Krisen sind der Entwicklungsmodus geschichtlicher Großprojekte.
Ein solches ist der europäische Einigungsprozess zweifelsfrei.
Die Europäische Union ist bisher aus jeder ihrer zahlreichen Krisen gestärkt hervorgegangen –
„Europa wird in Krisen.“ (Jean Monnet)
Um das Wesen der gegenwärtigen Krise um den Euro zu verstehen, ist es unerlässlich, den Stellenwert der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) innerhalb des europäischen Einigungsprozesses und ihre Entstehungsbedingungen zu verstehen. Die WWU war gedacht als letzter Schritt zur europäischen Einheit durch wirtschaftliche Integration. Er schloss logisch an die vorangegangenen Schritte – Montanunion, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Binnenmarkt – an. Die Voraussetzungen für eine Währungsunion waren jedoch nicht ideal, weil die wirtschaftliche Leistungskraft und Wettbewerbsfähigkeit vieler zur Teilnahme bereiten Länder im Binnenverhältnis und international starke Unterschiede aufwiesen. Sie vor Einführung einer gemeinsamen Währung anzugleichen, wäre logisch gewesen. Das wurde versucht, in Italien etwa durch Reduzierung der Staatsschuld, aber das Ergebnis war unzureichend und vor allem nicht nachhaltig, weil die strukturellen Ursachen der Überschuldung nicht beseitigt wurden.
Die Bereitschaft Deutschlands, dennoch das Wagnis einer Währungsunion einzugehen, lässt sich nur mit der politischen Gesamtlage im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts erklären. Damals sagte der französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing: „Es geht nicht an, dass Deutschland [gemeint war die Bundesbank] entscheidet und wir Anderen müssen folgen.“ Mit anderen Worten: Deutschland hat in Währungsfragen eine hegemoniale Position, die mit dem Grundprinzip des europäischen Einigungsprozesses unvereinbar ist. Und diese Hegemonie schien sich durch die Wiedervereinigung nach 1990 politisch wie wirtschaftlich zu verstärken.
Was vor Einführung einer gemeinsamen Währung also nicht möglich war – die Angleichung und Stärkung von Wirtschafts- und Wettbewerbskraft der Teilnehmerländer – sollte nach ihrer Einführung mittels des Stabilitätspaktes erfolgen. Dieser sollte als fiskalpolitischer Hebel für strukturelle Reformen dienen, für ein umfassendes Gesundungs- und Modernisierungsprogramm der europäischen Volkswirtschaften und Gesellschaften. Das misslang, weil das dazu erforderliche Instrumentarium unzureichend war.
So war der Ausbruch einer Krise nur eine Frage der Zeit. Der Auslöser war die drohende Staatspleite Griechenlands und die Gefahr eines Überspringens auf Italien, die drittgrößte Volkswirtschaft in der Währungsunion. In dieser Lage erwies sich allein die Europäische Zentralbank (EZB) als sofort handlungsfähig, weil sie vor allem aufgrund deutschen Drängens als unabhängige Notenbank konzipiert war. Ihrer Verantwortung wurde sie gerecht – notgedrungen auch mit unkonventionellen Methoden. Doch ihr Präsident, Mario Draghi, wies die Mitgliedsländer nachdrücklich darauf hin, dass die EZB ihnen zwar Erleichterungen des Zinsdrucks und Zeitgewinn verschaffen könne, die Notwendigkeit tief greifender Reformen aber unverändert bestehen bleibe.
Eben diesem Zweck struktureller Reformen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft dient das neue Instrumentarium, das sich die Euro-Mitglieder mit dem Fiskalpakt, aber auch mit den beiden Kreditfonds und der Bankenunion zugelegt haben. Die Bundeskanzlerin hat mit dem Vorschlag, anstelle der bisher unverbindlichen Empfehlungen der Kommission für die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer vertragliche Verpflichtungen zwischen diesen und der Kommission zu etablieren, ein weiteres starkes Element in die Debatte eingeführt. Insgesamt ergibt sich daraus – wenn auch inhaltlich noch nicht ausgefüllt – das Projekt einer europäischen Wirtschaftsregierung, die auf das Einnahme- und Ausgabeverhalten von Regierungen Einfluss nimmt und damit Kernbereiche von bisher nationalstaatlichem Handeln europäisiert. Wird dieser Kernbereich in dem jetzt vorgesehenen Maße auf die europäische Ebene übertragen, dann wird die Währungsunion tatsächlich zu einer Wirtschaftsunion und damit endlich zu einer politischen Union im umfassenden Sinne dieses Begriffs.
In der gegenwärtigen Krise geht es längst um mehr als um die Bewahrung des Euro. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten steht die Frage im Raum, ob Europa und seine Mitgliedsländer die Voraussetzungen dafür schaffen können, das „Europäische Modell“ eines Gleichgewichts zwischen einer liberalen Wirtschaftsordnung und einer solidarischen Gesellschaftsordnung auch in Zukunft zu verwirklichen. Auch entscheidet sich, ob die demokratischen Systeme in den Euro-Ländern stark genug sind, die teils schmerzhaften Reformen durchzusetzen, oder ob die zukunftsfeindlichen Kräfte die Oberhand gewinnen, die die wahren Ursachen der Krise leugnen oder verkennen und Europa für alles Missliche verantwortlich machen. Insofern ist die Krise auch ein Test für die Leistungskraft der europäischen Demokratien.
Die Europäische Union kann einen entscheidenden Schritt in die gemeinsame Zukunft tun oder sie fällt für eine unabsehbar lange Zeit zurück. Deutschland trägt in dieser historisch entscheidenden Situation aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke, seiner politischen Stabilität und seiner Geschichte eine besondere Verantwortung. Manche hoffen auf eine deutsche Führung, andere fürchten sie und wiederum andere tun beides zugleich. Soll Deutschland dieser Verantwortung gerecht werden, so müssen sich seine Politiker und Bürger einige Grundgegebenheiten stärker ins Bewusstsein rufen.
Deutschland beteiligt – aber unschuldig?
Die erste Grundgegebenheit ist, dass Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten ein wesentlicher Teil des europäischen Geschehens gewesen ist – auch in seinen negativen Ausprägungen. Es hat nicht nur selbst massiv gegen die von ihm durchgesetzten Regeln des Stabilitätspaktes verstoßen, sondern diese auch zusammen mit Frankreich formell abgeschwächt. Die Beteiligung deutscher Banken, darunter fast aller staatlichen Landesbanken, an den Monopoly-Spielen irischer und spanischer Banken im Zusammenhang mit der Immobilienblase oder ihre gedankenlose Teilnahme an den abenteuerlich hohen Anleiheprogrammen Griechenlands werfen die Frage nach der Mitverantwortung auch der deutschen Bankenaufsicht und Politik auf. Augenscheinlich wird die deutsche Beteiligung am europäischen Geschehen durch seine Exporte in die Europäische Union, deren Anteil an seinen Gesamtexporten zeitweise über sechzig Prozent umfasst. Das trägt zu den deutschen Leistungsbilanzüberschüssen bei, an denen in letzter Zeit von manchen Partnern offen oder verdeckt Kritik geäußert worden ist. Sie ist in der Sache unangebracht, aber die profane Tatsache bleibt, dass die Überschüsse des einen die Defizite der anderen sind. Unübersehbar zeigt sich, dass nationales Interesse im strengen Wortsinn des lateinischen inter-esse zu interpretieren ist: als Dazwischen-sein. So, wie die Wirklichkeit in Europa verflochten ist, so sind es auch die Interessen.
Europäische und globale Verflechtung
Diese Verflechtung ist das Ergebnis dessen, was wir heute Globalisierung nennen. Ihre große Dynamik gewann sie durch die Industrielle Revolution, die in Europa vor mehr als 200 Jahren begann. Konkreten Ausdruck fand die entgrenzte Wirklichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der De facto-Währungsunion zwischen den industrialisierten Ländern im westlichen Teil Europas. Schon damals wäre eine institutionelle europäische Reaktion auf diese transnationale Wirklichkeit notwendig gewesen. Doch die Politik und die nationalen Gesellschaften versagten und steigerten sich stattdessen in einen sich abgrenzenden aggressiven Nationalismus hinein. Die Folge waren die Weltkriege.
Nach dem Ende dieser unglückseligen Entwicklung nahmen weitsichtige Männer die Gedanken wieder auf, die schon vor dem Krieg eine transnationale institutionelle Antwort auf die transnationale Wirklichkeit vorgeschlagen hatten. Vorrangiges Ziel war es, den Frieden zu sichern. Doch die neuen Wege des institutionalisierten Zusammenwirkens der Staaten, vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaft, trugen den grenzüberschreitenden Tendenzen nicht nur Rechnung, sondern verstärkten diese noch. So entstand und entsteht mit der heutigen Europäischen Union sukzessive eine besonders dichte transnationale Wirklichkeit.
Inzwischen wird die Globalisierung durch eine weitere Revolution, die der digitalen Kommunikationstechnik, erheblich angetrieben und beschleunigt. Diese entgrenzende Entwicklung höhlt das bis heute geltende Prinzip der Machtorganisation, das Territorialprinzip, aus, denn es beruht auf der Annahme fester, verschließbarer Grenzen, innerhalb derer der Staat Allein-, Letzt- und Allzuständigkeit beansprucht. Das ist offensichtlich eine Illusion geworden.
„Der Nationalstaat ist nicht das Ziel der Geschichte“, sagte ausgerechnet ein Franzose, Raymond Aron. In dieser tiefen historischen Perspektive ist Europa nicht etwas, was man tun oder auch lassen kann, sondern ein Muss, eine Notwendigkeit im strengen Wortsinn. Für sie gilt das Diktum Georg Friedrich Wilhelm Hegels: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.“ Einfacher gesagt: Was man muss, muss man auch wollen, um es zu gestalten.
Folge der Globalisierung ist eine weltweite Machtverschiebung. Mit der Übernahme der westlichen, ursprünglich europäischen Art des Lebens, des Arbeitens, des Wirtschaftens haben andere Völker auch die Machtmittel erworben, die die westliche Dominanz der vergangenen Jahrhunderte begründeten. Die weltweite Konkurrenz wird mehr und mächtiger. Selbst wenn es keine anderen Gründe für den europäischen Zusammenschluss gäbe, dieser wäre völlig ausreichend: europäische Selbstbehauptung durch Mitwirkung an einer etwas besseren Welt! Um dieser Herausforderung zu begegnen, wäre jedes einzelne Land in der Europäischen Union bei Weitem überfordert – auch das wirtschaftlich mächtigste unter ihnen, also Deutschland, mit gerade einmal einem Prozent der Weltbevölkerung. Dabei müssen die Europäer auch lernen, die Welt und sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen – sie sieht dann erstaunlich anders aus.
Deutsche Schritte
Was also soll Deutschland tun? Erstens sollten wir die Herausforderung bewusst annehmen. Zweitens sollten wir uns der Relativität unserer Dominanz bewusst sein; Deutschland ist nie stärker als alle oder einige von ihnen zusammen. Von Dominanz Deutschlands auf allen Feldern der Politik kann keine Rede sein. Dies gilt etwa für die Außenpolitik, speziell, wenn der militärische Faktor ins Spiel kommt – in der Libyen-Krise wirkte Deutschlands Enthaltung in der UN geradezu kläglich, ebenso die kategorische Weigerung, sich mit Kampftruppen in Zentralafrika oder Mali zu beteiligen.
Drittens: Das Wie ist so wichtig wie das Was in der Politik, „le style c’est l’homme“, sagen die Franzosen. Die Deutschen neigen hingegen zu einem gewissen Dogmatismus, wie die Kritik an der EZB-Politik zeigte. Prinzipientreue ist wichtig, Dogmatismus scheitert immer.
Viertens heißt das konkret, dass Deutschland auf der Unerlässlichkeit von Haushaltsdisziplin und strukturellen Reformen bestehen soll, gleichzeitig aber solche Elemente in den schmerzhaften Reformprozess der Krisenländer einbringen oder zulassen soll, die deren wirtschaftlicher Entwicklung Auftrieb geben und die dortigen Reformkräfte stärken können – beispielsweise einen europäischen Altlasten-Tilgungsfonds.
Die Gegenargumente grundsätzlicher wie taktischer Natur sind bekannt. Sie sind aber nicht durchschlagend. Jedenfalls ist es zu wenig, eine Politik der Strenge zu fordern. Sie ist unerlässlich, bedarf aber aus sachlichen wie psychologischen Gründen einer Ergänzung, gerade in diesem Augenblick, in dem erste positive Wirkungen der Reformpolitik einhergehen mit einer Zunahme schwerwiegender sozialer Folgen. Dringend notwendig, um ihrer europäischen Verantwortung gerecht zu werden, wäre vor allem eine innenpolitische Offensive der Politik, um die Basis ihrer Europapolitik abzusichern. Sie würde zugleich das Vertrauen unserer Partner stärken. Der Wahlkampf zum Europäischen Parlament könnte dazu der Auftakt sein.
Die Voraussetzungen für eine solche Initiative sind gut. Die europäische Orientierung nicht nur der beiden, eine große Mehrheit bildenden Koalitionsparteien, sondern auch der Oppositionspartei „Die Grünen“ ist gegeben. Die Stimmung im Wahlvolk ist besser, als dies die öffentliche Debatte, die viel zu stark von Gegnern und Skeptikern bestimmt wird, erscheinen lässt. Aber diese Stimmung könnte umschlagen, wenn weitere Leistungen Deutschlands, die über Kredite und Garantien – bislang haben sie keinen einzigen Cent „Bargeld“ gekostet – hinausgehen, erwartet würden und die Politik den Kritikern das Feld überließe. Politische Klugheit besteht nicht nur aus Vorsicht und Taktik, es muss auch eine Strategie erkennbar werden, das heißt eine Vorstellung von langfristigen Zielen.
Eine Offensive müsste den Deutschen unmissverständlich klarmachen, dass es keine getrennte Entwicklung mehr geben kann – in Europa nicht, aber auch nicht in der Welt. Dass alle Europäer entweder eine gemeinsame Zukunft oder aber gemeinsam keine Zukunft haben werden. Und dass, wenn Deutschland unstreitig den größten Nutzen politisch wie wirtschaftlich von Europa hat, es auch den größten Schaden bei seinem Scheitern erlitte. Es gibt in Deutschland eine große Bereitschaft, eine solche Initiative aufzugreifen und vielleicht so etwas wie eine neue Art „Europäischer Bewegung“ grenzüberschreitend zu schaffen.
Am wichtigsten aber wäre es, an das Selbstbewusstsein und – ja – auch an den Stolz der Deutschen zu appellieren. Ihr Weg zu dem heute allseits geachteten, ja mancherorts gar bewunderten Gemeinwesen war lang und steinig. 1945 materiell total zerstört, mit mehr als zwölf Millionen Flüchtlingen, dem Verlust eines Viertels seines Territoriums, geteilt, seiner Staatlichkeit entkleidet, moralisch zutiefst verachtet, erhielt sein westlicher, wesentlich größerer Teil gottlob schon drei Jahre später eine zweite Chance. Das lässt sich nur als „Zuwendung ohne Verdienst“ bezeichnen, um mit Martin Luther zu sprechen. Diese Chance haben die Deutschen genutzt, so gut, dass es heute für den weiteren Fortgang des europäischen Einigungsprozesses auf sie mehr als auf jedes andere Land ankommt. Ist das kein Grund zu Freude und einem stillen, europäisch inspirierten Stolz?
Die Chance, die Deutschland 1948 bekam, stand unter der Bedingung, sich unwiderruflich in die europäische Völkerfamilie einzugliedern und gewissermaßen Wiedergutmachung dadurch zu leisten, dass es seinen Beitrag zu einer guten Zukunft für alle europäischen Völker leistet. Das hat es bisher in einem guten Geist getan und so auch seine nationale Einheit wiedererlangt. Seit einiger Zeit aber bestimmt ein enger und ängstlicher Geist die gesellschaftliche Debatte in Deutschland, und bekanntlich gilt: „Im engen Kreis verenget sich der Sinn“, mag das Schiller’sche Pathos auch heute fremd klingen. Und es gilt auch die Fortsetzung: „Es wächst der Mensch (und auch ein Volk) mit seinen größern Zwecken.“ Wer wollte bestreiten, dass die Einigung Europas ein solcher größerer Zweck ist?! Und wie könnte man übersehen, dass in diesem Europa Deutschland, das über Jahrhunderte ein Unruheherd in der Mitte Europas war, dann die ruhige Mitte Europas wäre?
Karl Lamers, geboren 1935 in Königswinter, von 1990 bis 2002 außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und von 2000 bis 2002 Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP).