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Brasiliens Vexierblick auf den Westen

Die Beiträge dieser Unterrubrik haben teils rein dokumentarischen Charakter.

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Was bedeutet der Westen im Ideal? Marktwirtschaft unter staatlicher Kontrolle, die mittlerweile Aspekte der Nachhaltigkeit beinhaltet; eine Gesellschaft, die auf dem Rechtsstaatsprinzip und der Gleichheit der Individuen vor dem Gesetz gründet; eine Republik, basierend auf Chancengleichheit durch eine qualitativ hochwertige und für alle kostenlose Schulausbildung, in der das Individuum seine vielfältigen Qualitäten und Interessen in einem ausbalancierten Spannungsverhältnis mit der Gemeinschaft ausleben kann; eine Regierung auf der Grundlage der repräsentativen Demokratie mit Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament; eine starke Reduzierung von Korruption, Gewalt und Kriminalität; eine Kultur, die Wissenschaft und Humanität als zentrale Säulen achtet; und eine Außenpolitik, die Wert auf die Bildung einer global governance für Wirtschaft, Sicherheit, Menschenrechte und Umwelt legt.

Die USA und die Europäische Union stellen aus brasilianischer Sicht nach wie vor das Zentrum der westlichen Zivilisation dar, wenn auch ein recht heterogenes Zentrum. Die europäischen Länder wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die Niederlande bilden den Kern dieses Zentrums, denn in diesen Ländern scheinen die positiven Aspekte der westlichen Zivilisation am besten entwickelt zu sein. Im Blick auf die USA bemerken die Brasilianer aber auch eine zunehmend dysfunktionale Demokratie; einen radikalisierten Individualismus, der mit den kollektiven Interessen in Konflikt steht; einem bedeutenden Teil der Gesellschaft ist die Religion wichtiger als die Wissenschaft. Außerdem steht global governance nach brasilianischer Wahrnehmung nicht im Fokus der US-amerikanischen Außenpolitik.

Seit den 1980er-Jahren hat sich Brasilien zunehmend der westlichen Welt angenähert. Die Demokratie setzte sich durch und konsolidierte sich, wenn auch mit eingeschränkter Qualität und einem hohen Korruptionsniveau; das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz machte Fortschritte, wenngleich diese Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen ist.

Von tatsächlicher Chancengleichheit ist Brasilien weit entfernt, da das öffentliche Schulsystem in der Grund- und Sekundarstufe große Mängel aufweist. Es war auch diese Ungerechtigkeit im Bildungswesen, neben der Verschwendung von Steuergeldern, die zu den weltweit wahrgenommenen Protesten im Maracanã-Stadion im Umfeld des Confederation Cup 2013 geführt hatte. Die Kriminalität hat sich in allen brasilianischen Städten sprunghaft erhöht. Die Außenpolitik ist uneindeutig: Es wird weiterhin ein stark souveränitätsorientierter Kurs gefahren; einerseits möchte Brasilien als ein großer Akteur im internationalen Szenario behandelt werden, andererseits sieht es sich als eine Art Vertreter der Schwellenländer.

 

Prowestliche Kräfte

Die Einstellungen in Bezug auf den Westen sind durch vier Richtungen gekennzeichnet: Erstens die prowestlichen Radikalen. Sie befürworten eine Außenpolitik, bei der sich Brasilien stark an den USA und Westeuropa ausrichtet. Die Vertreter dieser Richtung bewundern das US-amerikanische Kapitalismusmodell. Im Konfliktfall neigen sie dazu, sich auf die amerikanische Seite zu stellen. Insgesamt stellen sie eine Minderheit innerhalb der Eliten und in der brasilianischen Gesellschaft dar, sind aber beispielsweise im Finanzsektor stark vertreten.

Die prowestlichen Gemäßigten sehen zweitens Brasilien durch seine Geschichte, seine Kultur, seine Verfassungsprinzipien und sein Rechtssystem als Teil der westlichen Zivilisation. Die meisten ziehen den europäischen Wohlfahrtsstaat dem amerikanischen Wirtschaftsmodell vor. Die prowestlichen Gemäßigten stehen für eine Außenpolitik ein, die sich um eine (wenn auch flexible) demokratische Ausrichtung bemüht und den Schutz der Menschenrechte in den Vordergrund stellt. Sie stehen der Politik der USA kritisch gegenüber, jede Intervention in anderen Ländern sollte demnach mit Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates erfolgen. Sie erkennen aber an, dass sich das aufgrund der Blockadepositionen Chinas und Russlands als schwierig oder gar unmöglich darstellt. Die prowestlichen Gemäßigten glauben, Brasilien komme eine wichtige Rolle bei der Förderung der Demokratie auf dem amerikanischen Kontinent zu, nicht zuletzt auf dem Wege einer Annäherung Mexikos, der USA, Kanadas und Brasiliens. Sie unterstützen die Organisation Amerikanischer Staaten und stehen dem kubanischen Kommunismus und dem Bolivarismus in der Nachfolge von Hugo Chávez kritisch gegenüber. Sie machen etwa die Hälfte der Gesellschaft und einen größeren Teil der Wirtschaftseliten aus. Die Außenpolitik der früheren Regierung Fernando Henrique Cardoso (1995 bis 2002) vertrat diese Richtung.

 

Unabhängige und antiwestliche Strömungen

Drittens befürworten die „unabhängigen“ Anhänger der brasilianischen Souveränität ein Wirtschaftsmodell mit starker staatlicher Lenkung. Sie treten dafür ein, dass sich die brasilianische Außenpolitik vom Westen, vor allem von den USA, distanziert. Sie positionieren Brasilien im Verbund mit Ländern der südlichen Halbkugel und sind der Meinung, dass es notwendig sei, die Macht des Westens zu begrenzen. Vor diesem Hintergrund versuchen sie, die Beziehungen zwischen Brasilien und Staaten wie China, Indien, Türkei, Indonesien und Südafrika zu stärken und sehen in lockeren Allianzen – wie BRICS und G77 – ein probates Mittel, um ein Gegengewicht zu westlicher Macht zu schaffen. Ginge es nach den Vertretern dieser Strömung, dann sollte Brasilien die Länder Südamerikas anführen, um US-amerikanische und mexikanische Einflüsse zurückzudrängen. Die Unabhängigen lehnen eine internationale Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie ab. Sie machen etwa die Hälfte der Gesellschaft, einen wichtigen Teil der diplomatischen, militärischen, politischen und kulturellen Eliten sowie einen kleineren Teil der Wirtschaftseliten aus. Die Außenpolitik der Regierungen Lula da Silva (2003 bis 2010) und Dilma Rousseff (2011 bis 2013) wurde von den unabhängigen Befürwortern der Souveränität definiert.

Die kleine Minderheit der antiwestlich eingestellten Befürworter der Souveränität gehören der gesellschaftlichen Elite an und setzen sich viertens für Staatskapitalismus und die Einschränkung der Pressefreiheit ein. Diese Gruppe glaubt, dass die Interessen Brasiliens und des Westens gegensätzlich seien und macht sich für eine brasilianische Außenpolitik stark, die Gegenallianzen bildet, so mit China und Russland. Nach dieser antiwestlichen Vision soll sich Südamerika unter brasilianischer Führung als Gegengewicht zu den USA und Europa etablieren. Selbstredend unterstützen ihre Anhänger den kubanischen Kommunismus und die bolivarischen Regime vehement.

 

Eduardo Viola, geboren 1949 in Buenos Aires (Argentinien), Professor für Internationale Beziehungen, Universität Brasilia (Brasilien), und Wissenschaftlicher Leiter am Brazilian Council for Science and Technology Development.

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