37 Jahre lebte und arbeitete Patrick Roth in Los Angeles (USA), angezogen und inspiriert von der „Traumfabrik“ des amerikanischen Films. Über mehrere Jahre wirkte er in der Filmbranche, knüpfte dort zahlreiche Kontakte und produzierte eigene Filme. Patrick Roth wandte sich dann aber immer intensiver dem Schreiben zu. Eines seiner Markenzeichen ist ein drehbuchähnlicher, aber lyrisch anmutender Schreibstil, der den Leser in den Sog mitreißender Szenen zieht. Bekannt wurde er insbesondere durch die Christustrilogie, eine Novelle und zwei Romane, die urchristliche Themen aufgreifen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung zeichnete ihn für diese literarische Meisterleistung 2003 mit ihrem Literaturpreis aus.
Sein vielleicht bedeutendster Roman SUNRISE. Das Buch Joseph ist 2012 erschienen und hat großes Aufsehen erregt. Bereits im Erscheinungsjahr wurde seine Lesung im Südwestrundfunk ausgestrahlt. Das Buch erzählt die Geschichte des Joseph von Nazareth, dem in biblischen Texten nur eine Nebenrolle zukommt. Mit diesem Werk hat Patrick Roth seine Lebensspanne in den USA abgeschlossen und ist in seine Heimat zurückgekehrt.
Was bewegt Sie zu schreiben – auch im Unterschied zum Filmemachen?
Patrick Roth: Es sind letztlich immer wieder die Träume – die Träume, die nicht nur den Anstoß geben zu einer Arbeit, sondern sie dann auch unterstützen, die Arbeit tragen. Sonst hätte ich für ein Buch wie das letzte – also für SUNRISE. Das Buch Joseph, das über sechs Jahre hin entstand – einfach nicht den Atem gehabt. Den „langen Atem“ – den geben mir die Träume. Ich würde sagen: Ohne deren kompensierende, ermutigende Inspiration hätte ich nach einem halben Jahr schlappgemacht.
Kennen Sie dieses intensive Arbeiten an einem Stoff nicht auch aus Ihrer Erfahrung als Filmemacher?
Patrick Roth: Beim Filmen ist das anders. Einerseits arbeitet man da im Team, ist also – auch äußerlich – ständig in einem Dialog: Es wird einem „zugearbeitet“ oder widersprochen. Andererseits liegt gerade im Sicherheitsgefühl, das einem die Crew, der Drehbuchpartner, die Schauspieler oder Produzenten vermitteln, die größte Gefahr. Nämlich: das eigentliche Ziel der Arbeit aus dem Auge zu verlieren. Mit „Ziel“ meine ich: jenes erste geheime Gefühl zu bewahren – jenen ersten Impuls, die erste Vision, die den Regisseur zur Arbeit drängt, die Arbeit beginnen ließ –, und zwar bis zur Fertigstellung hin kompromisslos zu bewahren. Das ist das Schwerste. Beim Filmen wird diese geheime Kernsekunde der Vision, die alles anstieß, alles färbte, allem erste Form gab, meist durchs Kollektiv verwässert, jener „Kern“ wird entschärft, unscharf, vergessen, durch ständige kleine Kompromisse aufgelöst. Am Schreibtisch aber – um wieder zum Schriftsteller zurückzukehren – habe ich vielleicht bessere Chancen, jenem „Ziel“, dem Kern jener ersten Vision, gerecht zu werden, ihn in der Arbeit aufzubewahren und ihn möglichst getreu – kompromisslos – abzubilden, beziehungsweise aus ihm Bilder entstehen zu lassen. Denn ich brauche am Schreibtisch kein Team, keine Millionen, um mein Buch zu schreiben. Ich bin einzig angewiesen auf mein Unbewusstes – das eben nicht „mir“ gehört. Ich sage: „mein“ Unbewusstes – aber das Possessivpronomen täuscht da eigentlich. Also ist entscheidend für den Fortgang der Arbeit mein Vermögen – oder Unvermögen –, auf solche Träume zu antworten, sie zu verstehen. So wenigstens sagt mir das meine Erfahrung.
Wie kommen Sie dazu, biblische Figuren wie etwa Jesus und Joseph von Nazareth in Ihren Novellen und Romanen aufzugreifen? Ich meine: Fürchten Sie nicht, so in eine religiöse, für manche deshalb unzeitgemäße Ecke gestellt zu werden? Oder ist das eine bewusste Opposition gegen den Zeitgeist?
Patrick Roth: Also letztlich fragen Sie doch: Hat das Religiöse heutzutage überhaupt einen Platz in der Literatur? Und da kann ich nur subjektiv antworten: Was mich betrifft, geht wirkliche Literatur immer über das Ästhetische hinaus. Geht in einen Bereich des Transzendenten, den man auch mit dem Wort „religiös“ umschreiben kann, insofern damit eine größere, umfassendere Wirklichkeit als unser Alltag gemeint ist. Wenn Literatur im Ästhetischen hängen bleibt, also das Bezogen-sein auf ein Absolutes, auf ein Unendliches nicht besitzt, dieses Bezogen-sein nicht anstrebt oder es außer Acht lässt, dann verliere ich einfach das Interesse. Dann bewegt mich die Erzählung, der Roman, der Film – was immer es ist – einfach nicht tief genug. Das heißt umgekehrt aber nicht, dass mich Literatur „packt“ oder packen würde, weil sie sich „das Wort Gott gönnt“ – oder der Protagonist mal eine Kirche besucht, die Handlung des Buchs an einem Sonntag, Karfreitag oder an Weihnachten spielt. Ich finde: Unbeholfene, kraftlos öde Literatur kennt keine „Religionsgrenzen“. Sie „gesundet“ dann auch nicht am religiösen Einsprengsel, am religiösen Spiel.
Wollen Sie damit sagen, dass die Form, die Sprache, der Stil eines Textes Sie gar nicht interessiert?
Patrick Roth: Nein. Verstehen Sie, ich lehne das Ästhetische ja nicht ab – ich muss als Schriftsteller mit allem arbeiten, was mir auch an „techne“, an künstlerischen Ausdrucksmitteln, zur Verfügung steht. Aber die ästhetische Dimension des Textes oder Films muss – meiner Meinung nach – zunächst einmal „dienen“, das heißt, sie muss die aufmerksamste Entsprechung zum Inhalt anstreben. Und dann, letztlich, muss diese ästhetische Dimension durchbrochen werden. Auf ein Anderes, uns Übersteigendes hin. Dieses Andere, dieses Erlebnis des Anderen, ist dann auch verpflichtend – ethisch verpflichtend. Das ist jedenfalls meine Erfahrung mit großen Kunstwerken, ob mit Büchern oder großen Filmen. Ich empfinde da etwas Bindendes, dem ich treu sein sollte, etwas – eben: „Religiöses“ – Verpflichtendes. Das heißt: Ich bin danach verändert.
Wie äußert sich diese Veränderung des Lesers oder Zuschauers?
Patrick Roth: Ich würde sagen: Etwas in mir hat sich – während des Lesens, Sehens, oder Hörens – verwandelt, hat sich ihm – dem Buch oder Film, dem Kunstwerk – nämlich anverwandelt. Etwas vom Buch oder Film bleibt in uns – eine Erfahrung, die wir an ihnen gemacht haben; und die ihre Wurzeln letztlich in uns hat. Nur waren sie – diese Wurzeln, diese Tiefenbereiche in uns – verschüttet, vergraben oder tot. Das Buch oder der Film, das Kunstwerk, hat sie jetzt wieder lebendig gemacht. Das ist der Idealfall, die Ambition. Ich sage nicht, dass meinen Büchern das in jedem Fall gelingt. Aber das ist ihr Ziel.
Dann wäre also das Kriterium für den Aspekt des Religiösen in der Kunst: ob das Werk in der Lage ist, den Leser, den Betrachter zu verändern?
Patrick Roth: ... zu verändern in seiner Einstellung diesen Inhalten gegenüber, ja. Denn ich will eigentlich keine Trennwand mehrzwischen „Religion“ und „Literatur“. Die Literatur, überhaupt: das „Medium“ der Kunst, hat meiner Meinung nach eine verbindende Funktion. Die Funktion der Literatur – wie auch der Religion – ist, so sehe ich es, die coniunctio oppositorum, das heißt die Vereinigung oder Zusammenkunft der Gegensätze. Die Literatur – die Kunst überhaupt – ist das einzige Medium (im ursprünglichen Wortsinn) zwischen Tag und Nacht, zwischen unserem Bewusstsein und dem Unbewussten. In der Literatur arbeitet sich individuelles Bewusstsein – das Bewusstsein des Schriftstellers – an der Macht des Unbewussten ab, an Visionen und Traumimpulsen etwa, die wir nicht „gemacht“ haben. So auch in der Religion. Deren Fundament ist kein bewusstes Produkt. Denken wir an die Träume Josephs, an die großen Träume und Visionen der Propheten, an die Mythen.
Das war jetzt ein kleiner Exkurs, den wir da gemacht haben. Darf ich nochmals auf den letzten Teil meiner Frage zurückkommen: Fürchten Sie nicht, in eine religiöse, für manche deshalb unzeitgemäße Ecke gestellt zu werden? Ist das eine bewusste Opposition gegen den Zeitgeist?
Patrick Roth: Vielleicht werde ich vom „Kulturbetrieb“ – jedenfalls was meine Bücher mit biblischen Stoffen angeht – zu den „Unzeitgemäßen“ gerechnet. Aber meine Bücher verstehen sich nicht als „bewusste Opposition gegen den Zeitgeist“. Denn der Auftrag für solche Bücher kommt, wie gesagt, immer von innen. Und mein Traum, der mich fordert, fragt nur bedingt nach dem „Zeitgeist“, den wir von außen wahrnehmen. Mein Traum schert sich letztlich nicht darum, vom „Zeitgeist“ gebilligt, abgelehnt oder ignoriert zu werden.
Wie sind Sie biografisch mit der Bibel verbunden?
Patrick Roth: Das Interesse an den Geschichten der Bibel und ihren Bildern war eigentlich schon in der Kindheit da. Das verschwand wieder, wurde von anderem überdeckt. Und kam dann wieder auf in den 1960erund 1970er-Jahren – und zwar über den Film. Über die großen Filme von Wyler, Pasolini, Carl Theodor Dreyer, Bresson, Bergman. Zu jener Zeit auch über Schriftsteller wie James Joyce und Arno Schmidt, deren Sprache diese tiefen Wurzeln ja sichtbar gemacht haben, Wurzeln, die unsere Kultur in den frühen Bibelübersetzungen eben unleugbar hat – also zum Beispiel in der King James- oder der Luther-Übersetzung. Ich habe heute noch ein Faksimile der ersten Lutherbibel, die DTV damals als Taschenbuch druckte. Das war großartig, die ganze Sprache des sechzehnten Jahrhunderts war mir durch diese drei Bände damals wieder nahegerückt. Und Arno Schmidt tat Ähnliches, wenn er mich in seinen Nachrichten von Büchern und Menschen zum Beispiel für Herder, Wieland, Klopstock, Barthold Hinrich Brockes oder Schnabels Insel Felsenburg begeistert hat. In all diesen Autoren ist diese Sprache und sind mithin diese biblischen Bilder noch wach – natürlich lokal oder zeitlich überlagert. Später, da war ich schon in den USA, kam die große Übersetzung der hebräischen Bibel durch Buber und Rosenzweig dazu.
Aber die eigentliche Nähe zur Bibel und ihren Inhalten erschloss sich dann – für mich – erst über die Psychologie, genauer gesagt: die Tiefenpsychologie C. G. Jungs. Ich habe einfach nachexperimentiert, anhand seiner Forschungen und an mir selbst, an eigenen Traumserien: nachexperimentiert, ob Erfahrungen mit der Psyche, wie Jung sie gemacht hat, mit psychischen Inhalten überhaupt, auch für mich zutreffen. Ob also dieses „Unbewusste“, von dem Jung spricht, wirklich „objektiv“ existiert, wie es auf uns wirkt und wie, umgekehrt, wir darauf einwirken können – indem wir es ansehen, ihm antworten, uns richtig darauf einstellen.
Welche Erfahrungen haben Sie mit den verschiedenen Reaktionen religiös vorgeprägter und nicht vorgeprägter Leser gemacht?
Patrick Roth: Neulich hat mich mal jemand gefragt, ob ich meinen Lesern einen „neuen Zugang zu Gott“ verschaffen wolle. Also das wäre sicherlich zu viel behauptet. Aber manchmal höre ich doch, dass man etwas in einem neuen Licht sieht oder einem etwas neu aufgegangen ist. Nicht nur bei Lesern, denen manches Bild durch den Religionsunterricht aus ihrer Kindheit noch bekannt ist. Wobei deren Bilderinnerungen, stelle ich fest, oft mit Unangenehmem vermischt sind, mit unangenehmen Erinnerungen an die Art und Weise nämlich, wie einem die biblischen Stoffe beigebracht wurden. „Augen zu, das muss man ‚glauben‘“, so in der Art. Genau diese Sichtweise meidet mein Buch ja: Neith, die Erzählerin in SUNRISE. Das Buch Joseph sagt zu ihren beiden Zuhörern: „Nicht glauben sollt ihr, sondern erfahren. Wenn ihr mich hören wollt.“ Ich erinnere mich aber auch an Reaktionen einiger Leser, die in der DDR aufgewachsen sind. Bei ihnen – die mit der Bibel oft nicht vertraut sind – löste SUNRISE eine Erschütterung aus, eine emotionale Erfahrung, die einen möglichen Zugang zu diesen Bildern, zu diesen Stoffen freilegte. Die lasen SUNRISE viel eher als Vater-Sohn-Geschichte. Das ist auch völlig legitim so – man muss für dieses Buch kein Vorwissen haben. Dass man dann nach der Lektüre – mit der Erfahrung der Lektüre – hier und da neugierig geworden ist, hab ich in einigen Fällen auch gehört.
Da Träume einen entscheidenden Anteil an Ihrem Werk haben: Stellen sich die kontinuierlich ein oder gibt es auch traumlose Zeiten? Wie gehen Sie gegebenenfalls damit um?
Patrick Roth: Ich erinnere meine Träume nicht täglich. Es geht, wie gesagt, bei Träumen auch gar nicht um das „wie oft“ oder das „wie groß“. Eine quantifizierende Einstellung wäre da falsch, meine ich. Es geht um das, was ich tun kann, mit dem Traum tun kann – und dem sind immer ganz menschliche Grenzen gesetzt. Manchmal stürzt das Unbewusste auf mich ein – es kommt dann zu viel, kommt zu mächtig, kommt in sechs, sieben, acht Bildern in einer einzigen Nacht. Und ich muss mir dann sagen: Ich kann vielleicht nur an der Lösung des einen Problems, das mir beim Nachdenken über den Traum klarer wurde, weiterarbeiten, kann nur versuchen, das einmal handelnd umzusetzen, dieses eine – so weit ich’s eben verstehe. Das ist dann auch genug. Umgekehrt sind traumlose Phasen kein Grund zur Beunruhigung; und trotzdem wirken sie auf mich manchmal so. Es ist, als wisse ich dann nicht, was „hinter mir“ vorgeht; als hätte ich den Verbindungsfaden verloren.
Welche Rolle spielt die Tiefenpsychologie in Ihrem Werk? Empfinden Sie eine gewisse Spannung zwischen psychologischer Betrachtung und religiösem Gefühl, das ja weniger von Reflexion als von Hingabe geprägt ist?
Patrick Roth: Naja, die Tiefenpsychologie spielt für mich als Autor eine enorme Rolle. Die wichtigste Rolle, was das Verstehen der Bilder oder der Emotionen, die mich bewegen, angeht. Ohne das Werk – das heißt auch: die Erfahrungen – von Wissenschaftlern wie Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Marie-Louise von Franz und Edward Edinger wäre es heute nicht in dem Maße möglich, Bewusstsein aus vielen dunklen Bildern der Psyche zu ziehen; oder zum Beispiel die Bedingungen psychischer Projektion oder psychischer Inflation zu verstehen und – eben bewusst – „Gegenmaßnahmen“ zu treffen beziehungsweise dagegen anzugehen. Wenn mir ein Bild kommt, das mich fasziniert – dann lasse ich mich zunächst einmal darauf ein. Das käme dem gleich, was Sie gerade mit „Hingabe“ bezeichnet haben. Das ist aber nur die erste Phase der Arbeit. Ich muss es, das Bild, in der zweiten Phase dann, zu verstehen suchen, um es einordnen zu können – um auf das, was das Unbewusste mir kreativ zuwirft, kreativ antworten zu können: „mit allem, was ich habe“. Sie sehen: Auch hier sind „Reflexion“ und „Gefühl“ oder „religiöse Hingabe“ letztlich notwendig alternierende Phasen eines Prozesses, der den Dialog zwischen den Gegensätzen fruchtbar machen will.
Welche Wirkmacht sprechen Sie also der Dichtung zu? Kann sie eine heilende Wirkung auf den Menschen entfalten oder ist das zu viel gesagt?
Patrick Roth: „Sie kann“, würde ich meinen, ist nicht zu viel gesagt. Sie könnte ... Sie sollte es sogar, denn sie, die Dichtung, die Kunst, die Religion: das wären doch Orte, an denen sowohl das Unbewusste auf unser individuelles Bewusstsein Einfluss nimmt als auch unser individuelles Bewusstsein aufs Unbewusste – indem der Künstler reagiert, bewusst reagiert, fordernd, fragend, bedenkend, dem Unbewussten damit seine Antwort gibt, also in einen Dialog mit ihm tritt.
Ein Beispiel: Wenn Sie als Schriftsteller den Bildern, die Ihnen aus dem Unbewussten einkommen, die Ihnen nachgehen, die Sie bedrücken, beschweren, belasten oder freudig stimmen, hoffen machen, neue Kraft zufließen lassen ... wenn Sie diesen Bildern aus dem Inneren nicht nachgehen, sie nicht bedenken, nicht Ausdruck suchen für sie, sondern sie verdrängen, zu vergessen suchen: dann können Sie krank daran werden. Seelisch oder physisch krank. Das sagt die Erfahrung. Die Erfahrung sagt, dass der kreative Impuls, das kreative Talent im Leben eines Menschen sich in Gift – in seelisches Gift – verwandelt, wenn solche Impulse nicht angenommen werden, wenn wir dem kreativen Impuls ständig zuwiderhandeln, ihn verleugnen, ihn abtöten.
Das gilt auch für den religiösen Impuls – auch der kommt von innen, muss hervorgebracht, ins Leben gebracht werden, sonst wirkt er zerstörend auf die Seele. Im apokryphen Thomas-Evangelium gibt es eine interessante Aussage zu diesem Zusammenhang. Das siebzigste Logion lautet: „Jesus sprach: Wenn ihr hervorbringt, was in euch ist, wird das, was ihr habt, euch retten. Wenn ihr das nicht habt in euch, wird das, was ihr nicht in euch habt, euch töten.“
Empfinden Sie Einsamkeit in Ihrer Arbeit oder fühlen Sie sich gewissermaßen im Kontakt, im „Gespräch“ mit Ihrem Leser, vielleicht konkreten Lesern?
Patrick Roth: Nein, es ist – abgesehen vom Dialog mit dem Unbewussten, der die Arbeit begleitet – eine ganz und gar einsame Tätigkeit. Der Gedanke an die Leser, an ein Außen, einen Verlag, gar an Kritiker, würde den Prozess zu diesem Zeitpunkt nur stören. Wenn die Arbeit getan ist, den Inhalten so gut als möglich Ausdruck verschafft wurde – auf dem „Papier“ oder am PC –, dann ist dafür noch Zeit genug. Dann kommen Gedanken wie: „Wem gebe ich das jetzt, welchem Verlag?“ Und davor noch, für mich wenigstens, die Frage: „Wem kann ich das – zunächst einmal – vorlesen?“ Ich brauche den ersten Hörer, ersten Zuhörer, der vor mir sitzt; auch um den Text – über diesen Zuhörer – noch einmal selbst „wie zum ersten Mal“ zu hören, ihn zu prüfen.
Ist Dialog nur ein literarisches Mittel für Sie oder stellt er im Grunde genommen auch ein Modell einer Formung der Gesellschaft dar?
Patrick Roth: Der Dialog ist eben nicht „nur“ ein literarisches Mittel. Sie wissen ja, wie hoch ich ihn einschätze. Der Dialog ist ein Prinzip. Er verkörpert, er inkarniert jenen Ort eines möglichen Zusammenkommens der Gegensätze.
In Ihrem Buch Joseph gibt es extrem gewalttätige Szenen. Welche Eindrücke verbergen sich dahinter?
Patrick Roth: Die Zeit, jene Anfangszeit des Christentums, jene Übergangszeit – die Zeit Jerusalems unter römischer Besatzung beziehungsweise belagert von römischen Legionen im Jahr 70, also im Jahr der Rahmenhandlung von SUNRISE –, war eine für uns schier unvorstellbar grausame Zeit. Und doch sind wir – das ist, glaube ich, wichtig zu wissen – immer nur durch eine hauchdünne Schicht von ihr getrennt. Wir sehen doch „in den Medien“ nicht wirklich, was derzeit in Afghanistan, in Syrien oder sonst wo geschieht. Dieses Dunkle, dieses wirkliche tiefe Dunkel, dieses Böse, an dem wir leiden, will Ausdruck; es darf nicht verleugnet werden. Gerade wenn wir von Gott reden.
Bilder des Holocausts haben sich in Ihrer Jugend eingeprägt, wie wir einem Ihrer Interviews entnommen haben. Welche Bilder, glauben Sie, prägen junge Menschen heute am stärksten?
Patrick Roth: Am stärksten prägen uns Kräfte, deren wir uns nur am Rande bewusst sind, die so übermächtig sind, dass man nur punktuell aus ihnen erwacht. Ein Beispiel: Sie fragen „Welche Bilder sind prägend?“ Das klingt, als sei heute die Qualität der Bilder noch der ausschlaggebende Faktor. Das würde aber voraussetzen: Ruhe, eine gewisse Kontemplation, „judgement“, bewusstes Urteil über die Qualität, den Sinn, Zweck oder die Unbrauchbarkeit eines Bildes. Der prägende Faktor scheint heute aber vor allem die Quantität der Bilder zu sein, ihre auflösende, Bewusstsein und Konzentration zersetzende Übermacht, Schnelligkeit und äußere Abrufbarkeit – da sehe ich eine große Gefahr. Die Bilder werden eben, wie in zunehmendem Maße „Wissen“ überhaupt, außen gespeichert, „ausgelagert“, von außen her abgerufen. Wissen erscheint so nicht mehr als Erfahrung, die wir uns zu eigen machen, nämlich verinnerlichen müssen, sondern wird, auch und gerade von der jüngeren Generation, als „knowledge at your fingertips“ verstanden: als Daten, über die man jederzeit verfügen, die man jederzeit abrufen kann. Damit verliert „Wissen“ eine Funktion, die ich für entscheidend halte. Wirkliches Wissen hat verwandelnde Funktion. Es verwandelt seinen Träger, es macht ihn zu einem anderen, weil er nun weiß und an diesem Wissen zu tragen hat, vielleicht sogar leidet. Dieser Aspekt geht zunehmend verloren – und das allerdings ist ein „Bild“, das uns derzeit prägt. Es passt zu unserer seelischen Wurzellosigkeit, zum Verlust der Wurzeln, an denen das Individuum Verbindung hätte zur Tiefe und zu sich selbst finden könnte. In einer Zeit des Übergangs bedeutet das: die Gefahr des Nur-noch-Mitgerissen-werdens.
„In einer Zeit des Übergangs“ und der Auflösung befindet sich ja auch der Joseph Ihres Romans ...
Patrick Roth: Ja, stimmt. Und wenn ich’s mir recht überlege, wird im zwölften Kapitel von SUNRISE dazu auch Stellung genommen. Allgemein kann man vielleicht sagen: Es wäre wichtig, den Sinn des Zustands zu verstehen, in dem wir uns befinden – diese schier sinn-los gewordene Welt einer Unzahl von Bildern, diesen „heap of broken images“, diesen Scherbenhaufen, in dem wir – wurzellos geworden – uns zu verlieren drohen; ihn nämlich zu verstehen als Auftrag, als unser „assignment“, als Herausforderung an das Bewusstsein des Menschen, die Scherben wieder zu lesen, uns auf die Arbeit am neuen „Gefäß“ einzulassen – „with everything we got“. Im Bild gesprochen, sind es die Scherben eines zerschollenen Gefäßes, das uns einst „fasste“, das allem und allen „Sinn“ gab – unser Mythos etwa, in dem wir und unsere Kultur gänzlich enthalten waren. Der „Auflösung“ oder dem „Zerschellen“ des Gefäßes entspräche die Gefahr der Wurzellosigkeit, des Sich-Verlierens in den Scherben.
Woran haben Sie zuletzt gearbeitet? Oder musste nach dem wirklich qualitativ wie quantitativ gewichtigen Opus „SUNRISE. Das Buch Joseph“ eine längere kreative Pause eintreten?
Patrick Roth: Ich habe gerade im März ein neues Buch publiziert: Die amerikanische Fahrt – Stories eines Filmbesessenen. Ich erzähle darin von meiner Zeit in Amerika – „Fahrt“ ist auch im Sinne meiner „Erfahrungen“ gemeint –, von meiner Liebe zu amerikanischen Bildpoeten wie John Ford und Orson Welles, von meinem Alltag als Schriftsteller in Los Angeles und meiner Kino-Faszination, die mich – so sehe ich es im Nachhinein – hinter ihren äußeren Bildern die Tiefe der inneren Bilder entdecken ließ, der Bilder des Unbewussten, mit denen meine Arbeit als Schriftsteller begann.
Patrick Roth, geboren 1953 in Freiburg im Breisgau, Schriftsteller und Regisseur. Zuletzt erschienen: „SUNRISE. Das Buch Joseph“ und „Die amerikanische Fahrt – Stories eines Filmbesessenen“ im Wallstein-Verlag, Göttingen.
Das Gespräch führte Rita Anna Tüpper.