Asset Publisher

Was Inklusion in der Praxis bedeutet

Asset Publisher

In der aktuellen Auseinandersetzung um Inklusion im Bildungsbereich meint der Begriff vor allem den uneingeschränkten Zugang „behinderter“ Kinder und Jugendlicher zu allen Bildungseinrichtungen. Diese Diskussion ist nicht neu, wie gelegentlich behauptet wird. Sie wurde bereits in den 1970er-Jahren, damals unter dem Stichwort „Integration“, geführt, und auch in den Zeiten davor gab es immer wieder Impulse, die die Thematik „Wie kann das Recht der (‚behinderten‘) Kinder auf bestmögliche Förderung und Entwicklung der eigenen Fähigkeiten durchgesetzt werden?“ in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rückten.

Insofern führt man heute die alten Diskussionen über Fragen der Chancengleichheit, der Gültigkeit des Bildungsversprechens „Jeder kann es schaffen, wenn er sich anstrengt!“ und des Diskriminierungsverbotes. Dass diese Ziele heute leider noch nicht erreicht sind, wie viele Studien zur Selektivität des deutschen Bildungssystems belegen, wirft kein gutes Licht auf die bildungspolitisch und pädagogisch Verantwortlichen, zeigt aber eben auch, dass Inklusion nicht verordnet werden kann, sondern immer wieder neu entwickelt werden muss.

Die Zuspitzung der Diskussion auf die Frage „Beschulung im Regel- oder im Förderschulsystem“ führt dabei nicht weiter. Im Gegenteil: Sie vernebelt den Blick, denn allen Beteiligten an der Basis, also in den Schulen, ist längst klar – und die Praxis beweist dies täglich –, dass es nicht den einen Königsweg gibt; ein System ist nicht per se besser geeignet als ein anderes. Es hängt insbesondere von den Bedingungen und Voraussetzungen der Kinder ab, wo sie am besten unterrichtet werden können. Alle Schulen, die sich in der Vergangenheit aus Überzeugung auf den Weg gemacht haben, die Zielsetzung „bestmögliche Entfaltung der Fähigkeiten der Kinder“ zu realisieren, haben Erfolge erzielt. Aufgrund der jeweiligen Rahmenbedingungen vielleicht nicht immer die, die sie sich erhofften – aber ganz sicher waren die Ergebnisse nicht beeinflusst durch die Stempel Förderschule, Grund-, Gesamt-, Realschule und so weiter. In diesem Zusammenhang wird oft mit Zahlen operiert, die genau das nahelegen sollen: Dass nämlich Schülerinnen und Schüler aus Förderschulen schlechtere Abschlüsse erreichen und seltener direkt in eine Berufsausbildung einmünden als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler aus den Regelschulen.[1]

 

Keine Umpolung „auf Knopfdruck“

Wenn es also stimmt, dass die wichtigste Grundlage für die Wahl der Schule die Fähigkeiten und Bedingungen sind, die das Kind mitbringt, ist entscheidend, was die Eltern von ihr erwarten. Erst wenn auch in diesem Punkt Klarheit besteht, kann die angefragte Schule entscheiden, ob sie mit ihrem bereits bestehenden oder entstehenden Profil dem Kind (auch im Sinne seiner Eltern) ein passendes Angebot machen kann. Dies gilt – zumindest gegenwärtig – für alle Schulen unabhängig davon, ob sie unter dem Etikett „Regelschule“ oder „Förderschule“ firmieren. Dass in absehbarer Zukunft alle Regelschulen diese Frage stets uneingeschränkt mit „Ja“ beantworten werden, ist höchst unwahrscheinlich.

Auch eine Aufstockung oder Umschichtung der Mittel im Bildungsbereich wird an dieser Situation kurz- oder mittelfristig nichts ändern, denn zur Realisierung der politischen Vorgabe „Inklusion“ benötigt man Menschen, die sich dieser Aufgabe stellen. Angesichts des Paradigmenwechsels, der hier vorgenommen wird, erscheint es utopisch, schnelle Erfolge zu erwarten, denn die jahrzehntelang praktizierte Ausgliederung von Kindern und Jugendlichen in Schulen für Sprach-/Seh-/Hör-/Lern-/Körperbehinderte und für geistig behinderte Menschen – um nur die bekanntesten aufzuzählen – hat natürlich das Bewusstsein, auch von Lehrerinnen und Lehrern, geprägt und wird sich nicht „auf Knopfdruck“ umpolen lassen. Die politisch schon lange überfällige eindeutige Positionierung in Richtung Inklusion ist nur ein wichtiger Schritt. Mit Leben erfüllen und realisieren können ihn nur die Schulen und die dort arbeitenden Kolleginnen und Kollegen. Deshalb müssen ihnen endlich die Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, die sie benötigen, um ihre Einrichtung entsprechend umzugestalten.

Das bedeutet, dass die Mittel im Bildungsbereich umgeschichtet und mit großer Sicherheit für eine bestimmte Zeit aufgestockt werden müssen. Aber selbst bei entsprechender Förderung wird nicht jede Schule inklusiven Unterricht anbieten wollen. Die in den letzten Jahren forcierte Profilbildung an den einzelnen Einrichtungen in Verbindung mit den vielen neuen Aufgaben, denen sie sich stellen mussten – die Stichworte dazu sind: vier- oder sechsjährige Grundstufe, Abschlussprüfungen, G8 –, wird dazu führen, dass auch andere Schwerpunkte gesetzt werden. Außerdem darf erneut, unter Verweis auf die Bedingungen des Kindes und die Wünsche der Eltern, nicht verschwiegen werden, dass eine Beschulung in einer Förderschule unter Umständen der bessere Weg sein kann.

 

Vorurteile abbauen

Aus dem bisherigen Argumentationszusammenhang folgt, dass es nicht ausreicht, Inklusion nur im Bildungszusammenhang zu denken. Denn was nutzt zum Beispiel einem sprachbehinderten Kind ein Abschluss an einer Regelschule, wenn es anschließend keinen Ausbildungsplatz findet? Als wir uns Mitte der 1990er-Jahre an der Weißfrauenschule, einer Sprachheilschule der Stadt Frankfurt am Main,[2] aufmachten, das Bildungsversprechen wieder erfahrbar zu machen,[3] ging es vor allem darum, Betriebe zu finden, die den Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen wollten, und diese in Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern zu bringen. Denn die Vorstellungen der „Personalchefs“ von „Sprachbehinderten“ waren in der Regel von Vorurteilen geprägt. Über fortwährende Begegnungen während zwanzigwöchiger Betriebspraktika – verbunden mit der Übereinkunft, diese vonseiten des Betriebs jederzeit abbrechen zu können – gelang es der Schule, langfristig einen stabilen Pool von Betrieben aufzubauen, der es achtzig Prozent der Schulabsolventen heute ermöglicht, bereits während ihrer Schulzeit einen Ausbildungsvertrag zu erhalten. Am Beispiel der Suche nach Ausbildungsbetrieben wird einer der größten Vorteile der inklusiven Beschulung deutlich. Die „Nichtbehinderten“ lernen „Behinderte“ bereits beim Schuleintritt beziehungsweise während des Besuchs des Kindergartens und damit zu einem Zeitpunkt kennen, an dem ihre Vorstellungen noch nicht von Vorurteilen geprägt sind. Sie haben so die Chance, zum Beispiel gehörlose oder blinde Menschen unvoreingenommen in einem gemeinsamen Lebenszusammenhang zu erleben. Dies kann dazu führen, dass die Merkmale, die im Allgemeinen zur Definition „behindert“ führen, gar nicht als solche wahrgenommen werden und für die entstehenden Beziehungen keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dieser Vorteil ist weit höher einzuschätzen als der, den die vielen Verweise auf Studien belegen, dass nämlich „heterogene Lerngruppen positive Effekte auf die Lernentwicklung haben“.[4]

 

Mut zur freien Entwicklung

Inklusion kann im Schulbereich nicht verordnet werden. Wenn sie aber in den Mittelpunkt einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion gerückt wird, wie dies derzeit der Fall ist, kann dadurch die Entscheidungsfindung in den Schulen positiv beeinflusst werden. Die konkreten Wege, die die Regelschulen und Förderschulen bei der Umsetzung des Projekts, inklusiv zu unterrichten, einschlagen, werden sich lokal und individuell sehr stark unterscheiden.[5] Eine Normierung durch Politik und Wissenschaft sollte behutsam erfolgen und durch positive Anreize – genügend Ressourcen, weitgehende Autonomie bei deren Verwaltung – ergänzt werden. Maßstab für eine gelungene Inklusion sind Lebensläufe, die den Kindern, nicht nur den klassischerweise unter dem Begriff „Behinderte“ subsumierten, alle Chancen böten, sich ihren Wünschen gemäß zu entwickeln. Ein wichtiger Indikator ist in diesem Zusammenhang sicherlich der gelungene Übergang in die Arbeitswelt (erster Arbeitsmarkt), unabhängig vom Zeitpunkt, zu dem er erfolgt. Ein anderer Indikator ist die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (Vereine, Parteien, Organisationen aller Art, Beziehungen et cetera). Eine Schule, die nach diesem Prinzip arbeitet, wird sich ständig verändern und sich immer wieder neuen Gegebenheiten anpassen müssen. Dabei muss sie auch Fehler machen dürfen. Aufgabe des Staates, konkret der Schulaufsicht, sollte es sein, den Akteuren die Angst davor zu nehmen. Sie sollte Mut machen und nicht immer nur darauf verweisen, was nicht geht. Wie die Menschen ihr Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt beurteilen werden, wird sich jedoch nie voraussagen lassen. Insofern enthält unser Erfolgskriterium immer auch ein Stück Ungewissheit.


Jens Bachmann, geboren 1949 in Wetzlar, ehemaliger Pädagogischer Leiter der Weißfrauenschule, Sprachheilschule, Frankfurt am Main.


[1] Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung: Inklusion in Deutschland – eine bildungspolitische Analyse, Gütersloh 2013.
[2] Jens Bachmann/Bernhard Jäger: „Modell zur Verbesserung der Berufsreife“, in: Peter Arnoldy/ Birgit Traub (Hrsg.): Sprachentwicklungsstörungen früh erkennen und behandeln, Karlsruhe 2005. | Jens Bachmann: „Erfolgskonzept: Frühe Berufsorientierung“, in: Christine Henry-Huthmacher/ Elisabeth Hoffmann (Hrsg.): Aufstieg durch (Aus-)Bildung – Der schwierige Weg zum Azubi, Sankt Augustin/Berlin 2011.
[3] Die Vermittlungsquote in Ausbildung (erster Arbeitsmarkt) lag damals an unserer und den meisten anderen Frankfurter Hauptschulen unter zwei Prozent!
[4] Rolf Werning in seiner Stellungnahme zum Fachgespräch „Stand der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Bildungsbereich in Deutschland“, Berlin.
[5] Christine Henry-Huthmacher/Elisabeth Hoffmann (Hrsg.): Aufstieg durch (Aus-)Bildung – Der schwierige Weg zum Azubi, Sankt Augustin/Berlin 2011.