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Gestaltung: StanHema

Gesamtgesellschaftliche Verantwortung

by Horst Möller

Wie Volksparteien Gegensätze ausgleichen und integrieren

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Für die Gründung der CDU und der CSU 1945 war der Unionsgedanke konstitutiv. Er bezog sich primär auf die Repräsentation christlicher Konfessionen, nachdem die Zentrumspartei im Bismarck-Reich und in der Weimarer Republik eine ausschließlich katholische Partei gewesen war. Bereits in den 1920er-Jahren beurteilten Konrad Adenauer und Adam Stegerwald diese konfessionelle Begrenzung als problematisch. Als Präsident des 62. Deutschen Katholikentages erklärte Adenauer am 28. August 1922: „Wir müssen beim Kampfe für die Geltung der christlichen Grundsätze in den öffentlichen Dingen bei den Nichtkatholiken Bundesgenossen suchen“, wir „müssen mit Bestrebungen Gleichgesinnter im evangelischen Lager Hand in Hand gehen und suchen, uns gegenseitig zu unterstützen und zu fördern.“

Die konfessionelle Beschränkung wurzelte in der Minderheitenposition der Katholiken sowie ihrer Benachteiligung im protestantisch dominierten Hohenzollernreich und begrenzte ihren Einfluss außerdem regional: Wie alle Weimarer Parteien besaß die Zentrumspartei Hochburgen, während sie in anderen Provinzen und Städten eine Splittergruppe blieb. Erst die Verwirklichung des Unionsgedankens nach 1945 bewirkte eine bundesweite Präsenz der beiden christlichen Parteien CDU und CSU. Einen wesentlichen Sammlungsaspekt übernahmen sie indes von ihren Weimarer Vorgängerinnen: Schon Zentrum und Bayerische Volkspartei waren im Unterschied zu den meisten zeitgenössischen Konkurrenten weder partikulare Interessen- noch Klassenparteien. Vielmehr vertraten diese beiden katholischen Parteien unterschiedliche soziale Schichten – von den Unternehmern bis zu den Angestellten und Arbeitern, von den Landwirten bis zu den Landarbeitern. Und sie repräsentierten auch die katholischen Frauen, wie der damalige Reichstagsabgeordnete des Zentrums, Johannes Schauff, in wegweisenden Wahlanalysen bereits 1929 gezeigt hat. Wäre nicht die konfessionelle Beschränkung gewesen, wäre das Zentrum die gesellschaftliche Integrationspartei par excellence gewesen. In der Weimarer Republik gab es neben der Zentrumspartei nur eine weitere, eher protestantische klassenübergreifende Volkspartei, die Deutschnationalen, doch war sie antidemokratisch. Erst in der Auflösungsphase der Demokratie mit katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen erreichte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) mit ihrer nationalistisch-rassistischen Integrationsideologie der „Volksgemeinschaft“ – die Minderheiten ausschloss – eine bis dahin ungeahnte Massenmobilisierung. Voraussetzung für ihre Wahlerfolge war nicht allein die extreme Notlage des größten Teils der Bevölkerung, sondern es waren auch Defizite der demokratischen Parteien, die als Vertreter jeweils begrenzter Interessenpolitik wahrgenommen wurden, aber die gesamtgesellschaftliche, die nationale Verantwortung nicht erfüllen würden. Wenn demokratische Parteien gesamtgesellschaftliche Erwartungen nicht erfüllen, wenn ihnen die Integration auf der Basis der für die große Mehrheit maßgeblichen Wertorientierungen nicht gelingt, liegt darin – zumal in schweren Krisen – ein Einfallstor für extremistische Demagogie.

 

Niedergang dominierender Parteien in Europa

 

Nach 1945 konnten CDU und CSU als christlich-wertorientierte konfessionelle, regionale und soziale Sammlungsparteien zu den erfolgreichsten demokratischen Volksparteien der neueren deutschen Geschichte werden. Ist der Rückblick auf eine große Erfolgsgeschichte bloße Nostalgie nach der seit zwanzig Jahren andauernden und bis zum Wahldebakel von 2021 fortschreitenden Erosion dieser jahrzehntelang erfolgreichen Sammlung? Handelt es sich um unwiederbringliche, also überholte Rezepte politischen Erfolgs, oder lässt sich etwas aus diesem Aufstieg und Niedergang lernen?

Die Verluste an Mitgliedern und Wählern beschränken sich nicht auf die Unionsparteien; vielmehr treffen sie in vergleichbarem Maße die SPD, die sich von einer Klassenpartei noch der 1950er-Jahre ebenfalls zur großen Volkspartei entwickelt hatte und bei zwei Bundestagswahlen, 1972 und 2021, (wenn auch äußerst knapp) vor der Union lag. Die „Willy-Wahl“ 1972 war sowohl eine Persönlichkeitswahl Willy Brandts als auch eine Programmwahl – von beidem kann für die SPD von 2021 nicht einmal bei freundlichster Betrachtung die Rede sein. Und tatsächlich haben 2021 – trotz gegenteiligen Medienechos – Union und SPD die Wahl verloren. Illusionen über das Debakel könnten den Niedergang beschleunigen. So sind in mehreren Staaten, beispielsweise in Frankreich und Italien, binnen kürzester Zeit durch programmatische Fehler und mediokres Personalangebot jahrzehntelang dominierende große Parteien von der politischen Bühne verschwunden.

Als eine der Ursachen dieser Misserfolge der Unionsparteien und der SPD wurde schon bei früheren Wahlen die sich beschleunigende Auflösung der sozialkulturellen Stammwählermilieus diagnostiziert. Diese Entwicklung ist unbestreitbar, doch nicht zwangsläufig: Zwar hatten die Unionsparteien nach 1945 das optimale Sammlungskonzept, doch keineswegs automatisch Mehrheiten. Vielmehr mussten sie erst errungen werden – durch klare Zielvorgaben und starke Persönlichkeiten, die trotz scharfer politischer Auseinandersetzungen – oder auch durch sie – integrieren konnten, also die strukturelle Sammlung durch konkrete Politik personifizierten.

 

Partikularisierung der Politik

 

Die nachlassende Attraktivität der Union wird unter anderem mit der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft erklärt und deshalb sogar ein Verzicht auf das Adjektiv „christlich“ diskutiert. Sicher haben es Parteien einer im Prinzip christlichen Wertorientierung in einer Gesellschaft schwerer, in der nur noch knapp die Hälfte der Bevölkerung einer Kirche angehört. Doch auch dieses Argument gilt nur begrenzt: In den neuen Bundesländern haben trotz der zur DDR-Zeit erheblich gesunkenen Zahl von Kirchenmitgliedern überzeugende Persönlichkeiten mit klarer politischer Zielrichtung und Wertorientierung, wie die Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel, absolute Mehrheiten erreicht und, wie Wolfgang Böhmer, große Erfolge errungen. Auf eine die Gesellschaft integrierende Wertorientierung kann keinesfalls verzichtet werden, und schon Franz Josef Strauß zog in Bezug auf den Säkularisierungstrend die Schlussfolgerung: Die CSU müsse offen auch für diejenigen sein, die zwar keiner Kirche angehörten, sich aber dem christlichen Wertekanon verpflichtet fühlten.

Die Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems war bis 1983 durch zunehmende Konzentration auf schließlich drei in den Bundestag gelangende Parteien charakterisiert. Aber während CDU/CSU, SPD und FDP Parteien mit einem breiten programmatischen Spektrum waren, zog mit den Grünen 1983 eine Partei in den Bundestag ein, die sich zunächst gar nicht als Partei verstand. Sie war eine (pazifistische) Protestbewegung, die vor allem aus der Anti-Atomkraft-Bewegung hervorging (und zunächst keineswegs eine Priorität des Umweltschutzes forderte).

Eine solche, auf ein zentrales Ziel gerichtete Partikularisierung der Politik hatte es in den ersten Jahren der Bundesrepublik beispielsweise beim Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) gegeben. In der Weimarer Republik bestanden mehrere spezifische Interessengruppen im Parlament, beispielsweise die Wirtschaftspartei und die Haus- und Grundbesitzer-Partei. Und schließlich saßen vierzehn Parteien im Weimarer Reichstag, was zur Destabilisierung der Demokratie erheblich beitrug, während die Konzentration auf wenige Bundestagsfraktionen in der frühen Bundesrepublik zu den wesentlichen Ursachen ihrer schnellen Stabilisierung zählte.

In den letzten Jahrzehnten ist hingegen eine zunehmende gesellschaftliche Pluralisierung zu beobachten, die das Parteiensystem verändert hat. Heute sitzen sechs Fraktionen – darunter zwei von Parteien, die zumindest der Tendenz nach systemwidrige Ziele verfolgen – in einem quantitativ aufgeblähten Bundestag, was die Integrationsaufgabe des Parlaments erschwert.

 

Entpolitisierung des öffentlichen Diskurses

 

Auch die traditionellen demokratischen Parteien reagieren auf eine Partikularisierungs- und Individualisierungstendenz innerhalb der Gesellschaft, die durch Fernsehen und soziale Medien verstärkt wird. Fernsehmoderatoren halten selbst in Nachrichtensendungen Kurzinterviews für eine repräsentative Veranschaulichung gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Ein erheblicher Teil der Fernsehsendungen im letzten Bundestagswahlkampf führte zufällig ausgewählte Wähler vor, die den Spitzenkandidaten ihre persönlichen Probleme präsentierten.

Die entscheidenden Fragen spielten in den Wahlsendungen dagegen kaum eine Rolle, weder die ins Gigantische steigende Staatsverschuldung noch die Finanz-und Wirtschaftspolitik insgesamt noch die Außen- und Europapolitik noch die Verteidigungspolitik. Wie fatal diese langfristige Entwicklung war, zeigte sich, als der Ukraine-Krieg seit Februar 2022 die deutsche Politik aus dem Schlummer jahrzehntelanger Versäumnisse und Illusionen riss, die durch Umfragen und mediale Verstärkung ständig genährt wurden. SPD und Grüne wehrten sich vehement gegen eine realitätsorientierte Verteidigungspolitik, und die Unionsparteien gaben entweder nach oder machten mit.

Auch heute scheinen viele Bürger und Politiker nicht zu begreifen, dass eine üppige Sozialpolitik (einschließlich zukunftssicherer Renten) nur auf der Basis einer florierenden Wirtschaft und einer dauerhaft soliden Finanzpolitik möglich ist. Kurzsichtige, einzelne Sozialgruppen befriedigende kostspielige

„Geschenke“, wie sie der Bundesarbeitsminister seit Jahren in immer kürzeren Abständen verkündet, mögen die Betroffenen erfreuen, gefährden aber eine nachhaltige Sozialpolitik und liegen vor allem haushaltspolitisch nicht im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Und auch auf diesem Feld, der wirtschafts- und finanzpolitischen Kompetenz, lag ursprünglich ein Markenkern der Union (wie auch bei der FDP). Laut Umfragen traut ein Großteil der Wähler den Unionsparteien diese Kompetenz, die seit Ludwig Erhard zu ihrem Erfolg beigetragen hat, nicht mehr zu.

Die ständige Forderung nach „sozialer Gleichheit“ ist in einer liberalen Demokratie, die unterschiedliche individuelle Aufgaben, Leistungen und Entfaltungen garantieren muss, eine utopische Vorstellung. Eine prinzipiell heterogene demokratische Gesellschaft benötigt legitime Interessenvertretungen; die parlamentarische Entscheidungsbildung kann solche Gegensätze nicht aufheben, doch muss der Bundestag sie ausgleichen und integrieren. Demokratische Sammlungsparteien mit sozialer Breitenwirkung bieten dafür die besten Voraussetzungen, weil sie permanent den innerparteilichen Ausgleich erreichen müssen.

Diese zentrale Daueraufgabe kann nicht aus individualistischer, kleingruppenspezifischer Perspektive erfolgen, sondern muss von gesamtgesellschaftlichem Interesse, von nationalen Prioritäten im europäischen Kontext erfolgen. Infolgedessen müssen Parteien, wenn sie sich nicht marginalisieren wollen, in den Politikfeldern von Wirtschaft, Finanzen, Verteidigung, Außen- und Sicherheitspolitik eine wertorientierte, klare politische Position vertreten, nicht aber als Sprachrohr lautstarker Minderheiten agieren oder – statt eigene Ziele zu formulieren – den Demoskopen hinterherlaufen. Keine der großen Persönlichkeiten der Union von Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Franz Josef Strauß bis zu Helmut Kohl – um nur diese zu nennen – hat den kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht, sondern in harten Auseinandersetzungen zentrale Ziele durchgesetzt und durch Erfolge schließlich wesentlich zur Integration der Gesellschaft beigetragen. Und das gilt nicht minder für Liberale wie Walter Scheel, Otto Graf Lambsdorff und Hans-Dietrich Genscher oder die drei sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Die unverbindliche Beliebigkeit, mit der ein buchstäblich nichtssagender Kandidat ins Kanzleramt getragen wurde, dürfte kaum nachhaltig sein. Angesichts der drohenden Wirtschafts- und Finanzkrise könnte die Attraktivität der ehemals großen Parteien weiter schwinden, wenn sie die Gründe ihres Niedergangs nicht erkennen.

 

Horst Möller, geboren 1943 in Breslau, 1992 bis 2011 Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, 1996 bis 2011 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

 

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