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Globale Machtverschiebung

by Heinrich Brauß

Die NATO vor grundlegenden Herausforderungen

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Wenn dieser Artikel erscheint, steht das Ergebnis der amerikanischen Präsidentschaftswahl fest. Es wird weitreichende Auswirkungen auf das transatlantische Bündnis haben. Zwar sind die strategischen Vorteile dieses Bündnisses auch für die USA evident. Die Partnerschaft mit Europa bleibt eine wesentliche Grundlage für Amerikas Weltmachtrolle. Europa und Amerika sind füreinander der jeweils größte Handelspartner. Zusammen erwirtschaften sie rund die Hälfte des Weltsozialprodukts. Damit dies für die USA so bleibt, muss Europa frei und stabil bleiben, das heißt vor russischer und chinesischer Kontrolle sicher. Zudem bildet Europa, vor allem Deutschland, die logistische Basis für amerikanische Einsätze im Nahen und Mittleren Osten.

Aber die Amerikaner werden nicht mehr der „gütige Hegemon“ bleiben, der einen Großteil der Verteidigungsvorsorge für Europa übernimmt. Parteiübergreifend sehen sie in China die politische, technologische und militärische Hauptbedrohung. Und parteiübergreifend sind sie überzeugt, dass die Europäer einen viel größeren Beitrag für ihre eigene und die gemeinsame Sicherheit leisten müssen.

2019 beging die NATO ihren siebzigsten Geburtstag. Sie bildet den Rahmen für die einzigartige Sicherheitspartnerschaft zwischen Nordamerika und Europa, den beiden großen Zentren westlicher Demokratien, und gilt als das erfolgreichste Bündnis der Geschichte, weil sie in unterschiedlichen sicherheitspolitischen Epochen ihre strategische Funktion erfüllte: Schutz des freien Westens im Kalten Krieg; zentraler Beitrag zu einem geeinten und freien Europa danach – durch Aufnahme neuer Mitglieder und Kooperation mit neuen Partnern im Osten; Transformation von einer Verteidigungsallianz zu einem Akteur im internationalen Krisenmanagement; und seit der Aggression Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2014 Revitalisierung ihrer Kernfunktionen Abschreckung und Verteidigung. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht von der größten Stärkung der Verteidigungsfähigkeit in einer Generation.

Zugleich zeigt das Bündnis seinen Nutzen in der Bewältigung humanitärer Krisen. Die zivilen Maßnahmen zum Kampf gegen die COVID-19-Pandemie hat die NATO mit weltweitem Transport von medizinischem Personal, hunderten Tonnen medizinischer Ausrüstung und fast einhundert Feldlazaretten unterstützt. Die planerische und logistische Vorsorge für künftige Pandemien ist inzwischen Teil des Resilienz-Konzepts der NATO.

Die NATO steht also besser und stärker da als noch vor wenigen Jahren. Dennoch muss sie sich nicht nur weiter äußeren Herausforderungen stellen, sondern auch Gefahren im Innern bewältigen.

 

Brüchige Einheit

 

In den vergangenen vier Jahren hat der Zusammenhalt der NATO durch derbe öffentliche Kritik des amerikanischen Präsidenten an Verbündeten gelitten. Der französische Präsident Emmanuel Macron nannte die NATO aufgrund der Alleingänge der USA und der Türkei in Syrien „hirntot“. Europa müsse daher strategisch autonom werden. Dazu gehöre ein neuer strategischer Dialog mit Russland, um die Ostflanke zu befrieden. Mit diesen Einlassungen hat Macron viele Europäer gegen sich aufgebracht, die Russland als größte Bedrohung und nicht als Partner sehen.

Die südlichen Alliierten identifizieren dagegen Terrorismus und Migration aus Nordafrika und dem Nahen Osten als die größte Gefahr. Die NATO unterstützt daher Partner in Krisenregionen (Irak, Jordanien, Tunesien, Afghanistan) beim Aufbau eigener Sicherheitsstrukturen. Frankreich, Italien und die Türkei verfolgen jedoch unterschiedliche Interessen im Libyenkonflikt. Und wegen des Machtstrebens des türkischen Präsidenten im Mittelmeerraum und den darauf folgenden Drohgebärden Griechenlands und Frankreichs standen NATO-Verbündete an der Schwelle zu einem Waffengang – eine schwere Belastung für das Bündnis. Denn entscheidend für dessen Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit ist seine politische Geschlossenheit. Führung durch Amerika tut not.

Um die NATO zu neuer Einigkeit zu führen, hat ihr Generalsekretär einen internen Reflexionsprozess darüber angestrengt, welche Rolle die NATO im Jahr 2030 erfüllen solle und was jetzt dafür zu tun sei. Er hat drei Maximen vorgegeben: Das Bündnis muss militärisch stark bleiben; seine Funktion als politisches Konsultationsforum gestärkt werden; und es muss sich aktiver globalen Entwicklungen widmen, die für seine künftigen Aufgaben relevant sind.

Was heißt dies konkret? Trotz der Pandemie sind die bisherigen Risiken nicht verschwunden, im Gegenteil: neue sind offenbar geworden. Die NATO bleibt mit einem aggressiven Russland im Osten und den Gefahren wachsender Instabilität im Süden konfrontiert. Zugleich muss sie die Folgen von Chinas Aufstieg zur Weltmacht und der strategischen Neuorientierung der USA verkraften.

 

Russland – bedrohlicher Nachbar

 

Mit dem Einfall in die Ukraine hat die russische Führung demonstriert, dass sie militärische Gewalt gegen Nachbarn nicht scheut, wenn es ihre Interessen gebieten und die Lage günstig ist. Russland will Großmacht sein und daher Vormacht in Europa werden. Die USA sollen verdrängt, NATO und Europäische Union unterminiert sowie Nachbarn destabilisiert und kontrolliert werden. Die Strategie der „Hybriden Kriegsführung“ setzt auf systematische Desinformation, Cyberattacken und subversive Aktionen, schließt jedoch militärische Drohung, auch mit nuklearen Waffen, ein.

Unter Bruch des INF-Vertrags (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) von 1987 hat Moskau neue, landgestützte nuklearfähige Mittelstreckenwaffen aufgestellt. Erstmals seit fast dreißig Jahren können weite Teile Europas wieder von Russland aus atomar bedroht werden. Im Baltikum, einer exponierten Region der NATO, verfügt Russland über eine große militärische Überlegenheit. In einer Krise könnte Moskau versuchen, mit einem raschen regionalen Angriff dort vollendete Tatsachen zu schaffen, untermauert durch nukleare Drohung gegen europäische Hauptstädte und gegen kritische Infrastrukturen. Der Kreml könnte darauf setzen, dass die NATO dann aus Furcht vor nuklearer Eskalation aufgibt. Alle zwei Jahre wird im Großmanöver ZA​​​​​​​PAD („Westen“) der regionale Krieg gegen die NATO geübt, auch mit Atomwaffen. Die Strategie der NATO ist daher darauf ausgerichtet, Russland die Option eines begrenzten Angriffs zu verwehren und eine Drohung mit Mittelstreckenwaffen zu entkräften. Dazu hat die Allianz ein umfangreiches Programm entwickelt. Es stellt vor allem auf die Erhöhung militärischer Präsenz im Baltikum, Verstärkung bedrohter Verbündeter, Schutz vor Cyberangriffen, Flug- und Raketenabwehr und nukleare Abschreckung ab. Die Glaubwürdigkeit der Strategie hängt vor allem von der Fähigkeit ab, Alliierte in verschiedenen Regionen Europas – von Nordnorwegen bis zum Schwarzen Meer – rasch mit Land-, Seeund Luftstreitkräften unterstützen zu können. Der Aufbau dieser Fähigkeiten hat begonnen, ist aber noch längst nicht vollendet.

 

Neue Weltmacht China

 

Chinas Aufstieg zur Weltmacht stellt die NATO vor völlig neue Herausforderungen. Seine Belt and Road-Strategie (Projekt „Neue Seidenstraße“) soll zu einem weltweiten, kontrollierten Handelsverbund führen, der China auch Zugang zu kritischer Infrastruktur und Einfluss auf Regierungen und internationale Organisationen verschafft. China verfügt bereits über den weltweit zweitgrößten Verteidigungshaushalt und investiert massiv in die Modernisierung seiner Streitkräfte. Es strebt die Kontrolle über Ostasien an und fordert die USA als Schutzmacht der dortigen Demokratien heraus.

Die NATO wird für die Sicherheit der Euro-Atlantischen Region verantwortlich bleiben. Aber sie muss sich den Folgen der globalen Machtverschiebung für sie selbst stellen. Das strategische Gravitationszentrum der USA wandert von Europa und seiner Peripherie in den asiatisch-pazifischen Raum. Zugleich konfrontieren die beiden Autokratien, China und Russland, den gesamten demokratischen Westen mit einem doppelten strategischen Risiko: in Europa und Asien, denn sie haben ihre politische, wirtschaftliche und militärische Kooperation verstärkt. Beide sprechen von „strategischer Partnerschaft“. Kommt es zu einem militärischen Konflikt zwischen den USA und China, könnte sich Moskau zu einem aggressiven Vorgehen in Europa entschließen.

Die militärische Präsenz Amerikas in Europa und seine erweiterte nukleare Abschreckung zugunsten Europas bleiben als Gegengewicht zu dem wachsenden Potenzial Russlands daher unentbehrlich. Jedoch werden Umfang und Fähigkeiten der US-Streitkräfte in Europa begrenzt bleiben. Künftig werden die Europäer weit mehr für glaubwürdige Abschreckung und Verteidigung in Europa tun müssen, für Krisenbewältigung im Süden und für die Unterstützung der Amerikaner darin, die globalen Seewege zu schützen, die gerade für Europas Wirtschaft von zentraler Bedeutung sind. Die USA werden nicht nur auf fair burden sharing, also die faire Verteilung der Lasten, bestehen, sondern burden shifting1, also eine Verlagerung der Lasten, verlangen. Dies wird auch die vielfach geforderte Stärkung des „Europäischen Pfeilers“ der transatlantischen Partnerschaft ausmachen und die Grundlage für ein neues transatlantic bargain („Transatlantische Abmachung“) sowie ein neues Strategisches Konzept der NATO sein.

 „China“ steht nun auf der Agenda der NATO. Dazu sollte sie den Dialog mit ihren indo-pazifischen Partnern Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan vertiefen und einen Meinungsaustausch mit Indien beginnen. Diese Staaten sind auch wichtige Handelspartner Europas. Zu hoffen ist, dass der begonnene Dialog in der NATO über China zu einem abgestimmten Vorgehen führt, schließlich auch zwischen den USA und der Europäischen Union.

 

NATO und die Europäische Union

 

Die neue globale Konstellation muss dazu führen, dass NATO und Europäische Union ihre Zusammenarbeit weiter steigern. Sie hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht und umfasst heute mehr als siebzig Projekte. Aber die neue Lage verlangt einen neuen, innovativen Schritt. Die Europäer in NATO und Europäischer Union2 sollten auf der Basis einer gemeinsamen strategischen Analyse institutionenübergreifend diejenigen Streitkräfte und Fähigkeiten nach Quantität und Qualität definieren und entwickeln, die sie gemeinsam für das gesamte Aufgabenspektrum benötigen, um die amerikanischen Streitkräfte wirkungsvoll zu ergänzen – von kollektiver Verteidigung bis Krisenbewältigung.

Auch die Europäische Union sollte – mit ihren Instrumenten und Ressourcen und abgestimmt mit der NATO – Fähigkeiten entwickeln, die nicht nur für zivil-militärisches Krisenmanagement, sondern auch für Verteidigungsoperationen taugen – auch wenn die Verantwortung für Abschreckung und Verteidigung bei der NATO bleibt. Mehr und bessere Fähigkeiten der Europäer führen allerdings auch zu größerer Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Das Schaffen der Bedingungen zur schnellen Verlegung von Streitkräften quer durch Europa über nationale Grenzen hinweg und der Ausbau der erforderlichen Verkehrsinfrastruktur haben dabei höchste Priorität.

Deutschland kommt bei alledem eine Vorreiterrolle zu, zumindest aus Sicht seiner amerikanischen und europäischen Verbündeten. Es hat wie nur wenige andere Partner ein elementares Interesse daran, dass Europa geeint und stabil bleibt und die Amerikaner weiterhin in Europa militärisch präsent sind. Berlin sollte mit aller Kraft die „NATO 2030“ mitgestalten. Es sollte ebenso alles daransetzen, mit Amerika einen gemeinsamen Ansatz für den Umgang mit China zu entwickeln. Mitgestalten kann aber nur, wer sich substanziell einbringt. Die Herstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr muss dringend beschleunigt werden und dafür der Verteidigungshaushalt stetig real signifikant steigen.

 

Heinrich Brauß, geboren 1953 in Heidelberg, Generalleutnant a. D., 2013 bis 2018 Beigeordneter NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung, Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

 

1 Diesen Gedanken verdanke ich einem Hinweis von Thomas Kleine-Brockhoff, dem Leiter des Berliner Büros des „German Marshall Fund“.

2 21 Staaten sind Mitglieder in beiden Organisationen, fünf EU-Mitglieder sind enge NATO-Partner.

 

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