beide Präsidenten dafür aus, dass eine „neue Weltordnung“ geschaffen werden müsse und sie sich deshalb gemeinsam für die „Multipolarisierung“ der Welt einsetzen wollten. Im Dezember 2000 weilte Putin zu einem Staatsbesuch in Indien. Auch dort sprachen sich beide Seiten in einer Gemeinsamen Erklärung für eine „multipolare globale Struktur“ aus, gegen den „unilateralen Einsatz oder die Androhung von Gewalt unter Verletzung der UN-Charta sowie gegen die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten“.

Heute ist ganz selbstverständlich davon die Rede, dass wir in einer multipolaren Welt leben, in einer Welt mit mehreren Machtzentren, die bereits weltpolitischen Einfluss ausüben oder über das Potenzial dazu verfügen. Unbestritten bleiben die USA aufgrund ihrer Wirtschaftsmacht und ihres Militärpotenzials das weltweit bedeutendste Machtzentrum. Hinzu kommen die sogenannten BRICS-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Japan als drittgrößte Wirtschaftsnation sollte nicht vergessen werden. Das politische Gewicht und die wirtschaftliche Bedeutung jedes dieser neuen Pole wäre zu diskutieren. Ihr internationaler Einfluss wird auch künftig davon abhängig sein, welchen Spielraum ihre unterschiedlichen politischen Systeme ermöglichen und welche Ressourcen aufgrund ihrer ungleichen wirtschaftlichen und sozialen Strukturprobleme sowie militärischen Kapazitäten zur Verfügung stehen.

 

BRICS – kein neues Blocksystem

Selbst wenn sich die BRICS-Staaten zu organisieren beginnen und zu regelmäßigen Gipfeltreffen zusammenkommen, ist die Wahrscheinlichkeit relativ gering, dass sich daraus ein neues Blocksystem entwickeln könnte. Es treffen dort nicht nur unterschiedliche politische Systeme aufeinander. Zu groß und zu langwierig sind auch die bilateralen Streitfälle, die zwischen einzelnen dieser Staaten bestehen. Die Grenzstreitigkeiten zwischen China und Indien haben in diesem Jahr wieder ein gefährliches Ausmaß angenommen. Größer sind die Chancen in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und in der Selbstbehauptung gegenüber den westlichen Industrienationen und in den internationalen Organisationen wie in der Welthandelsorganisation (WTO), in der Weltbank, im Internationalen Währungsfonds (IMF) und natürlich in den Vereinten Nationen. Im UN-Sicherheitsrat blockieren Russland und China gemeinsam immer wieder Resolutionen, wie im Falle Syriens.

Wirtschaftspolitisch hat die G20-Gruppe längst den Vorrang gegenüber der G7-/G8-Gruppe der Industriestaaten gewonnen. Als sich vor Beginn der G20-Treffen der amerikanische Präsident mit seinem chinesischen Kollegen verabredete, war G-2 geboren und wurde von manchem Beobachter bereits als das neue bipolare Weltmodell gepriesen.

Interessanterweise sind es Amerikaner selbst, die von einer schwindenden Rolle der USA und ihrem abnehmenden Gewicht in der internationalen Politik sprechen. Präsident Obama hat den Irak-Krieg beendet. Afghanistan folgt im kommenden Jahr. Beide Kriege waren am Ende kein Erfolg. In beiden Ländern ist die politische Stabilität nicht gesichert. Die demokratischen Strukturen sind, wenn überhaupt, nur in Ansätzen vorhanden und alles andere als gefestigt. Der Terrorismus ist nicht besiegt. Die wirtschaftlichen und finanziellen Kosten beider Kriege gehen für die USA in die Billionen, nicht zu reden vom Blutzoll der gefallenen und verwundeten Soldaten. Besonders dramatisch hat die politische und moralische Reputation der USA gelitten.

 

Von „hard power“ zu „soft power“

Es ist deshalb nur folgerichtig, dass Präsident Obama von einer Politik der militärischen „hard power“ Abstand nehmen will und trotz aller Widerstände versucht, eine Politik der „soft power“ in Form von Dialog, Verhandlungen, Zusammenarbeit und Kooperation zu verfolgen. Die Intervention in Libyen und in Mali haben die USA nur aus der zweiten Reihe unterstützt. Im Falle von Syrien bereiten die USA und Russland eine Friedenskonferenz für November in Genf vor. Nach Obama sollen die USA nicht länger die „Rolle eines Weltpolizisten“ übernehmen.

Gleichzeitig hat Obama mit seiner neuen Asienstrategie die Priorität seiner Außenpolitik verändert. Das ist angesichts der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Chinas und des ganzen asiatischen Raumes nicht überraschend. Gleichzeitig nehmen die Konfliktpotenziale zwischen China und den angrenzenden Staaten, einschließlich Japans, zu. Nordkorea bleibt ein unberechenbares Regime mit einem wachsenden Atombomben- und Raketenpotenzial.

Als Obama Anfang Oktober seine Teilnahme an der APEC-Konferenz auf Bali und der anschließenden ASEAN-Konferenz, der Vereinigung der zehn südostasiatischen Staaten, wegen der unsäglichen Auseinandersetzung mit den Republikanern über Haushaltsfragen absagen musste, nutzte Chinas Ministerpräsident Li Keqiang sofort die Chance und präsentierte die „Blaupause“ für eine „diamantene Dekade“ der Beziehungen zwischen China und der ASEAN. Er schlug vor, einen Vertrag über gute Nachbarschaft, Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen China und der ASEAN-Gruppe auszuhandeln. Die Rivalität zwischen den USA und China nimmt sowohl auf der wirtschaftlichen als auch immer stärker auf der politischen Ebene zu.

Vor dem Hintergrund dieser weltweiten Entwicklungen und Veränderungen ist es schon überraschend, wenn nicht sogar erschreckend, wie gelassen, ja fast fatalistisch die Europäer auf diese internationalen Umbrüche reagieren, als ob sie auf einer Insel der Glückseligkeit leben würden. In Deutschland, dem größten und wirtschaftlich stärksten Land, im Zentrum Europas liegend, herrscht bei einer wachsenden Zahl von Bürgern die Mentalität vor, sich aus allen Händeln dieser Welt herauszuhalten zu wollen und dem Vorbild der Schweiz zu folgen. Die eigene Sicherheit sei ja nicht gefährdet. Das Land sei nur noch von Freunden umgeben. Flüchtlinge müssten nach Möglichkeit abgewehrt werden. Gleichzeitig wollen deutsche und europäische Unternehmen auf allen Märkten dieser Welt präsent sein und ihre Produkte verkaufen, um den Lebensstandard weiter zu steigern.

 

Politische Albträume

Viele verschließen die Augen vor der Wirklichkeit in Europa wie weltweit. Es gibt seit über zwanzig Jahren ungelöste Konfliktherde auf dem europäischen Kontinent. 2008 haben wir in Georgien erlebt, wie schnell sie in einen heißen Krieg einmünden können. In Weißrussland herrscht immer noch eine Diktatur. Schwelende Konflikte gibt es in der Republik Moldau mit Transnistrien, in Armenien mit Nagorny Karabach. Zentralasien mit seinen autoritären Regimen ist ein potenzieller Krisenherd. Der Balkan ist noch nicht dauerhaft befriedet. Auch wissen wir noch immer nicht, wohin Russland geht. Ein sicherheitspolitisch frei schwebendes Russland als zweitgrößte Nuklearmacht der Welt sollte uns eher beunruhigen. Der gesamte islamische Gürtel, von Marokko angefangen über Ägypten, Syrien, Irak, Iran, Pakistan, Afghanistan einschließlich der Golfstaaten, ist ein politischer Albtraum und liegt vor den Grenzen Europas. Afrika mit über einer Milliarde Menschen, geprägt von ständigen blutigen Konflikten und von Flüchtlingsströmen in Millionenhöhe, dieser Kontinent liegt vor unserer Haustür. Es wird nicht reichen, Flüchtlingsboote abzuweisen und zurückzuschicken. Der internationale Terrorismus findet in diesen beiden Regionen Heimstatt und Ausbildung.

Kein europäisches Land kann allein mit diesen Konfliktherden fertigwerden. Kein europäisches Land kann allein internationale Allianzen und Aktionen mobilisieren, um diese Konflikte zu verhindern oder gar zu regeln. Frankreich und Großbritannien sind im Gegensatz zu Deutschland Nuklearmächte und Ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat. Das ermöglicht ihnen ein gewisses Mitsprache- und Mitwirkungsrecht in internationalen Krisen. Daran sollten wir Deutschen nicht rühren, denn das sichert beiden Staaten gegenüber dem größeren Deutschland die gleiche Augenhöhe.

Die Antwort der Europäer auf die globalen Umbrüche unserer Zeit muss eine zweifache sein. Wir müssen endlich eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln. Die bisherigen Ansätze reichen nicht aus. Eine EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, die sich erst mit 28 Außenministern abstimmen muss, ist weitgehend handlungs- und entscheidungsunfähig. Und wenn wir im Konzert der Großen künftig unsere europäischen und nationalen Interessen wahrnehmen wollen, müssen wir den Weg zur Integration, zu einer echten politischen Union weitergehen. Was spricht am Ende gegen die „Vereinigten Staaten von Europa“, wenn wir die Zusammenarbeit selbst so gestalten können, dass nationale Identitäten nicht verloren gehen?

 

Europäisch-atlantische Antworten

Darüber hinaus sollte Europa als Teil der Atlantischen Allianz die Zusammenarbeit mit den USA weiter vertiefen, denn es steht immer stärker im weltweiten Wettbewerb der politischen und wirtschaftlichen Systeme. Der wichtigste Schritt wäre jetzt, die gemeinsame Freihandelszone endlich zu verwirklichen. Seit Jahrzehnten wird darüber diskutiert. Viele Initiativen sind ins Leere gelaufen, weil die Politik die Schwierigkeiten scheute. Die gemeinsamen Werte der Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie weltweit zu verteidigen, muss ein gemeinsames Anliegen sein. Doch in Europa wie in den USA steht unsere eigene demokratische Ordnung aktuell immer häufiger im Feuer der Kritik. Deshalb sollten beide Seiten voneinander lernen, wie die freiheitliche Demokratie und Soziale Marktwirtschaft weiterentwickelt und gleichzeitig gefestigt werden können.

Über Jahrzehnte hat die Atlantische Allianz immer wieder über eine gerechte Lastenverteilung gesprochen. Sie wird künftig von den USA faktisch erzwungen werden, weil sie dabei sind, ihre politischen Prioritäten zu verändern. Die Entwicklung des eigenen Landes wird verstärkt im Vordergrund stehen, und die außenpolitischen Prioritäten verlagern sich in andere Weltregionen. Europa wird auf diese Weise gezwungen sein, sich weitgehend selbst der Krisenherde in seiner Nachbarschaft anzunehmen. Eine solche politische Arbeitsteilung zwischen den USA und Europa ist überfällig und im eigenen Interesse der Europäer. Das schließt eine enge Zusammenarbeit nicht aus.

Wer sollte weltweit Freund und Partner sein, wenn nicht die großen Demokratien in Nordamerika und Europa? Es geht nicht um die weitere Konzentration von Macht, sondern es geht um die Verteidigung gemeinsamer Interessen und um die Selbstbehauptung in einer Welt, die sich im Umbruch befindet, politisch und wirtschaftlich, und die vor vielfältigen globalen Aufgaben steht, die nur noch gemeinsam zu lösen sind. Deshalb sollten die Europäer enger zusammenrücken, ohne eine enge Freundschaft mit den USA aufzugeben.

 

Horst Teltschik, geboren 1940 in Klantendorf, heute Kujavy (Tschechien), von 1982 bis 1990 Ministerialdirektor im Bundeskanzleramt, Leiter der Abteilung „Auswärtige und Innerdeutsche Beziehungen, Entwicklungspolitik, Äußere Sicherheit“, später unter anderem Beauftragter des BMW-Vorstandes für Zentral- und Osteuropa, Asien und den Mittleren Osten und von 2003 bis 2006 Präsident der Boeing Deutschland.