Hallo Algorithmus!
Mutmaßungen über ein Phantom
Es scheint also ein starkes Bedürfnis zu geben, seine Komplexität zu vereinfachen, indem man ihn zur Figur macht, psychologisiert. So lässt sich der Algorithmus auch leicht als Sozialfigur beschreiben. Sozialfiguren sind ein „Werkzeug, um denjenigen Fragen nachzugehen, die der Gegenwartsgesellschaft unter den Nägeln brennen“.[9] Mit Sozialfiguren verhandelt eine Gesellschaft den Zeitgeist; oft artikulieren sich darin „krisenhafte Erfahrungen“[10], auf die es noch keine endgültigen Antworten gibt. Der Algorithmus verkörpert als Sozialfigur zunächst die charakteristische Machtform der digitalen Gesellschaft, die nicht autoritär, sondern distributiv und affektiv wirkt. Die Sozialfigur des Algorithmus steht für die Verinnerlichung von Reaktions- und Bewertungssystemen und für die Rolle von Plattformen als strukturierende Instanzen sozialer Beziehungen. In der Rede vom Algorithmus verdichtet sich das Verhältnis der User zu Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit, Selbstoptimierung, aber auch zu Gerechtigkeit und Anerkennung. Der Algorithmus ist zugleich ein Gegner (Zensur, Einschränkung) und ein Verbündeter (Viralität, demokratisierte Kommunikation). Diese Ambivalenz macht ihn als Sozialfigur besonders interessant – und erklärt, warum er in digitalen Alltagsdiskursen so oft auftaucht.
Neue Medienmündigkeit als demokratische Aufgabe
Gerade weil der Algorithmus so diffus bleibt, eignet er sich ideal als Projektionsfläche für die Widersprüche einer digitalisierten Gesellschaft: Er wird personalisiert, verspottet, verklärt – und zugleich gefürchtet. Als Sozialfigur erlaubt er es, über neue Formen von Macht, Ungleichheit und Kontrolle zu sprechen, ohne diese immer schon exakt benennen zu müssen. Die Ironie, mit der sie adressiert werden, kann entlastend wirken – aber auch entpolitisierend. Deshalb ist es notwendig, den Algorithmus nicht nur als Phantom zu behandeln, sondern als reale Infrastruktur zu verstehen, die mitentscheidet, wer gesehen, gehört und anerkannt wird. Denn die Entwicklung einer Medienmündigkeit in Hinblick auf Algorithmen erfordert nicht nur die kritisch-ironische Auseinandersetzung mit den Systemen, sondern auch politische Anstrengungen für deren demokratische Kontrolle. Oder, wie eine TikTokerin es ausdrückt: „The algorithm and I are in a fight. Okay? Like, we’re just … in a fight.“ In diesem Kampf – spielerisch, frustriert, jedoch nicht gleichgültig – artikuliert sich der Wunsch nach Handlungsfähigkeit in einer von Algorithmen geprägten Welt. Es ist ein ganz alltäglicher Kampf – der aber symptomatisch für die politische, gesellschaftliche und kulturelle Gegenwart ist.
Annekathrin Kohout, geboren 1989 in Gera, Kultur- und Medienwissenschaftlerin, freie Autorin zu Popkultur, Internetphänomenen und Kunst, seit 2015 Betreiberin des Blogs „Sofrischsogut.com“, Mitherausgeberin und Redakteurin der Zeitschrift „POP. Kultur und Kritik“ sowie der Buchreihe „Digitale Bildkulturen“.
[1] Adam Clair: „Rule by Nobody. Algorithms update bureaucracy’s long-standing strategy for evasion“, in: Real Life, 21.02.2017, https://reallifemag.com/rule-by-nobody/ [letzter Zugriff: 15.07.2025].
[2] Ebd.
[3] Unter „Hook-Strategien“ versteht man Techniken, um die Aufmerksamkeit der Zielgruppe in Marketing- und Content-Formaten wie Social-Media-Beiträgen, Videos oder Blogartikeln zu gewinnen [Anmerkung der Redaktion].
[4] Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen 1985, S. 569–570.
[5] „Shadowban“, „Shadow banning“ oder Reichweitendrosselung bezeichnet das vollständige oder teilweise Blockieren eines Benutzers beziehungsweise seiner Inhalte in einer Online-Community, sodass für den Benutzer nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, dass er gesperrt oder gedrosselt wurde. Der „Shadowban“ kann meistens erst durch die Analyse der Statistiken der Social-Media-Aktivität der Follower erkannt werden [Anmerkung der Redaktion].
[6] POV steht für „Point of View“ („Sichtweise“ oder „Blickwinkel“) Bei POV-Memes wird ein Meme-Format so genutzt, dass die Betrachter die dargestellte Situation aus der Perspektive einer bestimmten Person oder eines bestimmten Objekts erleben [Anmerkung der Redaktion].
[7] Vgl. Taina Bucher: „The algorithmic imaginary: exploring the ordinary affects of Facebook algorithms“, in: Information, Communication & Society, 20. Jg., Nr. 1/2017, S. 30–44.
[8] Vgl. Claudia Amsler: „‚Gesicht für den Algorithmus‘. Das transformative Potential des algorithmic imaginary für dominante Technologiediskurse über Instagram“, in: Wiener Linguistische Gazette, Nr. 93/2023, S. 193 230.
[9] Sebastian J. Moser / Tobias Schlechtriemen: „Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose“, in: Zeitschrift für Soziologie 47. Jg., Nr. 3/2018, S. 164–180, hier S. 164.
[10] Ebd., S. 165.