Im Januar 2014 machte die parteinahe Zeitung Global Times, eine der zwei landesweiten englischsprachigen Tageszeitungen unter der Schirmherrschaft der Renmin Ribao, dem Organ der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), in einem Artikel erstmals öffentlich, worum es der chinesischen Regierung mit den anhaltenden Verhaftungen und Repressionen seit der Machtübernahme von Partei- und Staatschef Xi Jinping geht: Sie dienten als Signal an alle öffentlichen Kritiker, künftig zu schweigen, damit die KPCh ihren „China-Traum“ von einem politisch durchsetzungsfähigen, wohlhabenden und sozial stabilen Land unter ihrer Herrschaft weiterverfolgen kann. Die Global Times bezeichnete die Verurteilung des Bürgerrechtlers Xu Zhiyong zu vier Jahren Haft damals als „Klarstellung des Rahmens“ für den weiteren Kurs der Partei. Xu war vorgeworfen worden, eine „Menschenmenge mit dem Ziel der Störung der öffentlichen Ordnung“ organisiert zu haben.
Rund zehn Monate später wird auch der prominente Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang wegen „Aufwiegelung zum Umsturz der Staatsmacht“ angeklagt. Festgenommen hatten ihn die Behörden bereits acht Monate zuvor, nachdem er mit Aktivisten und Wissenschaftlern der Niederschlagung der Tiananmen-Protestbewegung vor damals 25 Jahren gedachte. Pu Zhiqiang, die 71-jährige Journalistin Gao Yu oder der uigurische Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti gehören zu den bekanntesten Beispielen einer großen Verhaftungswelle. Die Betroffenen wurden und werden meist zu langen Haftstrafen verurteilt.
All dies zeigt: Der von Peking propagierte „Aufbau eines sozialistischen Gesetzesstaates“ zielt nicht auf einen transparenten und parteiunabhängigen Rechtsstaat. Es geht Xi Jinping vielmehr um verbindliche Vorschriften und Gesetze für eine effizientere Verwaltung – vor allem gegen die grassierende Korruption. Das aber hat er auch nie anders angekündigt. Hoffnungen in westlichen Industrieländern auf politische Reformen, die von der Kommunistischen Partei initiiert werden, müssen vorerst aufgegeben werden.
Kontrolle über alle sozialen Organisationen
Peking strebt nach einer starken, durchsetzungsfähigen Führung – und einer „gezähmten“, nur auf Befehl aktiven Gesellschaft. Dazu will die Administration Xi Jinping alle organisierten gesellschaftlichen Aktivitäten konsequent überwachen.
Ende September 2015 hat das Zentralkomitee der KPCh ein vorläufiges Dokument zum Aufbau von Parteigruppen in sozialen Organisationen veröffentlicht. Dazu zählen unter anderem Nichtregierungsorganisationen, gemeinnützige Unternehmen und Selbstverwaltungskomitees. Durch die Einrichtung von Parteigruppen soll der Einfluss der KPCh auf die Gesellschaft gesichert und vergrößert werden. Soziale Organisationen werden aufgefordert, gezielt Parteimitglieder anzuwerben und diese in verantwortlichen Positionen einzusetzen. Die Parteigruppen sollen laut offiziellem Beschluss dann innerhalb der sozialen Organisationen etwa Parteirichtlinien umsetzen und das politische Bewusstsein aller Mitarbeiter schulen.
Dem jüngsten zweiten Gesetzentwurf zur Regulierung von Aktivitäten ausländischer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zufolge sollen diese dem Ministerium für öffentliche Sicherheit beziehungsweise deren lokalen Büros und nicht mehr dem moderateren Ministerium für Zivile Angelegenheiten unterstellt werden. Ausländische Beobachter hatten vermehrt ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Auch innerhalb Chinas regte sich offensichtlich Kritik: Lokale Regierungen wie auch chinesische Partner von ausländischen NGOs warnten vor den Konsequenzen eines Generalverdachts und dem Wegbrechen wichtiger Projekte im Bereich der sozialen Sicherung und Bildung. Nach der dritten Lesung muss das Gesetz – möglicherweise in leicht abgeänderter Form – verabschiedet werden. Bislang ist unklar, wann es soweit ist.
Soziale Medien im Visier der Zensur
Bereits seit 2013 hat Xi Jinping auch die Sozialen Medien ins Visier genommen. Im Zuge einer staatlichen Kampagne gegen „schädliche Inhalte“ – Pornografie, Gewalt, aber auch politisch unliebsame Meinungen – musste der Twitter-ähnliche Mikroblogdienst Sina Weibo innerhalb weniger Wochen 100.000 Blogkonten schließen. Die Verhaftung des aktiven Bloggers und Unternehmers Charles Xue Biqun im August 2013 bildete den Auftakt zu einer Reihe von Festnahmen, im Staatsfernsehen inszenierten öffentlichen „Geständnissen“ und Verurteilungen.
Kurze Zeit später erreichte die Kampagne auch WeChat, den Sofortnachrichtendienst des chinesischen IT-Unternehmens Tencent. Im Frühjahr 2014 wurden ohne Vorwarnung Konten gesperrt oder gelöscht. Darunter öffentliche Blogs von populären Journalisten und Kommentatoren wie Xu Danei, dessen Newsletter rund 200.000 Nutzer abonniert hatten. Auch kritischere Essayplattformen wie „Consensus Net“ waren von der Zensur betroffen. Im Frühjahr 2015 drohte die chinesische Regierung prominenten IT-Portalen wie Sina oder Netease mit der Schließung. Sofern die Unternehmen staatliche Zensurvorgaben weiterhin nur ungenügend umsetzten, drohten ihnen Geldstrafen oder sogar Lizenzentzug. Bei Netease mahnte der Arbeitsstab unter anderem „gravierende Probleme“ in der Meinungsbildung bei Nachrichten an. Sina sei auf seiner Mikroblogplattform Weibo zu nachlässig mit der Zensur illegaler Inhalte wie etwa Pornografie, Glückspiel und Gewalt, aber auch mit der Zensur von „Gerüchten, die die soziale Ordnung und Stabilität gefährden“ (oft ein Synonym für unliebsame und sensible Informationen).
„Erinnerungen an maoistische Kampagnen“
Im Juli 2015 bestrafte die chinesische Polizei 197 Blogger wegen der Verbreitung von „Gerüchten“. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua handelte es sich dabei um Informationen zum Börsencrash, zur Explosionskatastrophe in Tianjin und zur Militärparade am 3. September 2015. Die Behörden haben zudem 165 Soziale-Medien-Konten wegen der „Verursachung von Panik, Manipulation der öffentlichen Meinung und Störungen des Aktienmarktes“ geschlossen. Der Journalist Wang Xiaolu vom renommierten Wirtschaftsmagazin Caijing wurde wegen seines Berichts über die gezielte Manipulation des Aktienmarktes durch die chinesische Wertpapieraufsicht festgenommen. Am 31. August 2015 gestand er in einer über das staatliche Fernsehen verbreiteten Stellungnahme, dass seine Beiträge auf „Gerüchten“ und „rein subjektiven Aussagen“ basiert hätten. Chinas Regierung wollte offensichtlich Schuldige für die jüngsten Miseren präsentieren, um von der eigenen Verantwortung abzulenken und die öffentliche Empörung zu besänftigen. Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass die Maßnahmen in erster Linie dazu dienen, kritische Stimmen im Internet mundtot zu machen.
Ins Visier geraten sind seit Xis Amtsantritt im März 2012 nicht nur Bürgerrechtler und Anwälte, Journalisten und Blogger, sondern auch Hochschulprofessoren und Künstler. Xi will sie auf den Sozialismus neu einschwören. Gezielt versucht er, maoistische Ideen und Instrumente der ideologischen Mobilisierung wiederzubeleben. An Universitäten sollen in vielen Fachbereichen künftig keine westlichen Lehrbücher mehr eingesetzt werden.
„Die Kommunistische Partei Chinas weckt mit ihrer Rhetorik Erinnerungen an maoistische Kampagnen“: Für diese Einordnung der laufenden Ideologie-Kampagne der KPCh am 9. Februar 2015 erhielt Gong Ke, Präsident der Nankai-Universität, in Sozialen Medien starken Zuspruch. Gong berief sich auf Zitate aus der Parteizeitschrift. Dort heißt es unter anderem: „Die Hochschullehrer-Truppe gründlich säubern, reinigen und sanieren“. Nur wenige Stunden nach Gongs Stellungnahme hatten Nutzer von Sina Weibo die Nachricht bereits über 10.000 Mal weitergeleitet.
Freiräume in engen Grenzen
Gleichzeitig lässt Xi Jinping staatlich gelenkte soziale Teilhabe zu: Er braucht die Dynamik von privaten IT-Gründern als neuen Wachstumsmotor und karitatives Engagement, um die soziale Sicherung zu stützen. Aktiv werden soll die Bevölkerung in eng abgesteckten Räumen und zum Wohle des Staates. Soziale Dienstleistungen, wie die Betreuung von Behinderten oder die Versorgung von Waisenkindern, überlässt Peking gern engagierten Bürgern. Die chinesische Führung will NGOs auch im Kampf gegen die Verursacher von Umweltverschmutzung mit einspannen. Seit dem 1. Januar 2015 erlaubt das neue Umweltgesetz NGOs, gegen die Verursacher von Umweltverschmutzung zu klagen. Seit Inkrafttreten der Regelung haben NGOs allerdings erst ganz wenige Klagen angestrengt. Die „All-China Environmental Federation“, eine regierungseigene „NGO“ (GONGO) unter Leitung des Umweltministeriums, ist dabei am aktivsten.
Bilder von einem entspannt wirkenden Li Keqiang gingen im Mai 2015 durch die chinesische Presse. Sie zeigen den Ministerpräsidenten, wie er herzhaft lachend, umringt von jungen Start-up Unternehmern in einem Café im chinesischen Silicon Valley, dem Pekinger „Zhongguancun“, sitzt. Der Besuch war der inszenierte Höhepunkt einer politischen Woche, die im Zeichen der Förderung von Start-ups und E-Commerce stand. Die Regierung braucht die junge E-Commerce Gründerszene, wenn es um die Zukunft der chinesischen Wirtschaft geht. Sie will diese unter anderem durch erleichterte Registrierungsbedingungen und Steuervergünstigungen unterstützen. Aber auch das Engagement chinesischer E-Commerce-Unternehmen im Ausland will die Regierung in Zukunft erleichtern und fördern. Globale Flaggschiffe wie Alibaba oder Tencent sind ganz im Sinne der chinesischen Regierung. Peking sieht die Gründer als treibende Kräfte der Innovation und des sogenannten „Industrial Upgrading“ – Chinas Transformation von einem Low-Tech- zu einem High-Tech-Land. Diese schwierige wirtschaftliche Transformation und der Widerspruch zwischen verordneter Dynamik und rigoroser Kontrolle bergen enormen sozialen Sprengstoff.
Protestaktionen
Jedes Jahr brechen in China rund 100.000 größere Protestaktionen aus. Streitigkeiten um Landnutzungsrechte sind dabei Ursache Nummer eins. Der Verkauf von Boden ist inzwischen eine der wichtigsten Einnahmequellen für lokale Regierungen. Diese haben die Macht, Land von Bauern im Namen des „öffentlichen Interesses“ zu beschlagnahmen und die Höhe der Entschädigungszahlungen selbst festzulegen.
Doch auch Chinas Stadtbewohner haben keine Scheu mehr vor Konflikten, um ihre Interessen gegen staatliche Eingriffe zu verteidigen. Sie protestieren gegen geplante Chemiefabriken oder Müllverbrennungsanlagen, die neben ihren neu erworbenen Eigentumswohnungen entstehen sollen. Durch Soziale Medien ist Chinas neue Mittelschicht in der Lage, innerhalb kurzer Zeit Demonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmern zu organisieren.
Eine zweite Hauptursache für Proteste sind Arbeitskonflikte. Besonders in südlichen Provinzen gelingt es der besser gebildeten zweiten Generation von Wanderarbeitern immer wieder, ihre Fabrikbosse durch Streiks unter Druck zu setzen. Selbst bestimmte Vertreter verhandeln an den staatlichen Gewerkschaften vorbei über bessere Arbeitsbedingungen. Lokale Regierungen versuchen um jeden Preis, soziale Stabilität wiederherzustellen: mal durch Schlichtung, mal durch Zahlung von Entschädigungen, mal durch den Einsatz der Polizei.
Die meisten Proteste verfolgen konkrete Interessen und keine abstrakten politischen Ziele, setzen jedoch die politische Führung unter Druck. Denn sie sind Ausdruck von Unzufriedenheit und fordern die Legitimität der KPCh heraus, die inzwischen nur noch mit Wohlstandversprechen gerechtfertigt wird. Bislang stabilisiert die Mittelschicht das Land. Sie ist mit der Regierung einen Deal eingegangen: wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten und individuelle Freiheiten (Reisefreiheit, Konsum) im Tausch gegen politisches Schweigen. Sollte Chinas Wirtschaft jedoch ernsthaft ins Wanken geraten, könnten die sozialen Proteste schon bald außer Kontrolle geraten.
Kristin Shi-Kupfer, geboren 1974 in Essen, leitet den Forschungsbereich „Gesellschaft und Medien“ am Mercator Institute for China Studies in Berlin.