Der Euro? Freiheit, Frieden und Wohlstand, versichern die einen. Die anderen sprechen von einer Brüsseler Kunstwährung, vom inflationären Zwangsgeld oder schlicht vom „Teuro“. Der Euro ist Sinnbild von Konvergenz und Krise, ein Gegenstand lebhafter Diskussionen in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft.
In den 1970er-Jahren glaubte der französische Finanzexperte Jacques Rueff, Europa entstehe einzig und allein durch eine gemeinsame Währung. Berufen konnte er sich auf den Stufenplan zur Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion von 1971 – eine Reaktion auf die US-amerikanische Geldpolitik der späten 1960er-Jahre – und die Inflation des Dollar. Doch die Verwirklichung der Union stockte, bis der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors in den späten 1980er-Jahren den Prozess voranbrachte. Er schlug ein System europäischer Zentralbanken, feste Wechselkurse und die sukzessive Ersetzung nationaler Währungen durch eine Gemeinschaftswährung vor. Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht 1992 wurden dann sowohl die Europäische Union als auch die gemeinsame Währung Realität. Die 1998 gegründete Europäische Zentralbank sollte zudem für eine einheitliche Geldpolitik sorgen.
Schon Mitte der 1990er-Jahre malten Skeptiker wie die „Initiative pro DM“ Schreckensbilder der Gemeinschaftswährung an die Innenwände des europäischen Hauses. Heute reicht die Palette der Eurokritiker von der „Alternative für Deutschland“ über Peter Gauweiler und Thilo Sarrazin bis hin zu Hans-Olaf Henkel und Henrik M. Broder. Sie fürchten eine Art Währungssozialismus und das Ende des Wohlstands in Europa.
Gründungsmythos überstrapaziert
Angesichts der jüngsten Entwicklungen und des Streits um den Euro – so meint der Bonner Historiker Dominik Geppert – dürfe man nicht länger den Gründungsmythos des vereinten Europa überstrapazieren. Die Narration von den friedenstiftenden Vereinigten Staaten von Europa habe sich in Zeiten der Spaltung Europas in Gläubiger- und Schuldnerstaaten erschöpft. Der Euro, längst im Fadenkreuz internationaler Besorgnis, bewirke zusehends eine Zerreißprobe der EU. Ursache, so Geppert, seien historische Fehlentwicklungen, die es zu korrigieren gelte. Im Verstoß gegen die No-bail-out-Klausel und in der fehlenden Möglichkeit der Auf- und Abwertung nationaler Währungen durch den Euro lägen zwei Hauptprobleme. Zudem werde die Europäische Zentralbank (EZB) als Instrument zur Finanzierung nationalstaatlicher Defizite missbraucht.
Geppert stützt sich in seiner Argumentation einerseits auf Quellen aus dem Finanzteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Verweise auf Europa-Artikel der Zeitung machen rund ein Fünftel der Literaturangaben aus. Die zweite Säule seiner Argumentation ist die britische Sichtweise: Geppert greift Argumente des britischen Historikers Timothy Garton Ash, des britischen Investmentbankers David Marsh sowie die Ausführungen der Bloomberg-Rede des britischen Premierministers David Cameron im Januar 2013 auf. Er plädiert für eine Korrektur der Euro-Politik und des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der einem System variabler Koalitionen innerhalb der EU weichen solle. Die neue, dezentrale und flexible Ordnung sei zwar mehr als nur eine Freihandelszone, ob hierzu jedoch in Zukunft auch die Währungsunion gehören müsse, sei „eine durchaus offene Frage“. Den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, erachtet er allerdings für nicht sinnvoll. Denn die Rettungspolitik der EU verfolge die Idee eines Europa, das es nicht gebe.
Gepperts These von der „fatalen Sprengkraft des Euro“ wird begleitet von zahlreichen historischen Exkursionen. Sein Essay ist allerdings nicht auf eine systematische Analyse der historischen Entwicklung angelegt.
Trend zur Konvergenz
Eine solche leistet hingegen der Münchner Historiker Andreas Wirsching in seinem Buch Der Preis der Freiheit, das einem mächtigen historischen Trend der europäischen Einigung nachgeht: der Konvergenz.
Die „Geschichte Europas in unserer Zeit“ – so der Untertitel – blickt aus der Gegenwart zurück auf die vergangenen dreißig Jahre, auf den Zusammenbruch des Kommunismus und dessen Rückwirkung auf den Westen, die Aufbruchsstimmung zu Beginn der 1990er-Jahre, den Jugoslawienkrieg und die Transformation der Märkte. Wirsching schildert die Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten in die Weltwirtschaft, die Massenmigration und Massenkultur, den Populismus in Europa und die Erinnerungskultur.
Die Diskussion über den Euro bettet er in weltgeschichtliche Zusammenhänge ein. Die Hauptquelle der europäischen Krise sei in den USA zu suchen, genauer: in der Deregulierung und Liberalisierung des Finanzmarktes seit den 1980er-Jahren. Der Mentalitätswandel der Marktteilnehmer und die stark expansive Politik des billigen Geldes hätten letztlich auch den amerikanischen Immobilienmarkt im 21. Jahrhundert überhitzt. Auslöser war die US-Notenbank, die den Leitzins Ende der 1990er-Jahre innerhalb kürzester Zeit um drei Prozentpunkte auf 3,5 Prozent senkte. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 betrug der Zinssatz nur noch ein Prozent. Die günstigen Kredite führten in der Konsequenz zu einer Immobilienblase, da bis zu diesem Zeitpunkt gängige Kreditvergabekriterien außer Kraft gesetzt wurden. Sogenannte Subprime-Hypotheken boten auch Menschen ohne Einkommen oder Vermögen die Möglichkeit, Geld aufzunehmen. Die Eigenheimpreise stiegen und reizten zu Spekulationen. Die Blase wuchs, und der Immobilienmarkt schien plötzlich Teil eines gigantischen Monopoly-Spiels zu sein.
Mit Verzögerung schwappte die Finanzkrise auf Europa über. 2008 wurde sie zur Wirtschaftskrise, weil auch der Kreditverkehr zum Erliegen kam und der Realwirtschaft liquide Mittel fehlten. Griechenlands gefälschte Haushaltsdaten und die massiven Verstöße gegen die Konvergenzkriterien der EU führten schließlich zu einer politischen Krise. Die Schuldenkrise mutierte zur Vertrauenskrise und die Währungs- zur Haftungsunion.
Offen und dialektisch
Wirsching zeichnet diese Entwicklung eindrucksvoll nach, warnt am Ende jedoch alle Euro-Skeptiker vor falschen Idealvorstellungen Europas, die die Realität in eine negative Perspektive rücken würden: „Aus der Selbstreflexion über die gewünschte Zielvorstellung entwickelt sich die radikale Infragestellung, nämlich die ‚Krise‘ Europas.“ Die Vorstellung von der Zukunft Europas und die Diagnose der Krise gehörten, so Wirsching weiter, untrennbar zusammen und müssten kognitiv aufeinander bezogen werden. Wer die Währungsunion rückgängig machen wolle, glaube an ein Europa, das es nicht gebe.
Der Autor betont die Offenheit der historischen Entwicklung und die Dialektik der europäischen Geschichte: Angleichung in der Ungleichheit, Vereinheitlichung bei fortschreitender Differenzierung und Desintegration inmitten beschleunigter Integration. Unverkennbar sei der Konvergenzschub, der mit der Einigung einhergehe und trotz des krisenhaften Gestaltwandels Europas stets voranschreite. Indizes der Konvergenz erblickt Wirsching in der Befreiung aus dem totalitären System des Kommunismus (politische Konvergenz), damit zusammenhängend im Übergang von der Plan- zur Sozialen Marktwirtschaft (ökonomische Konvergenz) und schließlich in der Freizügigkeit und der Relativierung der Grenzen (kulturelle Konvergenz). Insofern begreift er Europa heute als einen gigantischen Lernort. Die politischen Aufgaben könnten nur im Rahmen bestehender Institutionen gelöst werden. Den historischen Pfad zu verlassen, verbiete der Blick auf die politischen, finanziellen und kulturellen Kosten. „Mehr Europa“ laute die Losung gerade in Zeiten der Krise.
Provokativ oder sachlich
Andreas Wirsching fokussiert deutlich stärker die historische Entwicklung und liefert nicht nur eine sachgerechte Einschätzung der gegenwärtigen Krisendebatte, sondern auch eine äußerst gelungene und sehr lesenswerte Studie über das Europa des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Die Europäer entscheiden am Ende selbst, wer von beiden Recht behalten soll.
Dominik Geppert verzichtet in seinem vorgestellten Buch ganz bewusst auf eine wissenschaftliche Diskussion und eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte der europäischen Integration. Der Titel ist provokant und soll zur Diskussion anregen, der Inhalt ist deshalb essayistisch angelegt. Seine Thesen greifen aktuelle Tendenzen der öffentlichen Diskussion auf. Dabei orientiert er sich an der Meinung der britischen Öffentlichkeit, die vereinzelt auch in Deutschland zu vernehmen ist. Ob dies einer konstruktiven Diskussion auf europäischer Ebene zuträglich ist, sei dahingestellt.
Jürgen Nielsen-Sikora, geboren 1973 in Köln, Leiter der Abteilung Zeitgeschichte, Wissenschaftliche Dienste/ Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.