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Frankreichs prägende Ausstrahlung droht abzustumpfen

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Frankreich hat der Welt viel gegeben: die Aufklärung, seine Lebensart, den Reichtum der Sprache und manches mehr. Stets gab man gern. Die Soldaten der Revolution, die Europa ab 1792 überrannten, kamen (anfangs) nicht als Eroberer, sondern als Befreier. Sie brachten im Tornister die dreieinigen Ideen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit, der ganzen Menschheit zum Geschenk. Wertetransfer als nationale Berufung: Lange war das französische Zivilisationsmodell ein Exportschlager. Es beeinflusste, was wir den „Westen“ nennen, in hohem Maße. Zugleich ruhte auf ihm das Selbstbewusstsein der Grande Nation. Dieses Selbstbewusstsein muss sich heute schwerer Attacken erwehren.

Die Geber kommen nicht mehr an. Das gilt für die Wirtschaft: Französische Industrieprodukte finden immer weniger Käufer im Ausland, weil sie zu teuer sind. Das gilt für die Kultur: Es verstört, dass die Muslime, die ins Land kommen, Brot und Salz der republikanischen Werte nicht dankbarer annehmen. Zugleich wächst die Sorge, zivilisatorisch zum Übernahmekandidaten zu werden. Wie der Holzwurm im Gebälk frisst sich das Englische auf dem Umweg über die Kommunikations- und Unterhaltungselektronik in die Sprache ein, den Schutzbemühungen der Académie zum Trotz. Reiche Chinesen kaufen Schlösser und erwerben Beteiligungen an Unternehmen der Luxusgüterbranche. Traditionsreiche Weingüter wechseln in ausländischen Besitz. Der Prix de l’Arc de Triomphe, der Welt glanzvollstes Galoppsportereignis, das jeweils am ersten Oktobersonntag in Paris-Longchamp stattfindet, wird schon lange vom Emirat Katar ausgetragen. Und wenn die führenden Klubs der ersten französischen Fußball-Liga, Paris Saint-Germain und der AS Monaco, neuerdings aufeinandertreffen, kämpfen arabische Petrodollars gegen russische Rubel.

 

Weltmeister der Unzufriedenheit

Auf diese Herausforderung muss man erst eine Antwort finden. Multi-Kulti scheidet im Land der einen und unteilbaren Nation als tragfähiges Angebot aus. Die Franzosen begegnen der kulturellen Invasion entweder gereizt oder mit Selbstzweifeln. Untersuchungen zufolge sind sie momentan Weltmeister der Unzufriedenheit. War man zu lange auf sich bezogen? Hat man die Fremdsprachen vernachlässigt? Kann es gut sein, wenn die Franzosen immer nur Urlaub innerhalb ihres Hexagone machen? Mon dieu, Frankreich ist doch das schönste Land der Welt! Wie überall löst die Globalisierung in Frankreich Abwehrreflexe aus, aber nirgendwo stößt sie auf so große Ängste wie hier. Die Mondialisation ist für einen Großteil der Franzosen Schreckgespenst und Sündenbock in einem.

Seit Mai 2012 heißt der Hausherr im Élysée-Palast François Hollande. Der siebte Präsident der Fünften Republik ist ein gebildeter Mann, geübt auf dem Hochseil des Parteigeschäfts und jeder Übertreibung abgeneigt. In guten Zeiten wäre der Absolvent der Elitehochschule ENA womöglich ein Staatschef, wie ihn die Franzosen mögen. Aber die Zeiten sind nicht so. Mit etwas mehr als zwanzig Prozent Zustimmung, die ihm geblieben sind, ist Hollande nach anderthalbjähriger Amtszeit unbeliebter als jeder seiner Vorgänger.

Dieser Absturz ist nicht einfach zu erklären. Die meisten Probleme, mit denen sich der Staatschef und sein Ministerpräsident, Jean-Marc Ayrault, herumschlagen müssen, sind geerbt. Die Pannenanfälligkeit der Regierung hat Normalmaß. Wenn der Start dennoch gründlich misslang, hatte das vor allem einen Grund: Der Präsident lief in eine Falle, die er sich als Kandidat selbst gestellt hatte. Hollandes Wahlkampf erschöpfte sich in der Abgrenzung gegen den Vorgänger Nicolas Sarkozy. Im Klartext bedeutete dies, dass die Schulden- und Wirtschaftskrise, deren Bekämpfung Sarkozy (nach deutschem Muster) zum Hauptthema seiner späten Amtszeit gemacht hatte, schlichtweg geleugnet wurde. Bestimmte Reizwörter wie Sparen oder Sozialreform landeten auf dem Index.

 

Kein „französischer Schröder“

Damit verpasste Hollande das Momentum. Zwar ist der Regierung inzwischen klar, dass sich die Wirtschafts- und Schuldenkrise, die das Land im Zangengriff hält, nicht durch Wortakrobatik aus der Welt schaffen lässt. Aber um den Frontalzusammenstoß mit der Wahlkampfpropaganda zu vermeiden, setzte man mit den Aufräumarbeiten nur spät und verschämt an. Der Versuch, ein Krisenbewusstsein zu erzeugen, ohne das es eine neue Aufbruchstimmung nicht geben kann, wurde gar nicht erst unternommen.

Als Reformpräsident setzte sich Hollande damit von vornherein außer Kraft. Ob er die Rolle in Erwägung gezogen hat, muss man bezweifeln. Zum „französischen Schröder“ fehlt ihm die Neigung. Hollande ist keine Kämpfernatur. Dass er Mitterands Vorbild folgen könnte, ist ebenfalls schwer vorstellbar. Mitterand, der nach seinem überraschenden Wahlsieg 1981 erst einmal die Banken verstaatlichte und die Sozialisten Europas (mit Ausnahme Helmut Schmidts) in Verzückung versetzte, nahm abrupt die realpolitische Kurve, als er bemerkte, dass der Franc von einer Ohnmacht in die nächste fiel. Für derart radikale Brüche fehlt es Hollande an Machtwillen und wohl auch an Kühnheit. Dabei verfügt der Präsident über die Mittel, das Land kraftvoll zu regieren. Seine Sozialisten haben urbi et orbi die Mehrheit, in der Nationalversammlung, im Senat, in den Regionen und in den meisten Großstädten. Machttechnisch gesehen, könnte er also „durchregieren“. Tatsächlich machte er bisher nur ein einziges Mal von seiner Mehrheit rigoros Gebrauch. Das Durchboxen der „Homo-Ehe“ trieb über Monate Hunderttausende auf die Straße und bescherte Frankreich einen gesellschaftlichen Konflikt, der noch lange spürbar sein wird.

An Mut zum Risiko lässt es Hollande sonst fehlen. Die ersten Schritte zur Haushaltskonsolidierung waren unzulänglich und auf den Beifall des eigenen Anhangs berechnet. Wo Sarkozy versucht hatte, der Wirtschaft etwas mehr Sauerstoff zu geben (wie bei den steuerfreien Überstunden), ließ er zurückrudern. Die unter seinem Vorgänger eingeleitete Verkleinerung des Beamtenapparats wurde gestoppt, die Neueinstellung etlicher Tausend Staatsbediensteter in den Bereichen Bildung und innere Sicherheit angekündigt. Großverdiener wurden mit einer „Reichensteuer“ überzogen. Die Publicity, die die Regierung dadurch gewann, war wohlfeil.

 

Verräterischer Klang der „Steuerpause“

Die Reichen werden die Blessur überstehen. Schwerer zu tragen hat der Mittelstand. Er ist von der Steuer- und Abgabenpolitik der Regierung am stärksten betroffen. Selbst im Regierungslager werden inzwischen Stimmen laut, die fragen, ob es klug sei, die „Henne mit den goldenen Eiern zu töten“. Davon aufgeschreckt, haben Hollande und Ayrault gelobt, jetzt eine „Steuerpause“ einzulegen. Ein Atemholen, um dann erneut zuzulangen? Das Versprechen beruhigt niemanden. Es hat einen verräterischen Klang.

Grob gesprochen, hat die Regierung Konsolidierung bisher nur als Kassemachen betrieben. Nennenswerte Ausgabenkürzungen wurden weitgehend vermieden. Dafür hätte es Einschnitte bei Sozialleistungen geben müssen, die man sich aus Angst vor dem Zorn der Stammwählerschaft nicht zutraut. Die Heilige Kuh der 35-Stunden-Woche wird nicht angetastet. Die Rentenreform, die nach der Sommerpause verabschiedet wurde, verdient den Namen nicht. Mit der Verlängerung der Beitragszeiten wird erst 2020 begonnen. Die Privilegierung von Beamten und Angehörigen von Staatsbetrieben, die früher aus dem Beruf ausscheiden können und deutlich mehr Rente beziehen als Beschäftigte des Privatsektors, wird fortgesetzt. Die Methode Steuererhöhung ist aber irgendwann erschöpft. Mit 56,6 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt ist Frankreichs Staatsquote schon jetzt die zweithöchste in Europa (nach Dänemark). Wirtschaftsminister Pierre Moscovici musste kürzlich einräumen, dass Frankreichs Neuverschuldung nicht vor 2015 mit dem Maastricht-Vertrag konform sein werde. Um das zu erreichen, sollen die Ausgaben im nächsten Jahr um fünfzehn Milliarden Euro gesenkt werden, davon zwölf Milliarden durch Einsparungen. Wo gespart werden soll, bleibt vorerst im Dunkeln. Die Zurückhaltung hat Gründe: 2014 haben die Wähler gleich zweimal das Wort.

 

Das dicke Ende kommt noch

Vor 500 Jahren schrieb Machiavelli seinem Fürsten ins Stammbuch, es sei besser, notwendige Grausamkeiten am Anfang der Regierungszeit zu verüben. Diesen Rat hat François Hollande in den Wind geschlagen. Gefangen in seiner Wahlkampf-Falle, hat er sich bei einem Minimum „böser Taten“ ein Maximum an Unzufriedenheit eingehandelt. Die Wähler sind nicht dumm. Sie wissen, dass das dicke Ende noch kommt.

Mit Blick auf die Kommunalwahlen im März 2014 stellt sich die Frage, wie die Sozialisten auf den erwarteten Denkzettel reagieren werden, mit einer echten reformorientierten Wende oder mit dem Rückfall in das prêt-à-penser sozialistischer Dogmatik. Hollande versucht, die Fallhöhe dadurch zu vermindern, dass er konfliktverheißende Themen vertagt und den anschwellenden Flügelkämpfen in den eigenen Reihen zuschaut. Equilibrist, der er ist, hält er lieber notdürftig zusammen, als Machtworte zu sprechen. Couragiert tritt er nur in der Außenpolitik auf, ein beliebtes Mittel, um von den häuslichen Schwierigkeiten abzulenken. Die Intervention in Mali fand in der Öffentlichkeit breite Zustimmung, die sehr forsch vorgetragene Absicht zur Intervention in Syrien weniger.

Das außenpolitische Muskelspiel hat Hollande nicht aus seinem Sympathietief herausgebracht. Ob seine offenkundige Ratlosigkeit der zerstrittenen bürgerlichen Oppositionspartei Union pour un Mouvement Populaire (UMP) Flügel verleihen wird, ist ungewiss. Einiges deutet darauf hin, dass der rechtsextreme Front National (FN) Hauptnutznießer eines Absturzes der Sozialisten sein könnte. Der FN mit Marine Le Pen an der Spitze bietet sich als Sammelbecken für Protestwähler an, ebenso wie der Front de Gauche, die Linke der Linken, der mit Jean-Luc Mélenchon über einen demagogischen Sprecher verfügt. Beide richten ihr besonderes Augenmerk auf die Europawahlen, die zweite Kraftprobe des Jahres 2014; beide Bewegungen sind europafeindlich; beide reden den Franzosen ein, sie könnten aus der Mondialisation aussteigen.

Wenn die Franzosen am 22. September hätten wählen können, wäre der Sieg Angela Merkels noch deutlicher ausgefallen. Die deutsche Kanzlerin ist jenseits des Rheins außerordentlich angesehen. Bei einer Umfrage kurz vor dem Wahltag gaben 56 Prozent der Befragten an, sie würden, wenn sie könnten, für Angela Merkel stimmen (gegen 25 Prozent für Peer Steinbrück). Welche Aussage auch immer dahintersteht: Die Kanzlerin scheint in den Augen vieler Franzosen das zu haben, was diese an ihrem Präsidenten vermissen. „Sie weiß sich Autorität zu verschaffen“, bezeichneten 87 Prozent als Haupteigenschaft Merkels.

 

An Merkel hat er sich gewöhnt

François Hollande kann mit dem Ausgang der Bundestagswahl leben. Als Schröder-Mann war ihm Steinbrück suspekt, an Merkel hat er sich gewöhnt. Ein Gespann sind die beiden freilich nicht geworden. Man konnte es an den Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Élysée-Verträge ablesen. Das offizielle Programm wurde nüchtern abgespult. Bewegend war lediglich der Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck im von SS-Einheiten geschundenen Oradour. Bei dieser Gelegenheit wurde offenbar, dass in den deutsch-französischen Beziehungen auch heute noch mehr steckt als Routine und Realpolitik.

Nicht um den Kern des deutsch-französischen Verhältnisses muss man sich in Berlin Sorge machen. Die Deutschen sind in Frankreich beliebt oder besser: ob ihrer Leistungsfähigkeit geachtet. Die augenblickliche wirtschaftliche Überlegenheit des Nachbarn nimmt man umso williger hin, soweit und solange sie ohne Arroganz auskommt. Auch deshalb ist Angela Merkel eine Kanzlerin ganz nach französischem Geschmack. Umgekehrt liegt ein starkes, selbstbewusstes Frankreich in deutschem Interesse. Frankreich ist immer noch die zweitgrößte Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent. Nur zusammen mit Frankreich kann die Europapolitik wieder ein Niveau erreichen, welches über das eines sich selbst beschäftigenden Reparaturbetriebs hinauskommt. Die Aussichten stehen nicht schlecht. Frankreich hat schon viele Rückschläge überwunden. Sonst wäre es keine Grande Nation.

 

Günter Müchler, geboren 1946 in Wuppertal, Historiker und Politikwissenschaftler, von 2004 bis 2011 Programmdirektor von Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und DRadio Wissen. Er lebt heute in Garches (Frankreich).

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