Die Rede von Professoren über den miserablen Bildungsstand ihrer Studienanfänger ist nicht gänzlich neu (übrigens genauso wenig die der Gymnasiallehrer über die Kenntnisse von Grundschülern oder die der Grundschullehrer über die Erziehung ihrer Schüler im Elternhaus). Dies wird gern als Teil des obligaten Statusdiskurses gesehen, mit dem sich die eine Gruppe gegenüber den rivalisierenden Interessen anderer abzugrenzen versucht, beziehungsweise als Form des Generationskonflikts, innerhalb dessen schon in der Antike die Älteren den Jüngeren die Abkehr von den traditionellen Werten vorgeworfen haben. Aber es wäre fatal, sich durch solche argumentativen Sedativa den Blick auf den sozialen und medialen Wandel einer Gegenwart zu verstellen, in der das gesellschaftliche Einvernehmen über die überragende Relevanz der Bildung für den Wirtschaftsstandort Deutschland mehr und mehr zum Lippenbekenntnis verkommt. Diese Entwicklung wurde schon lange vorhergesehen: Bereits in den 1960er-Jahren hat Georg Picht in einer Reihe von Zeitungsartikeln prophezeit, Deutschland schlittere aufgrund des politischen und gesellschaftlichen Desinteresses an der Bildung, der geringen Durchlässigkeit seines Bildungssystems und des Stadt-Land-Gefälles bei der Versorgung mit weiterführenden Schulen in eine Bildungskatastrophe.
Heute scheint man bereits einen Schritt weiter zu sein. Aber auch wenn der Staat das Bildungssystem massiv ausgebaut hat, liegt man noch immer unter dem OECD-Durchschnitt, ohne dass dies jemanden sonderlich kümmert: An die Klagen der Lehrerund Professorenverbände hat man sich gewöhnt, an die der Handwerker, Unternehmer oder öffentlichen Arbeitgeber über das nachlassende Bildungsniveau von Azubis, Abiturienten und Studienabsolventen auch. Denn solange Deutschland immer noch eine der stärksten Wirtschaftsnationen der Welt ist, scheint die Bildungskatastrophe nur Phantasmagorie zu sein, ganz abgesehen davon, dass in der Politik die Meinung vorherrscht, mit Bildungsthemen könne man wegen ihrer Langfristwirkung kurzfristig denkende Wähler nicht erreichen. Freilich werden die gegenwärtigen Erfolge nicht von den Vertretern der sogenannten Y-Generation erbracht, die jetzt an den Universitäten studiert oder diese vor Kurzem verlassen hat, und deswegen könnte ein Blick auf die professorale Einschätzung jener Studenten, die zwischen Nintendo, iPhone und Internet sozialisiert wurden, tatsächlich prognostischen Wert haben.
Ausgelöst durch das in den letzten Jahren lauter gewordene Murren in der Professorenschaft über das Bildungsniveau der Abiturienten und angesichts der Entscheidung der Kultusministerkonferenz, auf die nachlassenden Kompetenzen der Studienanfänger mit der Erarbeitung deutschlandweiter Bildungsstandards für das Abitur zu reagieren, beschloss der Philosophische Fakultätentag (PhFT), der Zusammenschluss von circa 135 geisteswissenschaftlichen Fakultäten an den deutschen Universitäten, im Herbst 2011, seine Mitglieder in einer nicht skalierten Umfrage nach ihrer Einschätzung der Studierfähigkeit ihrer Anfangssemester zu befragen, konkrete Defizite zu benennen sowie Verbesserungsvorschläge zu formulieren. Das nahezu einhellig negative Ergebnis der Umfrage, die bei den Delegierten des PhFT auf ein außergewöhnlich großes Interesse gestoßen war, überraschte zwar nicht. Beeindruckend und bedrückend zugleich waren jedoch die zahlreichen Beispiele für den Verlust an basalen Studienvoraussetzungen, wie sie im Übrigen auch durch die empirischen Umfragen von Gerhard Fritz („Was können Geschichtsstudenten?“, Stuttgart 2007 und 2012) bestätigt werden.
Schwinden elementarer Kompetenzen
Am gravierendsten wurde von den Professorinnen und Professoren der eklatante Rückgang der Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz, also der elementaren Grundvoraussetzungen für die Aufnahme eines geisteswissenschaftlichen Studiums, empfunden. Den Anfangssemestern fällt es heute schwer, komplexere Texte der Sekundärliteratur, wie sie seit Jahrzehnten an den Universitäten gelesen werden, zu verstehen, ihre Probleme und Widersprüche zu erkennen und dazu eine eigene Stellungnahme zu entwickeln. Bei literarischen Texten von ästhetischem und poetischem Niveau werden Bilder, Metaphern, Symbole und Wortfiguren genauso wenig identifiziert wie angesichts eines immer kleiner werdenden aktiven Lektürekanons intertextuelle Bezüge noch gesehen und verstanden werden. Auf einem ähnlichen Rückzug befindet sich das historische und geografische Basiswissen. Nun lasen sich auch vor dreißig Jahren die Studierenden ihren Lektürekanon oft erst im Studium an. Aber während man sich zur Beantwortung der in Lehrveranstaltungen auftauchenden Fragen erst in die Bibliothek bequemen und dort mühselig, aber doch mit viel intellektuellem „Beifang“ zu einer Antwort durcharbeiten musste, suggeriert heute die Datenflut des Internets, man habe mit wenigen Klicks eine Antwort auf nahezu jede beliebige Frage. Das ubiquitäre Wissen suggeriert fälschlicherweise, man müsse es sich nicht erst aneignen – Studium fast ohne Anstrengung, lautet folglich die Verheißung.
Zwar wird in den Seminararbeiten nicht einfach plagiiert, sie bestehen dafür aber oft nur noch aus Zitaten und Paraphrasen. Auf der Strecke dieser akademischen Unkultur bleiben die Entwicklung eines eigenen Standpunktes und die kritische Distanz zur Sekundärliteratur. Wissenschaft erscheint in den Augen der Studienanfänger als Informationssammlung. Referatsthemen zur Biografie einer historischen Persönlichkeit oder eines Schriftstellers sind besonders nachgefragt, weil man hier vermeintlich „nur“ Daten präsentieren muss. Dies ginge noch, wenn wenigstens sorgfältig recherchiert werden würde. So ist es keine Seltenheit mehr, dass man in einer Hausarbeit mit der Wiedergabe von Sekundärliteratur aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konfrontiert wird, die der Student als aktuellen Forschungsstand aufgefasst hat, weil der Text im Internet stand. Ebenso werden Texte aus sozialistischen Literaturgeschichten rezipiert, ohne dass deren ideologischer Standpunkt erkannt worden wäre. Werden eigene Sätze gestaltet, erschweren dem Korrektor Grammatik- und Syntaxfehler das Textverständnis erheblich. Rechtschreibschwächen sind in diesem Szenario noch das geringere Übel, zumal sie bei der Verwendung von Rechtschreibprogrammen auch nur dort auffallen, wo diese an Polysemen und Homonymen scheitern.
Weitere häufiger genannte Monita aus der Umfrage waren fehlende Bereitschaft, fremdsprachliche (auch englische) Texte zu lesen, mangelhafte Vertrautheit mit religiösem (was war Pfingsten?) und kulturellem Brauchtum, unzureichende Rechen(in den empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften von erheblichem Nachteil) und Musikkenntnisse sowie insgesamt eine fehlende Neugier an den eigenen Studiengegenständen.
Steigende Intelligenz, sinkendes Bildungsniveau
In einigen der Antworten aus dem Kollegenkreis wurde der Verdacht geäußert, die geschilderten Defizite seien das Problem der Geisteswissenschaften, die als relativ „weich“ gelten und daher die am wenigsten geeigneten Studierenden anzögen, wogegen sich intelligentere Studenten den Natur-, Ingenieur-, Rechtsund Wirtschaftswissenschaften mit ihren sichereren Berufsaussichten zuwendeten. Weit gefehlt! Nachdem das Umfrageergebnis im Sommer 2012 in die Öffentlichkeit gelangt war, erhielt der PhFT eine Fülle von Zuschriften aus dem Bereich ebendieser Disziplinen, in denen Kolleginnen und Kollegen, Personalbeauftragte und Selbstständige haarsträubende Beispiele für das Fehlen jener Grundkompetenzen bei ihren Studenten beziehungsweise Berufsanfängern nannten. Deswegen ist es an der Zeit, das Bildungsniveau von Studienanfängern in einer fächerübergreifenden, empirisch und statistisch abgesicherten Untersuchung zu erheben. Auf der Basis einer solchen Untersuchung wären auch die Ursachen für den Kompetenzverlust zu erforschen. Denn heute ist man zwar mit Begriffen wie dem der „digitalen Demenz“ rasch bei der Hand, müsste sich jedoch hier auch mit dem Argument auseinandersetzen, dass der durchschnittliche Intelligenzquotient der Jugendlichen nicht sinkt, sondern steigt.
Stillhalteabkommen zwischen Studenten und Dozenten
Einem anderen Vorwurf aus der öffentlichen Diskussion über die Umfrage des PhFT werden sich die Geisteswissenschaften, aber nicht nur sie, ebenfalls stellen müssen: Wenn denn schon in ihren Fächern völlig unzulänglich vorgebildete oder ungeeignete Studenten anzutreffen seien, warum lösten sie das Problem nicht entweder durch rigide Eingangsprüfungen oder studienbegleitende Modulprüfungen. Studieneingangsprüfungen sind freilich juristisch schwer durchzusetzen, weil sie das Versprechen der allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung durch das Abitur unterlaufen. Modulprüfungen könnte man zwar entsprechend gestalten, aber nachdem die Universitäten in Zeiten des new public management inzwischen weitgehend dem Prinzip der Ökonomie unterliegen, wird man als verantwortlicher Fachvertreter zweimal überlegen, ob man sich niedrigere Studentenzahlen im Hinblick auf die Kapazitätsberechnung und das eigene Stellenportfolio leisten kann – eine Überlegung vor allem jener Fächer, die wenig Chancen haben, durch die Einwerbung von namhaften Drittmitteln Reputation bei ihrer Hochschulleitung zu erwerben. Da zudem Prüfungswiederholer einen erheblichen Arbeitsmehraufwand verursachen, kommt es zu einem unausgesprochenen Stillhalteabkommen zwischen Dozenten und Studenten, wobei sich das Gros der Studenten das Durchwinken in Prüfungen erkauft, indem sie die Dozenten möglichst wenig bei der Forschung und bei der Arbeit mit den zehn Prozent Hochbegabten behelligen. Ein solcher Stillhaltepakt ist wahrscheinlich in den Massenfächern oder bei den drittmittelstarken Naturwissenschaften seltener anzutreffen, aber selbst in einem notorisch schwierigen Fach wie Mathematik schließen 82 Prozent der universitären BA-Absolventen mindestens mit der Note „gut“ oder besser ab. Dies ergab eine kürzlich erstellte Untersuchung des Wissenschaftsrates. Wer jedoch ohnehin Aussicht auf gute Abschlussnoten hat, wird sich im Studium nicht übermäßig anstrengen. Nur wenn Prüfungen wieder zwischen den Studenten differenzierten, könnten sie Arbeitsanreize setzen.
Ursache: Die Lehre wird abgewertet
Maßgeblich für die bestehende Misere ist laut Umfrageergebnis die Unterausstattung der universitären Lehre. Hier aber ist die Universität in einem Circulus vitiosus verfangen: Dazu müsste sie Geld investieren, das ihr dann bei der Forschung und den Drittmittelbemühungen fehlte. Da die Universität die negativen Folgen ausbleibender Drittmittel unmittelbar zu spüren bekommt, die Kosten für defizitäre Lehre aber von der Gesellschaft getragen werden müssen, investieren Hochschulleitungen lieber in die Forschung und befinden sich damit im Konsens mit einem gesellschaftlichen Diskurs, der die universitäre Lehre gering achtet. Dies wurde in den letzten Jahren evident, als die zur Verbesserung der Lehre eingeführten Studienbeiträge in den Bundesländern sukzessive wieder abgeschafft wurden. Wenn es noch eines empirischen Beweises bedurft hätte, dann wäre er in der kürzlich geführten Diskussion und im Ergebnis des bayerischen Volksbegehrens zur Abschaffung der Studiengebühren erbracht worden. Implizit wurde hierbei auch darüber entschieden, ob die aufgrund der eingerichteten Studienbeitragsstellen gute Betreuungsrelation zwischen Lehrenden und Lernenden künftig wieder auf den miserablen Stand vor deren Einführung zurückgeführt werden sollte. Bezeichnenderweise interessierte die Initiatoren des Volksbegehrens die nun anstehende Verschlechterung der Studienbedingungen gar nicht und von den Studentenorganisationen hat allein der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) massiv darauf hingewiesen, dass die Studierenden hier an dem Ast sägen, auf dem sie später sitzen wollen. Demgegenüber konnten die Initiatoren des Volksbegehrens mit Fug und Recht auf die „Inkompetenzkompensationskompetenz“ der meisten Menschen vertrauen und darauf, dass in Deutschland eine allgemeine „Schnäppchenmentalität“ dominiert und es aus einem verbreiteten alten Anti-Eliten-Affekt heraus ohnehin vielen nicht einleuchtet, warum Studenten besonders gut ausgebildet werden sollen.
Bildung zum Nulltarif verspricht jedoch wenig Reputation – weswegen private Anbieter akademischer Ausbildung viel Geld dafür verlangen können –, weil sich in unserer Gesellschaft der Wert einer Ware über deren Preis definiert. Insofern ist zu vermuten, dass sich auch weiterhin die Professoren über die mangelnde Studierfähigkeit der Abiturienten und das mangelnde Interesse ihrer Studenten erregen werden – ebenso wie die Arbeitgeber über die Defizite ihrer frisch eingestellten Universitätsabsolventen.
Gerhard Wolf, geboren 1954 in Nürnberg, ist Germanistikprofessor an der Universität Bayreuth. Er war von 2008 bis 2012 der Vorsitzende des Philosophischen Fakultätentages, der fächerübergreifenden hochschulpolitischen Vertretung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften an 62 deutschen Universitäten.