Beim Anschlag am 7. Januar auf die Redaktion des „Charlie Hebdo“ in Paris töteten Terroristen zwölf Personen mit automatischen Waffen. Markiert das eine neue Dimension des islamistischen Terrors?
Jean-Yves Camus: Bisher kannte man in Frankreich massive Attentate wie etwa den Bombenanschlag 1995 in der Pariser Metro, die Attentate, die die GIA (Groupe Islamique Armé) aus dem algerischen Bürgerkrieg nach Frankreich „importierten“, und diejenigen, die Regierungen anderer Länder befahlen: etwa den Anschlag auf das französische Kontingent der UNO-Truppen im Libanon 1983, der auf das Konto der Syrer ging. Das Attentat auf „Charlie Hebdo“ zielte nicht auf die Tötung einer Vielzahl von Menschen und wurde nicht mit Bomben begangen – bei ihm ging es darum, bestimmte Menschen zu töten. Von den Attentätern wissen wir, dass sie sich auf Al Kaida beriefen und Teil eines Netzwerkes waren. Sie gehörten einer Gruppe an, die sich zwischen 2003 und 2004 radikal islamistisch gebärdete. Sie war bekannt dafür, bei den Demonstrationen gegen den Irak-Krieg oder das „Schleier-Gesetz“ in den Straßen Gebete abzuhalten. Einige ihrer Angehörigen spielten später eine Rolle im „Dschihadisten-Export“ in den Irak. Einige wurden inhaftiert. Andere agierten für mehr als zehn Jahre als „Schläfer“. Das stellt eine große Herausforderung für die Nachrichtendienste dar. Denn Risiken entstehen nicht nur durch Islamisten, die für den „Islamischen Staat“ kämpfen, nach Frankreich zurückkehren und hier Anschläge verüben. Es gibt genauso Leute, die nicht aus Syrien oder dem Irak zurückkehren, aber genauso bereit sind, Terrorakte zu begehen. Allerdings glaube ich, dass diese Terroristen nicht mehr „blind“ agieren und Bombenattentate durchführen werden. Die operativen Fähigkeiten von Al Kaida erscheinen heute durch die Überwachungsmaßnahmen eingeschränkt. Vielmehr dürften Al Kaida und der „Islamische Staat“ Täter entsenden, die mit automatischen Waffen ausgesuchte Ziele angreifen.
Was sind die Gründe für das Attentat?
Jean-Yves Camus: „Charlie Hebdo“ war schon lange bedroht, da die Zeitung entschied, die „Mohammed-Karikaturen“ zu veröffentlichen. Das entsprach ihrem satirischen Geist und ihrer antiklerikalen Tendenz. Natürlich kann man über diese Entscheidung streiten, doch war sie mit der Pressefreiheit zu vereinbaren. In der Vergangenheit wurden denn auch die Räumlichkeiten von „Charlie Hebdo“ angezündet und ihre Karikaturisten unter Polizeischutz gestellt und – zehn Jahre nach der Veröffentlichung der Karikaturen erfolgten nun Angriffe auf die Mitglieder der Redaktion.
Die ermordeten Journalisten folgten trotz ihrer Bedrohung dem Prinzip der Meinungsfreiheit und sind dabei vielen zum Vorbild einer mutigen Haltung geworden. Vielleicht darf man dennoch die Frage stellen, ob sie dabei nicht sehr weit gegangen sind und die religiösen Gefühle auch friedliebender Muslime verletzt haben? Anders gesagt: Ist die „Freiheit der anderen“ hinreichend respektiert worden?
Jean-Yves Camus: Die Religionsfreiheit der Muslime wird in Frankreich respektiert – so wie die aller Religionen. Es gibt rituelle Schlachtungen, Moscheen und Imame, sogar solche Imame, die von auswärtigen Ländern ausgebildet, berufen und bezahlt werden und in französischen Moscheen arbeiten. Muslime dürfen selbstverständlich in Moscheen gehen, beten und halal essen, haben ihre Organisationen: angefangen von den muslimischen Pfadfindern bis zu Frauenorganisationen. Als praktizierender Jude habe ich eine Zeit lang für „Charlie Hebdo“ geschrieben. Dabei habe ich niemals darüber nachgedacht, dass es meine Religionsfreiheit irgendwie bedrohen würde, wenn in der Zeitung die Karikatur eines Rabbi, eines Juden oder selbst von Moses abgedruckt würde. Die Attentäter haben offenkundig nicht verstanden, dass wir in Europa leben. Ob es uns nun gefällt oder nicht, es gibt zwar in Europa die Tradition religiöser Praktiken oder Gefühle, seien sie nun christlich, jüdisch oder andere. Doch genauso gibt es die Tradition des freien Willens und – die lässt den Atheisten die Möglichkeit, die Religionen zu kritisieren.
In den säkularen Gesellschaften des Westens leben viele Muslime, die nicht säkular sind. Müssen wir daher nicht eine Diskussion über den Schutz religiöser Moral führen?
Jean-Yves Camus: Ich denke, es ist Zeit, dass im Islam in Europa eine zivile Moral auftaucht und die religiöse Moral vervollständigt. Religiöse Moral – das ist aufgrund der Trennung von Staat und Kirche in Frankreich etwas Besonderes. Ich etwa bin jemand, der gleichzeitig gläubig und laizistisch ist. Ich habe als gläubiger Jude eine religiöse Moral, die mir sagt, was ich tun darf und was nicht. Doch das betrifft nur mein privates Leben. Ich will nicht, dass die Gesetze des Staates meiner religiösen Moral entsprechen. Die schlägt sich in meinem tagtäglichen Verhalten nieder, in meiner Familie, in meiner Privatsphäre. Doch wenn ich in mein Büro komme, wo ich im Dienste des französischen Staates stehe, leitet die zivile Moral mein Verhalten.
Nehmen durch das Attentat Hass und Misstrauen gegenüber den Muslimen zu, kommt es gar zu einer Spaltung der Gesellschaft?
Jean-Yves Camus: Ich glaube, die Islamisten in Europa stellen allen Muslimen eine Falle. Denn ob man den Islam mehr praktiziert oder weniger – die Situation aller Muslime wird jetzt schwieriger werden: Sie werden den misstrauischen Blicken ihrer nicht-muslimischen Landsleute ausgesetzt sein und das kann zu bedenklichen „identitären Verkrampfungen“ führen, die schon jetzt zu beobachten sind und die weit über die Wahlerfolge der sogenannten „extremen Rechten“ oder der „nationaler Populisten“ hinausgehen. Man sieht das auch bei den „Pegida-Demonstranten“ in Dresden: Das sind nicht alles NPD-Wähler! Genauso lesen in Deutschland nicht nur NPD-Wähler Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, und in Frankreich kaufen nicht nur die Anhänger des Front National Michel Houellebecqs neuen Roman „Soumission“ (Unterwerfung), in dem er die Fiktion einer muslimisch umgestalteten Französischen Republik entwirft. Es gibt daher eine Verantwortung der demokratischen, europäischen Rechten, etwas zum Multikulturalismus, zur Einwanderung oder zum Platz der Muslime in der Gesellschaft zu sagen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer letzten Rede bemerkenswert reagiert, indem sie sagte: „Pegida ist nicht akzeptabel, und hier sind die Gründe, warum!“ Das heißt aber natürlich nicht, dass es keiner Diskussion über die Grenzen des Multikulturalismus bedürfte. Es gab in Deutschland die Debatte um „Leitkultur“ und die sollte man überall neu eröffnen. In Europa existiert eine vorherrschende Kultur und die ist weder muslimisch noch jüdisch, sondern christlich, auch wenn sie säkularisiert ist. Sie existiert unterschwellig, bestimmt das Denken der Mehrheit der Individuen und prägte unsere Institutionen und unsere Demokratie. Auch die muslimischen Bürger dieses Landes müssen sich in die vorherrschende Kultur einfügen. Sie mögen ihre Werte behalten, das Recht haben, ihre religiösen Riten zu vollziehen, und sich immer wieder auf ihre Herkunftskultur beziehen. Doch müssen sie wissen: Europa hat ein Fundament von Werten, das ihnen in manchem fremd sein mag, das sie aber gleichwohl respektieren müssen.
Unter welchen Bedingungen entsteht islamistischer Terrorismus in Frankreich und Europa?
Jean-Yves Camus: Natürlich ist ein Teil der muslimischen Jugend in Europa ökonomisch im Abseits: oft arbeitslos, manchmal ohne Ausbildung und nicht selten Opfer von Diskriminierung. Das ist nicht zu bestreiten. Da gibt es Verbitterung. Aber wir wissen auch, dass die Europäer, die sich als „Dschihadisten“ betätigen, nicht zur Unterschicht gehören: Mohamed Mehra hatte einen Beruf, und die Terroristen von London gingen zur Universität. Ich sage deshalb besonders der Linken, der ich mich politisch nahe fühle: Wir müssen aufhören mit der Kultur der Entschuldigung! Man kann sich als Opfer der Diskriminierung fühlen, weil es sie gibt. Doch rechtfertigt keine Verbitterung und keine Marginalisierung Massaker wie das in Paris. Die ermordeten Journalisten waren Linke. Sie engagierten sich für die „sans-papiers“ und die Einwanderer. Sie engagierten sich für die Integration.
Warum verachten die islamischen Terroristen überhaupt den Westen und seine Werte?
Jean-Yves Camus: Es ist mehr als Verachtung: Sie negieren sie. Was mich besonders stört, ist die Unfähigkeit, einzusehen, dass man sein Recht nicht durchsetzen kann, wenn man in der Minderheit ist. Man kann ja Verachtung haben für die Gesellschaft, in der man lebt. Doch kann man nicht Gesetze gegen die Mehrheit durchsetzen. Ich denke an radikale Islamisten wie die aus der Gruppe von Al-Muhajiroun in England. Sie verlangten, die Fahne des Kalifats auf dem Buckingham-Palast zu hissen und die Scharia einzuführen. Doch das ist nicht Bestandteil der englischen Kultur! Diese Leute sind in England in der Minderheit und nicht die Besitzer des Landes!
Was kann der Westen gegen den Terrorismus unternehmen oder müssen wir damit zu leben lernen?
Jean-Yves Camus: Der französische Premierminister hat zu Recht erklärt, es gibt kein „Null-Risiko“. Tatsächlich besteht immer die Möglichkeit, dass jemand ein Selbstmordattentat begeht, selbst wenn er keinen Sprengstoffgürtel hat. Wir müssen wissen: Diese Leute lieben den Tod, wollen den Tod und suchen den Tod. Deshalb erscheint mir auch die Wiedereinführung der Todesstrafe, wie sie etwa Marine Le Pen in Frankreich fordert, als ungeeignet, Attentate zu verhindern.
Müssen wir unsere „offene Gesellschaft“ zumachen?
Jean-Yves Camus: Nein. Es gab niemals in der europäischen Geschichte einen geschlossenen Kontinent. Und selbst wenn man überall in Europa Stacheldrahtverhaue errichtet, wie in Ceuta und Melilla im spanischen Marokko – man sieht es an den Booten mit den illegalen Einwanderern, die an unsere Küsten gelangen: Europa ist keine Festung. Es ist unmöglich, sich in einer globalisierten Welt abzuschotten und Migrationsströmen zu verschließen. Vor allem da einige Länder Migration brauchen. Natürlich werden andere Länder die Migrationsbarrieren erhöhen wollen. Das ist eine politische Debatte. Doch das wirkliche Problem ist, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem Recht auf freie Religionsausübung der Minderheiten und der Verpflichtung, die Kultur von Europa zu respektieren. Und die besagt: „Die Religion an ihrem Platz, die Politik an ihrem Platz.“
Brauchen wir eine neue Sicherheitspolitik?
Jean-Yves Camus: Wir brauchen mehr sicherheitspolitische Koordination zwischen den europäischen und den nichteuropäischen Ländern, denn ein Teil des Problems ist die mangelnde Kooperation mit einigen Mittelmeeranrainern. In Frankreich zum Beispiel hätten wir ein Sicherheitssystem wie ein Sieb, wenn wir nicht mit Algerien, Marokko und Tunesien zusammenarbeiten würden. Wir müssen auch mit den USA kooperieren. Und wir brauchen eine europäische Immigrations- und Sicherheitspolitik. Ich glaube, dass die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Staaten eher gut ist. Überall wurden in Europa Anschläge vereitelt, bei denen die Attentäter aus dem einen Land kamen, aber in einem anderen verhaftet wurden. Die polnische Polizei etwa nahm eine Person fest, die einen terroristischen Akt in Deutschland plante. Mehdi Nemmouche verübte in Brüssel ein Attentat, wurde aber in Marseille festgenommen. Natürlich ist das System weiter zu verbessern, und die wirkliche Aufgabe besteht darin, die Kooperation auf einige Mittelmeeranrainerstaaten und den Mittleren Osten auszudehnen.
In Frankreich punktet der Front National mit Islamfeindlichkeit. Nun kommt das Attentat in Paris hinzu. Lautet jetzt die Alternative: Präsidentin Frankreichs wird Marine Le Pen oder ein muslimischer Präsident, um Le Pen zu verhindern – so wie es Michel Houellebecq in seinem Roman beschreibt?
Jean-Yves Camus: Was Michel Houellebecq beschreibt, ist reine Literatur. Denn 99 Prozent der Muslime in Frankreich haben keine Lust, eine Partei zu gründen. Was den Front National anbelangt, so würde Marine Le Pen in die Stichwahl gelangen, wenn heute Präsidentschaftswahlen wären. Doch darüber zu spekulieren, was dann passieren würde, ist müßig: Wir kennen die Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 2017 nicht. Wir wissen nicht, ob der Kandidat der Rechten Nicolas Sarkozy oder Alain Juppé heißt, wir wissen nicht, ob François Hollande oder Jean-Luc Mélenchon antritt. Wir wissen nur, was die Umfragen zeigen: Danach würde Marine Le Pen von Alain Juppé geschlagen. Von ihm glaubt man, Stimmen der linken Wähler im ersten Wahlgang auf sich zu vereinen.
Jean-Yves Camus, geboren 1958 in Châtenay-Malabry (Frankreich), Politikwissenschaftler und Rechtsextremismusexperte, Institut de Relations Internationales et Stratégiques, Paris (Frankreich).
Das Gespräch führte Michael Böhm am 9. Januar 2015. Übersetzung aus dem Französischen: Michael Böhm, Berlin.