Manche finden es immer noch ziemlich unanständig, dass an der Hafenmole von Konstanz seit 1993 eine neun Meter hohe Kokotte mit breit ausladenden Brüsten und einem wissenden Lächeln im Gesicht die Besucher der Stadt empfängt. Peter Lenk hat sich für das üppige Weibsbild von Balzacs „Tolldreisten Geschichten“ inspirieren lassen und ihm den Namen „Imperia“ gegeben. Aber niemand könnte den geistigen Hintergrund und die jahrhundertelange Nachwirkung des Konstanzer Konzils vor 600 Jahren (1414–1418) besser verkörpern als diese Kurtisane: Sie trägt zwei nackte Männlein auf den emporgestreckten Händen, das eine mit der Kaiserkrone, das andere mit der päpstlichen Tiara auf dem Kopf. Und die monumentale Figur dreht sich auf ihrem Sockel, provozierend langsam, aber unablässig.
„Imperia“ macht dem Betrachter klar, dass Kirchenpolitik, sogar Theologie damals viel von einem Machtspiel an sich hatten und dass sich die Beteiligten gern überschätzten. Darin, dass sie sich dreht, liegt ebenfalls eine Aussage: Jede Epoche macht sich ihr eigenes Bild von der Kirchenversammlung und ihren Ideen, und die Konstanzer Konzilsgeschichte ist noch lange nicht zu Ende.
Drei Päpste, ein König und ein todgeweihter Reformer prägten das Bild dieses vier Jahre dauernden ersten europäischen Gipfeltreffens. Von den rund 2.300 Teilnehmern war interessanterweise nur ein Zehntel Bischof. Der Rest: Fürsten, Grafen, Gesandte sogar von afrikanischen und asiatischen Herrschern, Mönche, Universitätstheologen. Die politischen Majestäten, die Kardinäle und die anderen hohen Herrschaften aus Rom und Canterbury, Nowgorod und Valencia, Paris, Prag und Äthiopien brachten ein riesiges Gefolge mit, allein 1.700 Musikanten und 700 Huren sollen sich in Konstanz (7.000 Einwohner) getummelt haben.
Der Anlass des Großereignisses war scheinbar eine reine Kirchenangelegenheit: Nur wenige Jahre nach der sogenannten babylonischen Gefangenschaft des Papsttums in Avignon (1309–1376) lieferte die Kirchenspitze der Welt erneut ein unwürdiges Schauspiel: Zwei Päpste – jeder mit einem vollständigen Apparat von Kardinälen, Kurienbeamten und Hoftheologen – machten einander den Stuhl Petri streitig. Der innerkirchliche Konflikt lähmte die Politik in ganz Europa, das unter dem großen Krieg zwischen England und Frankreich und vielen kleinen Kriegen mit den üblichen Begleiterscheinungen – zerstörte Ortschaften, Seuchen, Hungersnöte – litt und dringend eine Instanz mit moralischer Autorität gebraucht hätte, um Frieden zu schaffen und Gerechtigkeit herzustellen.
1409 versuchen hundert Bischöfe auf dem Konzil von Pisa den Befreiungsschlag, setzen beide konkurrierenden Päpste ab – einen Spanier und einen Venezianer – und wählen einen neuen, einen Neapolitaner. Doch die beiden Abgesetzten erkennen die Entscheidung nicht an, jetzt hat die Christenheit drei Päpste. Der römischdeutsche König Sigismund aus dem Haus der Luxemburger (zwei Jahrzehnte später wird er Kaiser werden) ergreift die Initiative und beruft für das Jahr 1414 ein neues Konzil nach Konstanz ein, nicht, wie vom neapolitanischen Papst Johannes XXIII. gewünscht, nach Rom oder Bologna: Konstanz gehört nicht zum Machtbereich der konkurrierenden Päpste, sondern ist freie Reichsstadt, das Wasser ist sauber, und es gibt Schnecken und Frösche für die an Gourmetküche gewöhnten Kardinäle.
Pontifex im Schnee
Papst Johannes verunglückt bei seiner Reise über die Alpen am Arlberg, sein Wagen stürzt um, der Pontifex fällt in den Schnee. Ein böses Omen, raunen die Chronisten, ein „Papststurz“! In der Tat passt das Missgeschick zu der kirchengeschichtlichen Wende, die sich mit den Konzilien des 15. Jahrhunderts vollzieht: Der Papst ist nicht mehr das unangefochtene, „von niemandem zu richtende“ Oberhaupt einer hierarchischen Pyramide. Die Kirche beginnt sich vielmehr als eine Versammlung von Gläubigen zu verstehen, welcher der Papst zu dienen hat – ein Papst, der durchaus Anspruch auf Gefolgschaft und Gehorsam hat, aber von seinen Mandanten auch im Namen des Evangeliums zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn er sein Amt nachlässig oder zum Schaden der Kirche ausübt. Repräsentant dieser Versammlung von Gläubigen ist das allgemeine Konzil (concilium generale), das seine Gewalt unmittelbar von Christus hat und deshalb über allen Gliedern der Kirche steht, auch über dem Papst.
So die Theorie des „Konziliarismus“, die bereits seit dem 12. Jahrhundert diskutiert wird und darauf basiert, dass die Kirche eine corporatio, eine Körperschaft aus Haupt und Gliedern, darstellt, die nur zusammen ein Ganzes bilden. Schon im 12. Jahrhundert findet sich in den Glossen zum Decretum Gratiani, zum kirchlichen Gesetzbuch, der brisante Satz: „Was alle angeht, muss von allen gebilligt werden.“ Das heißt, es geht nicht um eine revolutionäre Emanzipation von Rom und vom Papst, sondern im Gegenteil um dessen Einbindung in die Kirche. Nicht demokratische Kontrolle kirchlicher Autorität ist angesagt, sondern deren gesamtkirchliche Rückbindung.
Eine gewaltige Sehnsucht nach Heilung, Reform und Neuaufbruch richtet sich auf die Konstanzer Zusammenkunft: „Möge doch dieses Konzil die Zwangsgewalt einschränken und zum Stillstand bringen, welche die Päpste sich zu Unrecht angeeignet haben!“, hofft Dietrich von Niem, Jurist und Historiker an der römischen Kurie. Deshalb stellt sich das Konzil selbst drei Aufgaben: die Beendigung des Schismas an der Kirchenspitze (causa unionis), die Beseitigung innerkirchlicher Missstände (causa reformationis) und die Gewinnung einer neuen Einheit in verschiedenen Fragen der Sakramentenlehre und der Verkündigung (causa fidei).
Segensreicher Skandal
Das Konzil beginnt schleppend. Keiner weiß so recht, wer von den verschiedenen Päpsten den Weg freimachen soll und ob man, wenn man alle drei absetzt, am Ende dann nicht – nach dem Beispiel von Pisa – vier Päpste haben wird. Die Versammlung gewinnt an Fahrt, als die Entscheidung fällt, nach „Nationen“ abstimmen zu lassen – wie es an den Universitäten üblich ist – und nicht die Einzelstimmen zu zählen. So büßen die Italiener, die zahlreich vertreten sind, aber jetzt nur noch eine Nation neben den Deutschen (einschließlich Osteuropa), Franzosen, Engländern, später Spaniern bilden, ihre Blockademöglichkeit ein.
Doch dann geschieht das Unerhörte: Papst Johannes, der seine Felle davonschwimmen sieht, flieht am 20. März 1415, als Knappe verkleidet, aus Konstanz und betreibt von seinen verschiedenen Zufluchtsorten aus die Auflösung des Konzils, das ihm von Anfang an lästig war. Für die Kirchenversammlung ist dieser Skandal ein Segen, denn jetzt beginnt sie um ihre Selbstachtung zu kämpfen, und jetzt gibt es auch plötzlich die Gelegenheit, die Idee des Konziliarismus am konkreten Fall zu erproben: Ist die Kirche auch ohne Papst handlungsfähig? Hat das Konzil die Kompetenz, die Einheit der Kirche wiederherzustellen? Hat es diese Kompetenz von Christus? Muss ein seine Amtspflichten nicht mehr wahrnehmender Papst einer Konzilsentscheidung gehorchen?
„Scheidungsbrief“ zwischen Kirche und Papst
Er muss, sagen die Konzilsväter. Jeder Gläubige, der sich einem Konzilsbeschluss „hartnäckig widersetzt“, muss bestraft werden – auch wenn es sich um den Papst handelt. Die letzten Zweifler hat Jean Charlier de Gerson, Kanzler der Pariser Universität und europäischer Startheologe, mit einer flammenden Predigt am 23. März gewonnen: Christus und Kirche, nicht aber Papst und Kirche seien durch ein „eheliches Band“ verbunden; deshalb könnten sich Papst und Kirche gegenseitig „den Scheidungsbrief geben“, nicht aber Christus und seine Kirche. Ein Konzil könne auch ohne ausdrückliche Zustimmung eines Papstes zusammentreten, wenn er sich weigere, wichtige Gegenstände zu beschließen.
Und jetzt geht es Schlag auf Schlag: Am 6. April 1415 verabschiedet das Konzil das Dekret Haec sancta („Das Heil ist gegenwärtig“), in dem die Oberhoheit der Kirchenversammlung über den Papst festgestellt wird; bis heute ist umstritten, ob sich diese Entscheidung nur auf die damalige konkrete Notsituation bezieht oder ob sie allgemeine Gültigkeit hat. Am 29. Mai wird Papst Johannes abgesetzt, mit absurden Begründungen: Seinen Vorgänger soll er vergiftet, Nonnen soll er vergewaltigt haben. Am 4. Juli tritt Gregor XII. zurück, der Venezianer; am 26. Juli 1417 wird endlich auch Benedikt XIII. abgesetzt, der Franzose, der dieses Urteil nie akzeptiert.
Johannes XXIII. wird aus der Papstliste gestrichen, sein Name bleibt aber ein Schandfleck in der Kirchengeschichte, den der einstige Kirchenhistoriker Angelo Roncalli 1958 ganz unbefangen tilgt, als er zum Papst gewählt wird und sich „Johannes XXIII.“ nennt. Am 11. November 1417 kürt das in einer großen Konstanzer Kaufhalle tagende Konklave tatsächlich einen neuen Papst, Martin V., dem man allerdings erst die Priesterweihe erteilen muss (Kardinal ist er schon).
Das heißt, den ersten Tagesordnungspunkt, die causa unionis, hat das Konzil ganz passabel erledigt; die detaillierten Glaubensfragen und vor allem die Kirchenreform bleiben auf der Strecke. Eine Ikone der allgemeinen Sehnsucht nach Rückkehr zu einer schlichten, armen Kirche des armen Jesus und der kleinen Leute, den böhmischen Reformer Jan Hus, hat das Konzil so nebenher ohne viel Diskussion auf den Scheiterhaufen geschickt – am 6. Juli 1415 –, obwohl er mit einem Geleitbrief von König Sigismund nach Konstanz gekommen war. Er hatte den Fehler begangen, Irrtümern, die er nach seiner Überzeugung nicht begangen hatte, nicht abschwören zu wollen. Ein Jahr später folgt ihm sein Glaubensbruder Hieronymus von Prag.
Dem englischen Vordenker der Reformation, John Wyclif, kann das Konzil nichts mehr anhaben, er ist schon lange tot. Aber man beschließt, die Gebeine des „Ketzers“ zu exhumieren, zu verbrennen und die Asche in den nächsten Fluss zu streuen. Die Folgen solcher Abschreckungsurteile sind katastrophal, vor allem in Böhmen. Wenigstens gegen Ende der Versammlung tun die Konzilsväter doch noch einen zaghaften Reformschritt: Im Dekret Frequens wird festgesetzt, dass in Zukunft alle zehn Jahre ein Konzil stattfinden solle.
Was die römische Kurie mit Erfolg sabotieren wird. Der Ertrag des Konstanzer Konzils wird in der Fachwelt ohnehin als mäßig beurteilt. Statt drei Päpsten gab es jetzt zwar wieder einen, aber die theologischen Hintergrundfragen wurden genauso vertagt wie die dringend notwendige Reform einer verkommenen, auf Macht und Profit fixierten Hierarchie und einer träge und lieblos betriebenen Seelsorge.
Erträge des Konzils?
Ob das Dekret Haec sancta mit seiner Aufwertung der Kompetenz eines Konzils gegenüber dem Papst nur eine disziplinäre Notstandsregelung gewesen ist oder ob ihm bleibende, vielleicht sogar dogmatische Bedeutung zukommt, ist nach wie vor strittig. Der italienische Konzilshistoriker Giuseppe Alberigo jedenfalls sieht eine große Hoffnung darin, dass hier das höchste kirchliche Amt verfassungsgemäß an den Glauben der Gesamtkirche „rückgebunden“ werde.
Eher skeptisch beurteilt der Freiburger Geschichtswissenschaftler Thomas Martin Buck die Ergebnisse von Konstanz: Paradox erscheine es, dass „es zwar der Konstanzer Konziliarismus war, der das reformunfähige Papsttum aus seiner selbst verschuldeten Krise geführt hat, der konziliare Gedanke in der Folgezeit gleichzeitig aber derart […] abgelehnt wurde, dass er für das römische Papsttum bis in die Reformationszeit hinein so etwas wie ein Schreckgespenst darstellte“.
Die „Konzilshalle“ am Bodensee, wo das einzige Konklave auf deutschem Boden stattfand, kann heute noch besichtigt werden; die 45 Sitzungen der Konzilsväter (und die Verurteilung des Jan Hus) fanden allerdings im Münster statt. Die Stadt Konstanz und das Land Baden-Württemberg haben zum 600-jährigen Konzilsjubiläum einen wahren Erinnerungsmarathon gestartet, mit Musikfestival, Freilichttheater, Radtouren entlang der Fluchtroute von Papst Johannes und einer Geocaching-Tour „Auf Schatzsuche durch die Konzilsstadt Konstanz“. Im November sollen Intellektuelle aus ganz Europa eine „Konstanzer Erklärung“ zu den gegenwärtigen Krisensymptomen und Spaltungstendenzen des Kontinents vorstellen.
Unbestrittenes Highlight der Feiern ist die baden-württembergische Landesausstellung zum Konstanzer Konzil mit 300 spektakulären Exponaten aus ganz Europa, vom Bischofsstab des abgesetzten Papstes Benedikt XIII. bis zu Abschriften der Konzilschronik des Konstanzer „Boulevardjournalisten“ (wenn der Ausdruck gestattet ist) Ulrich von Richental, der die Verhandlungen im Münster genauso scharf beobachtet hat wie den vom Konzilstrubel geprägten Alltag in der Stadt. Seine reich illustrierte Chronik wirkt wie eine frühe Graphic Novel und passt gut zu einer weiteren Schau im Archäologischen Landesmuseum, wo die Konzilsereignisse faszinierend exakt mit Playmobil-Figuren nachgestellt sind.
Christian Feldmann, geboren 1950 in Regensburg, Journalist, Rundfunk- und Buchautor, mehr als fünfzig Buchveröffentlichungen, in sechzehn Sprachen übersetzt.