Asset Publisher

Die versöhnende Philosophie der politischen Mitte

Asset Publisher

Das verbindende Wort „und“ zwischen Kirche und Staat, Markt und Staat, Idealismus und Materialismus oder auch Individuum und Gesellschaft symbolisiert die Essenz der westlichen Kultur. Über die Ausgestaltung dieses „Und“ handeln die großen politischen Konflikte der Moderne. Wo immer es gelungen ist, diese Gegensätze zu Gegenseitigkeiten auszugestalten, etwa bei Säkularität und Sozialer Marktwirtschaft, hat der Westen seine unterschiedlichen Werte in eine zukunftsfähige Ordnung gebracht, die es auch gegenüber immer neuen Herausforderungen zu bewahren gilt.

Die tiefste Wurzel dieser Kultur von sich ergänzenden Gegenseitigkeiten liegt in der Ergänzung von Religion und Politik und später von Kirche und Staat im säkularen Modell. Damit werden zwei grundlegende Bestandteile der europäischen Kulturtradition zusammengeführt, die christliche Vorstellung vom „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ und die weltliche vom „Etsi Deus non daretur“ („Als ob es Gott nicht gäbe“), welche verlangt, dass im Bereich der öffentlichen Entscheidungen der Ratio Vorrang vor dem Glauben eingeräumt wird. Das „Gebt Gott“ besagt, dass auch auf weltlichem Gebiet ein Teil Gott zusteht. Zwei unterschiedliche, aber eben nicht unvereinbare Standpunkte, die sich im besten Fall ergänzen.

In diesem dialektischen Geist ist die Suche nach immer neu zu definierenden Gegenseitigkeiten eine spezifische Aufgabe einer Politik der Mitte. Sie unterscheidet sich damit grundlegend von den einseitigen Fixierungen der politischen Ideologien entweder auf den Staat oder auf den Markt. Doch auch nach dem Niedergang der Ideologien bedroht eine Vielzahl von neuen Verlusten an Gegenseitigkeit die westliche Werteordnung.

 

Aus der Balance geraten

Der drohende Verlust an Gegenseitigkeit beginnt schon bei der Säkularität, die heute weltweit sowohl vom Fundamentalismus als auch von einem radikalen Relativismus angefochten wird. Für die meisten Gläubigen in anderen Kulturkreisen ist der europäische Relativismus, der nicht einmal mehr ein Gleichgewicht von Religion und Welt anstrebt, abschreckend. Papst Benedikt XVI. hatte sich anlässlich seiner Libanonreise auch deutlich gegen eine damit verbundene negative Form des Laizismus ausgesprochen, der zufolge Religion ausschließlich in die Privatsphäre gehöre, als sei sie nur ein individueller Kult, der außerhalb des Lebens, der Ethik und der Beziehung zum anderen angesiedelt ist. Diese Theorien seien mit dem Christentum unvereinbar. Eine gesunde Säkularität und Laizität bedeute dagegen, den Glauben von der Last der Politik zu befreien und die Politik durch Beiträge des Glaubens zu bereichern. Dabei seien Abstand und klare Unterscheidung eine Voraussetzung für eine gegenseitige Zusammenarbeit.

Eine große Herausforderung liegt auch in dem drohenden Verlust der Gegenseitigkeit von Staat, Markt und Gesellschaft. Der Marxismus hatte mit seiner Totalisierung des Staates die Balance zwischen ihnen zerstört, der Nationalismus den Ausgleich von Partikularität und Universalität. Nach der überwundenen Staatsvergottung neigte der Neoliberalismus umgekehrt zu einer Totalisierung des Marktes. Wo Wachstum, Profit und Effizienz selbstbezüglich wurden, setzten sie den marxistischen Materialismus mit anderen Mitteln fort. Wo nach der Revolution im Osten Privatisierung nicht mit Rechtsstaatlichkeit einherging, endeten die Deregulierungen im Oligarchentum und in der Kriminalität. Korrupte Verflechtungen von Politik und Kapital ersetzten die verfehlte Gegenseitigkeit der Funktionssysteme.

Zu dieser gehörte die Mentalität des Spekulantentums und der hedonistischen Entfesselungen, die spezifisch bürgerliche Gegenseitigkeiten von Arbeit und Freizeit, von Pflichten und Rechten verwarfen. Die Staatsverschuldung in den westlichen Demokratien ist wiederum ein Ausdruck mangelnder Gegenseitigkeit zwischen den Generationen. Heute ist der Neoliberalismus im Grunde durch die in der Weltfinanzkrise und durch die in der Banken- und Eurokrise notwendig gewordenen Staatsinterventionen widerlegt. Auch im Zeitalter der Globalisierung bleibt keine andere Wahl, als neue Gegenseitigkeiten von Märkten und Staaten oder von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft aufzubauen. Dafür sind mittelständische Strukturen geeignet, die den Ausgleich von Gegensätzen anstreben.

 

„Gestalten der Unbildung“

An die Substanz der westlichen Werteordnung geht auch der Verlust der Gegenseitigkeiten von Bildung und Ökonomie. Beide Funktionssysteme haben ihre eigene Logik. Die Reformen der „Wissensgesellschaft“ sind auf Effizienz, Verwertbarkeit, Kontrolle, Spitzenleistung und Anpassung ausgerichtet, lauter „Gestalten der Unbildung“ (Konrad Paul Liessmann). Der Leit code der Wissenschaft von „wahr oder falsch“ wird überlagert durch den Code der Ökonomie von „zahlen oder nicht zahlen“. Mit einer durch Ökonomisierung und Dauerkontrolle verplanten Wissenschaft wird eine wichtige Ausdifferenzierung der Moderne angefochten. Bildung war einst zur Kompensation der Zweckrationalität gedacht gewesen. Vor lauter Rankings und Evaluationen ging der Sinn für den Sinn verloren, wurden Zahlen zum Ersatz für qualitative Unterscheidungen und Wertungen. „Gutmenschen“ kümmern sich umgekehrt überhaupt nicht um Ökonomie, sondern setzen ausschließlich auf weiche Faktoren, in denen sie alles Gute und Wünschenswerte fördern. Das Böse wird aus der menschlichen Natur ausgeklammert und auf Konsequenz, Sanktion und Gegenseitigkeit verzichtet. Ein solches „Fördern ohne Fordern“ führt in sozialen Prozessen angesichts der immer auch eigensüchtigen menschlichen Natur unweigerlich zum Ruin.

Wo Politik sich zum Religionsersatz erhob, zerstörte sie sich durch Überforderung selbst. Ein ähnliches Schicksal droht umgekehrt aber auch denjenigen, die integristisch nun Religion und Politik als Einheit verkörpert sehen wollen und damit die notwendige Ausdifferenzierung von Funktionssystemen verhindern. Der Islamismus wird keine bessere Zukunft haben als der umgekehrte Totalitarismus des Kommunismus. Wenn ausdifferenzierten Funktionssystemen die Fähigkeit zur Ankoppelung an andere Systeme verloren geht, muss hingegen von einer Krise des „Und“ und damit der westlichen Kultur gesprochen werden.

 

Vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch

Angesichts dieser Verluste von Gegenseitigkeit werden die Aufgaben der politischen Mitte deutlich. Sie darf nicht vom ideologischen Entweder-oder in die Mittelmäßigkeiten des Weder-noch abrutschen, bei dem alle Spannungen zwischen den Gegensätzen verfallen würden. Ihre Aufgabe liegt im Aufbau eines dialektischen Sowohl-als-auch. Unterschiedliche Funktionen werden nicht als Widersprüche interpretiert, die sich etwa in der Gestalt von Kapital und Arbeit historische Kämpfe liefern, sondern auf ihre Ergänzungspotenziale hin befragt. Die Verbindung der Gegensätze von ideellen und materiellen Zielen, von Moral und Egoismus, von Individualismus und Gesellschaft drückt sich in Formeln aus wie „Fördern und Fordern“, „Hilfe und Selbsthilfe“, „Teilnahme und Teilhabe“ oder „Flexibilität und Sicherheit“.

Weder „links“ noch „rechts“ sind demnach Wege, es geht vielmehr um die Qualität von Interaktionen. Die Originalität der Sozialen Marktwirtschaft liegt nicht in einer spezifischen Idee, sondern in der wechselseitigen Ergänzung von zuvor als unvereinbar angesehenen Ideen. Sie übernahm vom Sozialismus die Betonung des Sozialen und der Würde der Arbeit, vom klassischen Liberalismus die Freiheit des Individuums und die Koordination dezentraler Leistungen durch den Markt, von der Katholischen Soziallehre die Unantastbarkeit der Person, das Subsidiaritätsprinzip und die Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums, von der Evangelischen Sozialethik das Berufsethos und die Sparsamkeit. Ihre Gesellschafts- und Generationenverträge konkretisieren Gegenseitigkeiten des Gebens und Nehmens.

 

„Fördern und fordern“

Schon um das Niveau dialektischen Denkens zu erreichen, müssen soziale Begriffe mit ihren Gegenbegriffen konfrontiert werden. Zur Partizipation gehört Eigenleistung, zur Teilhabe die Teilnahme, zu Rechten die Pflichten, zur Hilfe die Selbsthilfe und zum Fördern das Fordern. Das notwendige Gegenstück zur Willkommenskultur ist eine Ankommenskultur. Die Qualität eines Sozialstaates ergibt sich nicht aus der Höhe der Sozialausgaben, die bei falschen Steuerungsanreizen niemals hoch genug sind. Die 750 Millionen Euro, die die Bundesregierung jährlich für ihren Integrationsplan mobilisiert, sind ohne ausreichende Selbsthilfe nur eine Subvention von sozialen Milieus.

Eine Renaissance der Gegenseitigkeit deutet sich im Siegeszug der Formel vom „Fördern und Fordern“ an. Sozialpolitik beschränkt sich heute nicht mehr auf die Auszahlung monetärer Transfers, sondern setzt auf Prävention und Aktivierung. Das deutsche Sozialsystem konnte nur durch eine Neujustierung der Hilfe zur Selbsthilfe im „Fördern und Fordern“ stabilisiert werden und Gleiches wird auch für die Einwanderungs- und Integrationspolitik gelten. Im Integrationsdiskurs wiederholt sich derzeit der alte sozialpolitische Streit über das „Fördern und Fordern“. Während die politische Linke vor allem Staat und Aufnahmegesellschaft in der Pflicht sieht, Zuwanderer zu fördern, mehr Toleranz zu üben und mehr Teilhabe zu gewähren, fordern Liberale und Konservative von den Zuwanderern Eigenverantwortung und Integrationsbereitschaft. Vermutlich werden wir noch einige Jahre diskutieren müssen, bis die Scheingegensätze überwunden sind. Mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wurden in Deutschland Ansätze für eine Wende zum „Fördern und Fordern“ eingeleitet. Das Gesetz konnte allerdings jahrzehntelange Versäumnisse nicht nachträglich beheben. Gesetze müssen auch angewandt werden, womit die Behörden oft überfordert sind. Es fehlt an Geld, Personal, Konsequenz und damit immer noch an Gegenseitigkeit.

Die Regeln des gegenseitigen Gebens und Nehmens, von Berechtigungen und Verpflichtungen müssen sich auch in anonymen sozialen Systemen wiederfinden. In der Sozialarbeit rückt das „Fördern und Fordern“ durch eine Strategie des Aktivierens in den Vordergrund. Für den Aufbau der Gegenseitigkeit von Berechtigungen und Verpflichtungen bräuchten wir eine aktivierende und fordernde Sozial-, Bildungs- und Integrationsarbeit, die gleichrangig neben der betreuenden und fördernden Arbeit steht.

 

Überdehnungen und Asymmetrien

Das Prinzip Gegenseitigkeit sollte auch in den internationalen Beziehungen mehr Beachtung finden. Eine bloße Entgrenzungspolitik, wie sie in Globalisierungsprozessen und in den Erweiterungsprozessen der Europäischen Union gegeben ist, hat zu jenen Überdehnungen und Asymmetrien geführt, unter denen dann alle Beteiligten oft leiden. Mitte und Ränder sind eben nicht gleichzusetzen, sondern in ein Verhältnis asymmetrischer Gegenseitigkeiten zu setzen. Die Globalisierung erfordert neue politische Grenzen. Eine Liberalisierung der Märkte muss jeweils mit Verbesserungen der zwischenstaatlichen Institutionen einhergehen. Heute gibt es mehr Staaten auf der Welt als je zuvor. Parallel zur Grenzenlosigkeit der Globalisierung wachsen die Bedürfnisse nach lokaler Steuerung. Gegenseitigkeit zwischen asymmetrischen Marktbedingungen erfordert gegebenenfalls vorsichtigen Protektionismus oder eine Handelszone unter vergleichbaren Partnern, wie sie mit der jetzt von Barack Obama angestrebten „Transatlantischen Freihandelszone“ entstehen soll.

 

Ethos der goldenen Mitte

In einer multikulturellen Welt bedeutet Gegenseitigkeit auch die Einsicht in die Grenzen universalistischer Ideale, auch der Menschenrechte und der Demokratie. Während die Interventionen des vergangenen Jahrzehnts eine letztlich westlich geformte Weltordnung anstrebten, lehren uns ihre Misserfolge, wie in Afghanistan und im Irak, uns mit Koexistenz und Gegenseitigkeit zwischen den Machtpolen zufriedenzugeben. Zwischen den Weltkulturen können Gegenseitigkeiten besser verständlich gemacht werden als angebliche Gemeinsamkeiten. Die in Dialogen beschworenen Gemeinsamkeiten werden oft als Gefährdung von Identitäten empfunden und beschwören im Gegenzug kulturellen Fundamentalismus herauf. Der westliche Universalismus hat selbst in der Entwicklungshilfe zu massiven Missverständnissen geführt. Die „Goldene Regel“ der Gegenseitigkeit spielt dagegen in den meisten Kulturen eine Rolle und ist durch entsprechende Konsequenz jedem verständlich zu machen. Sie ist der Klassiker eines Ethos der goldenen Mitte und des rechten Maßes im Alltag, gewissermaßen eine Maxime für den ethischen Normalverbraucher, der weder seine andere Wange hinhalten noch den anderen vernichten will.

Während typische ideologische Ziele wie Gleichheit und Einheit, Gemeinsamkeit und Integration je auf ihre Weise zur Totalität neigen, beruht Gegenseitigkeit auf der Ergänzungsfähigkeit des dauerhaft Unterschiedlichen. In einer radikal pluralistisch gewordenen Welt passen Gegenseitigkeiten sowohl zu den ausdifferenzierten Funktionssystemen moderner Gesellschaften als auch zu den unterschiedlichen Werteordnungen von Kulturen. Es ist an der Zeit, den überschießenden Idealismus des „Prinzips Hoffnung“ und des „Prinzips Verantwortung“ durch das nüchtern-skeptische „Prinzip Gegenseitigkeit“ zu ergänzen.


Heinz Theisen, geboren 1954 in Langenfeld, Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln.

comment-portlet