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picture-alliance / John Edward Linden/Arcaid | John Edward Linden
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde 1959 in Straßburg von den Mitgliedstaaten des Europarates eingerichtet. Seit 1998 ist der EGMR ein ständig tagender Gerichtshof.

Am 9. September 1949 nahm die Parlamentarische Versammlung des Europarates den ersten Entwurf der EMRK an. Diese wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und trat nach Ratifizierung von zehn Staaten, darunter auch Deutschland, in Kraft.

Seither wurde die EMRK in mehrfacher Hinsicht fortentwickelt. Normativ geschah dies durch Fakultativprotokolle, die nur für Vertragsstaaten gelten, die das entsprechende Zusatzprotokoll ratifiziert haben, sowie durch Änderungsprotokolle, die den Text der EMRK selbst ändern und der Ratifizierung durch alle Vertragsstaaten bedürfen. Eine bedeutende und ständige Weiterentwicklung erfuhr und erfährt die EMRK aber auch durch die Rechtsprechung des EGMR, der diese als living instrument versteht, das sich den stets verändernden sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Herausforderungen anpasst.

Aber nicht nur die materiellen Vorgaben der EMRK haben sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert, sondern auch das Kontrollsystem zu deren Einhaltung. Das ursprünglich sehr komplizierte und schwerfällige Beschwerdesystem wurde durch das am 1. November 1998 in Kraft getretene 11. Protokoll zur EMRK grundlegend reformiert und verändert, um die steigende Zahl von Individualbeschwerden bewältigen zu können. Artikel 34 EMRK regelt heute ausdrücklich das Individualbeschwerderecht, aber auch die Verpflichtung, dessen wirksame Ausübung nicht zu behindern. Heute kann damit jeder Mensch, egal welcher Nationalität, unmittelbar durch Individualbeschwerde beim EGMR eine Verletzung seiner Konventionsrechte im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten der EMRK geltend machen.

Der Gerichtshof übernimmt damit letztlich die Funktion eines europäischen Verfassungsgerichts, das einheitliche Rechtsgrundsätze beim Schutz der Menschenrechte in ganz Europa gewährleistet.

 

Reformbedürftiges Überwachungssystem

Wenn auch kein echter Vollstreckungsmechanismus der Urteile des EGMR existiert, regelt Artikel 46 EMRK doch die Verbindlichkeit der Urteile des EGMR inter partes, zwischen den Parteien. Hinzu kommt die allgemeine Verbindlichkeit der EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR gemäß Artikel 1 EMRK. Zur Überwachung der Durchführung der EGMR-Urteile existiert ein – wenn auch heute stark reformbedürftiges, zur Durchsetzung der vielen Urteile zu träges – Überwachungssystem beim Ministerkomitee. Dieses kommt in bisher nur vier jährlichen Sitzungen seiner Aufgabe als Wächter der Durchsetzung der Urteile des EGMR in Fällen nach, in denen es an einer Durchsetzung fehlt, oder in solchen, in denen diese unzureichend erscheint.

Obwohl immer wieder Staaten die Urteile des EGMR nicht oder nicht vollständig befolgten, wie etwa Russland, das heute infolge des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine nicht mehr Vertragsstaat des Europarates ist, so machte gerade diese Verbindlichkeit der Entscheidungen des EGMR, die überwiegend von den Vertragsstaaten respektiert wurde und wird, die Individualbeschwerde beim EGMR bis heute zum Erfolgsmodell. 2022 wurden 45.528, 2023 34.674 und 2024 28.784 Beschwerden einem der Spruchkörper des EGMR vorgelegt. 2024 verkündete der EGMR in 1.102 Fällen Urteile, in denen er zumindest eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle feststellte. Darunter waren 302 gegen Russland (gegen das auch noch nach dessen Ausscheiden aus dem Europarat Urteile zu Verletzungen gefällt werden, die bis zum Außerkrafttreten der EMRK in Russland sechs Monate nach dessen Ausschluss aus dem Europarat am 16. März 2022 erfolgten, also auch noch solche in den ersten sechs Kriegsmonaten), 153 gegen die Ukraine, 73 gegen die Türkei, 51 gegen Italien und 49 gegen Rumänien.

Diese Zahlen ließen den EGMR allerdings auch zum Opfer seines eigenen Erfolges werden und führten zu dessen starker Belastung. Dieser begegnen der Europarat und der EGMR mit einer ständigen Reform des Schutzsystems der EMRK, die auch den immer wieder laut werdenden Ruf der Staaten nach Unabhängigkeit bei der Gestaltung ihres nationalen Rechts und einem weiten Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung der EMRK berücksichtigt. So hat etwa das am 1. Juni 2010 in Kraft getretene 14. Protokoll zu weiteren erheblichen Änderungen des Rechtsschutzsystems geführt. Damit ist eine Entlastung des EGMR durch die erstmals mögliche Entscheidung offensichtlich unbegründeter und offensichtlich unzulässiger Beschwerden durch Einzelrichterinnen und Einzelrichter realisiert worden. Das 14. Protokoll hat es dem EGMR zudem ermöglicht, Individualbeschwerden nun auch dann für unzulässig zu erklären, wenn kein erheblicher Nachteil entstanden ist, soweit die Achtung der Menschenrechte nicht eine Prüfung des EGMR erfordert und die Sache von einem staatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist. Das am 1. August 2021 in Kraft getretene 15. Protokoll hat mit Wirkung für alle letzten innerstaatlichen Entscheidungen, die nach dem 1. Februar 2022 ergangen sind, die bislang sechsmonatige Frist nach Beendigung des jeweiligen nationalen Rechtswegs zur Anrufung des EGMR auf vier Monate verkürzt. Auch wurden damit das Subsidiaritätsprinzip und der Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten in der Präambel zur EMRK verankert.

Dieses damit gestärkte Subsidiaritätsprinzip gewährleistet die Vorrangigkeit des nationalen Rechtsschutzes. Es verlangt formal, dass alle nach dem nationalen Recht zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe, in Deutschland einschließlich der Verfassungsbeschwerde, erschöpft sind, bevor der EGMR angerufen wird. Es verlangt in seiner materiellen Ausprägung jedoch auch, dass in diesem Rechtsweg zumindest der Sache nach bereits diejenigen Argumente vorgetragen wurden, die mit der Individualbeschwerde beim EGMR im Lichte von dessen Rechtsprechung zur EMRK vorgetragen werden. In Deutschland akzeptiert der EGMR dabei bisher mit Blick auf die weitgehende Übereinstimmung der Vorgaben aus der EMRK und aus dem Grundgesetz (GG) eine rein verfassungsrechtliche Argumentation mit den jeweils einschlägigen „Parallelnormen“ des GG.

Was den materiellen Schutzumfang der EMRK angeht, ist der immer noch nicht allgemein bekannte Umstand hervorzuheben, dass die EMRK und ihre Zusatzprotokolle praktisch den gleichen Grundrechtskatalog ihr Eigen nennen wie das deutsche Grundgesetz. Eine Ausnahme gilt lediglich für Artikel 12 GG (den Berufsschutz), den es jedenfalls in einer ausdrücklich normierten Form in der EMRK nicht gibt, wenn ihn auch die Rechtsprechung des EGMR heute zumindest partiell aus Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) ableitet. Da die EMRK unmittelbar in Deutschland im Rang eines einfachen Bundesgesetzes gilt, aber auch das Bundesverfassungsgericht bindet, ist sie mit dem Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts damit sowohl für alle Gerichte in allen Instanzen einschließlich des Bundesverfassungsgerichts in beinahe jedem Rechtsgebiet verbindliches Auslegungsinstrument zur Interpretation des deutschen Rechts als auch sind nach erfolgloser Rechtswegerschöpfung Beschwerden zum EGMR in beinahe allen Rechtsgebieten zu allen Fragen möglich, mit denen sich der Katalog des Grundgesetzes ebenfalls befasst.

So enthält die EMRK neben den klassischen Freiheitsrechten wie etwa der Meinungsäußerungsfreiheit in Artikel 10 EMRK auch umfangreiche materielle Garantien etwa zum Familienrecht gemäß Artikel 8 EMRK, mit dem Eigentumsschutz in Artikel 1 des Ersten Zusatzprotokolls aber auch etwa zum Wirtschaftsrecht sowie alle wesentlichen Verfahrensgarantien unter anderem in Artikel 6 EMRK (faires Verfahren). Dank dieses weiten Geltungsbereiches der EMRK hat sich – trotz der im europäischen Vergleich relativ niedrigen Verurteilungsquote der Bundesrepublik Deutschland beim EGMR – heute eine gefestigte Rechtsprechung des EGMR entwickelt, die auch dem deutschen Rechtsanwender bereits im deutschen Verfahren immer wieder hilfreiche Argumente an die Hand gibt. Das gilt sowohl für eine Vielzahl von grundlegenden Judikaten, die zu anderen Vertragsstaaten ergangen sind und die gleichwohl gemäß Artikel 1 EMRK auch für deutsche Gerichte verbindlich sind, als auch für Urteile des EGMR unmittelbar zum deutschen Recht, das zu vielen bedeutenden Rechtsfragen zwischenzeitlich durch Rechtsprechung des EGMR geprägt ist.

 

Verfahren gegen den deutschen Staat

So beeinflussten das deutsche Recht nachhaltig etwa die in der deutschen Rechtsprechung, oftmals aber auch in deutsches Gesetzesrecht umgesetzten Urteile des EGMR in Sachen M. gegen Deutschland zum Recht der Sicherungsverwahrung, in Sachen Öztürk gegen Deutschland zur Geltung strafrechtlicher Verfahrensgarantien im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht, in Sachen Lietzow gegen Deutschland unter anderem zum Akteneinsichtsrecht Inhaftierter, in Sachen Böhmer gegen Deutschland zur Unschuldsvermutung in Fällen des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung ohne rechtskräftiges Urteil, in Sachen Hümmer gegen Deutschland zur Gewährung des Konfrontationsrechts im Strafverfahren, in Sachen Akbay und andere gegen Deutschland zur Tatprovokation durch einen Agent Provocateur, in Sachen Madaus gegen Deutschland zur Gewährung mindestens einer mündlichen Verhandlung in einem Verfahren mit zwei Instanzen, soweit keine gewichtigen Gründe entgegenstehen, in Sachen von Hannover gegen Deutschland zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch Prominenter, in Sachen Rumpf gegen Deutschland zum Gebot gerichtlichen Rechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren, in Sachen Heinisch gegen Deutschland zur Meinungsäußerungsfreiheit einer Arbeitnehmerin bei Kritik gegenüber dem Arbeitgeber, in Sachen Görgülü gegen Deutschland zum Sorgerecht sowie in Sachen Anayo gegen Deutschland zum Umgangsrecht des biologischen Vaters und in Sachen Zaunegger gegen Deutschland zum Sorgerecht auch nichtehelicher Väter.

Der Einfluss auf das nationale Recht in solchen Vertragsstaaten des Europarates, die deutlich mehr Verurteilungen des EGMR zu verzeichnen haben, ist – zumindest in vielen Ländern – entsprechend noch deutlicher. Das gilt etwa für die Urteile zur polnischen Disziplinarkammer, die bis vor Kurzem in Polen als Instrument staatlicher Kontrolle über die Richterwahl und -besetzung eine tiefe Justizkrise hervorgerufen hatte, zu deren Beendigung die Judikatur des EGMR gemeinsam mit der des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) jedenfalls einen wertvollen Beitrag geleistet haben dürfte.

Trotz Höhen und Tiefen insbesondere bei der Befolgung der Urteile des EGMR zeigt der Blick auf die wechselhafte Historie der EMRK der letzten 75 Jahre, dass das Schutzsystem der EMRK und des EGMR im internationalen Vergleich das wohl weltweit stärkste Instrumentarium zur Durchsetzung von Menschenrechten war und ist. Kein anderes Menschenrechtssystem der Welt hat bisher ein vergleichbares Potenzial an rechtsgestaltender Mitwirkung entfaltet. Von dieser profitieren in den aktuell 46 Mitgliedstaaten des Europarates immerhin etwa 676 Million Menschen, ja letztlich sogar noch mehr, wenn man bedenkt, dass eine zulässige Beschwerde beim EGMR nicht zwingend voraussetzt, dass der Betroffene einer EMRK-Verletzung Bürger eines der Vertragsstaaten des Europarates sein muss.

 

Stefan von Raumer, geboren 1965 in München, Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV), Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses des DAV, Vorsitzender der Deutschen Delegation des Rates der Anwaltschaften der Europäischen Gemeinschaft („Commission de Conseil des Barreaux européens“, CCBE).