Welche Bilanz ziehen Sie nach zehn Jahren EU-Mitgliedschaft Litauens?
Vytautas Landsbergis: Diese zehn Jahre in der EU sind ein sehr wichtiger historischer Abschnitt der litauischen Geschichte. Zusammen befinden wir uns in einer wichtigen historischen Zeitperiode für die Geschichte Europas, die sich schon über sechzig Jahre erstreckt. Ihr Scheitern würde für Litauen ein grauenhaftes Unglück bedeuten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Europa auf eine große Probe gestellt. Diese Probe gilt dem Völkerfrieden und dem Zusammenhalt als Gegengewicht zu Unruhen von außen sowie der Stärkung und Erweiterung des Friedensraumes der Europäischen Union, die auf dem guten Willen ihrer Mitglieder beruhen. Völker entscheiden sich für den Frieden. Gegen diese Richtung und dieses Modell steht die posttotalitäre russische Hegemonie, die sich auf die wirtschaftliche Macht und die militärisch-psychologische Gewalt stützt. Litauen, Mitglied der Europäischen Union, ist ein Anrainerstaat, der den Atem der ehemaligen Metropole, eines gierigen Hegemonen, spürt. Aus diesem Grund ist die EU-Mitgliedschaft Litauens eine unentbehrliche Voraussetzung für sein Bestehen, Freiheit und Würde.
Wie ist es gelungen, dass sich neue und insbesondere neue, kleinere Mitgliedstaaten in der EU Gehör verschafft haben?
Vytautas Landsbergis: Gehör in der EU haben sie sich durch ihre aktive Haltung, internes Selbstbewusstsein und ihr Wahrnehmungsvermögen der politischen Umgebung verschafft.
Vor dem Hintergrund der europäischen Finanzkrise: Wie ist Ihre Meinung zu einer Entwicklung in einem „Europa mit zwei Geschwindigkeiten“?
Vytautas Landsbergis: Mich interessiert eine „nackte“ Wirtschaft nicht. Ich bin kein Marxist, sondern ein bündelnder und kreativer Geist, auf den unter anderem auch die Wirtschaft angewiesen ist. Deswegen denke ich immer öfter über eine Geisteskrise Europas, über Konsumismus, Habgier und Unehrlichkeit nach. Darin sehe ich die größte Gefahr. „Zwei Geschwindigkeiten“ oder zwanzig Geschwindigkeiten sollten auf keinen Fall die Konzentration auf den Menschen und die Menschlichkeit unterminieren. Wer misst diesen wirtschaftlichen Fortschritt?
Welche Rolle spielt die Ostseekooperation für Europa und welche Dynamik wird im Ostseeraum gesehen?
Vytautas Landsbergis: Die Ostsee ist das neu entdeckte zweite Mittelmeer, ein europäisches Binnenmeer, das uns vereinigt und vereinigen wird, wenn wir es nicht zerstören. Ich vermisse eine positive Dynamik bei der Bewahrung der lebendigen Ostsee. Sie ist mehr als eine Pfütze für den Transport. Sie ist ein sterbendes Meer und wir lassen es zu, dass es stirbt. Die Rolle der Ostseeanrainer ist zwiespältig. Wir sollten unseren Wohlstand nicht um den Preis einer toten Ostsee schaffen.
Wie wird das Verhältnis zu Russland gesehen?
Vytautas Landsbergis: Das Verhältnis wird durch postkolonialistische oder neoimperialistische Syndrome einer ehemaligen Metropole belastet. Russland ist leider nicht fähig, europäisch zu sein, und strebt auch gar nicht danach. Es betrachtet die Europäische Union als seinen Rivalen, der durch energiewirtschaftliche, Informations- und politische Mittel subordiniert werden muss. Gerade jetzt [schon vor dem Eingreifen auf der Krim, Anmerkung der Redaktion] sehen und spüren wir in Litauen, wie diese Mittel konkret eingesetzt werden.
Und wie schätzen Sie die Entwicklungen in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken ein?
Vytautas Landsbergis: Die ehemaligen Sowjetrepubliken leiden unter dem Druck des postsowjetischen Erbes. Die Befreiung von diesem Erbe wird durch die Bemühung des gegenwärtigen Russlands, Europäisierungsprozesse zu blockieren und sie aufzuhalten, erschwert.
Vytautas Landsbergis, geboren 1932 in Kaunas (Litauen), als Vorsitzender des provisorischen Parlaments („Seimas“) erstes Staatsoberhaupt Litauens nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1990. Er war von 1996 bis 2000 Parlamentspräsident und ist heute Mitglied des Europäischen Parlaments.
Das Gespräch führte Norbert Beckmann-Dierkes, Leiter des Büros Lettland und Litauen der Konrad-Adenauer-Stiftung.