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Die Folgen der Digitalisierung für Kultur und Psyche

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Digitalisierung bezeichnet nicht nur eine technologische Veränderung, sondern auch folgenreiche kulturelle Transformationen, die als grundlegende gesellschaftliche Zäsur verstanden werden können. Diese Wandlungen sind außerordentlich schnell, vielgestaltig und in ihren Konsequenzen erst in Teilen absehbar. Sie verändern Produktion und Konsum, Arbeit und Freizeit, Beziehungen und individuelle Entwicklungen. In Deutschland gibt es zwar in einigen Bereichen infrastrukturellen Nachholbedarf; gleichwohl ist die Mehrheit der Bevölkerung digital vernetzt. Der Trend der hohen Zuwachsraten beim mobilen Internet setzt sich fort. Und nicht nur für viele Heranwachsende gilt, dass sie mehr oder minder permanent potenziell online verbunden sind.

Digitale Praktiken relativieren daher zwangsläufig in Teilen das Primat der nicht digitalen sozialen Welt. Entferntes rückt näher, wird medial erlebbar, während das Nahe an Bedeutung verlieren kann, wenn Kommunikation und leibliche Präsenz auseinanderstreben. Die Digitalisierung der Gesellschaft bildet insofern auch durch die Überlagerungen, Parallelisierungen und Fragmentierungen von Online- und Offline-Kommunikation eine neue kulturelle Matrix des Zusammenlebens und Aufwachsens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und somit neue Bedingungen für Kultur und Psyche.

 

Grundlegende Transformation des Sozialen

 

Digitale Medien sind für Information und die Optimierung von Abläufen durch schnelle und einfache Zugänge zu Wissen unverzichtbar geworden. Sie bieten zudem Optionen, sich scheinbar unbegrenzt zu verbinden oder das Eigene zu vervielfältigen: potenziell überall mit anderen in Kontakt und im Geschehen involviert zu sein. Entsprechend ist auch der Griff zum Smartphone selbstverständlich in viele Abläufe mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen eingebaut: Eben kurz etwas nachzuschauen oder etwas zu bestellen, kann Teil des Wartens auf die Antwort eines Kollegen sein; private Botschaften zu verschicken, kann damit verknüpft sein, sich in Social Media umzusehen oder „Breaking News“ zu lesen. Immer wieder rasch zwischendurch Benachrichtigungen zu prüfen in der Hoffnung auf gute Neuigkeiten, kann zum Mittel gegen Unruhe werden, diese aber auch erst recht hervorrufen. Ängste sollen in Schach gehalten werden durch stetes In-Kontakt-bleiben, werden jedoch zugleich wachgehalten. Ärger kann im Netz Ventile finden und stößt dabei auf immer neue mediale Auslöser. Über digitale Medien verändern sich zudem die Formen der Regulation von Beziehungen und Affekten: Nicht nur die kommunikative und informative Funktion der digitalen Verbindungen ist relevant, sondern auch die leiblich-affektive Nähe des Mediums – der Hardware, der Apps oder Nachrichten – ist von besonderer Bedeutung. In diesem Sinne sind neue Verflechtungen und Verschiebungen zwischen leiblich-affektiven und kognitiv-rationalen Facetten psychischer und mentaler Verarbeitung zu beobachten, die auch neue Herausforderungen schaffen für gesellschaftliche Verständigung und politische Diskurse.

Digitale Medien binden ihre Nutzer. Möglichst unwiderstehlich zu sein, ist Produktziel jeder Marketing-Kampagne und Ziel algorithmischer Optimierungen, um möglichst viele Daten zu erlangen. Und kein Unternehmen, keine Organisation, keine Akteure, die auf Resonanz angewiesen sind, können es sich erlauben, nicht online am Wettbewerb um Aufmerksamkeit teilzuhaben. Diese Bindekraft der digitalen Praktiken und Verheißungen hat zudem eine hochgradig folgenreiche Kehrseite, insofern sie komplementär dem Offline-Geschehen Aufmerksamkeit entzieht. Im Zuge dessen verändern Beziehungen ihre Gestalt und Dynamik, die Formen des Zusammen- und Getrenntseins, des Da- oder Dort-Seins, Kontakt und Abschied, Intimität und Distanz.

Interviews mit Jugendlichen zeigen beispielsweise, dass Tagesabläufe auf typische Weise gerahmt sind: morgens einschalten und dann den Tag über bis zum Einschlafen irgendwie dranbleiben. Dass die Aufmerksamkeit für Online-Bezüge vielfach dominiert, zeigt sich indes nicht nur in der Dauer, sondern auch in Relevanzverschiebungen. Offline-Geschehen wirkt oft auch emotional eher sekundär, mit Effekten für das, was als Innen- und Außenwelt empfunden wird. Die leib- und gefühlsnahen Online-Bezüge werden oft wie ein Teil der Innenwelt erlebt, die Offline-Außenwelt teils eher als Material für die Online-Innenwelt. Wie es eine Jugendliche beschrieb: Im Blick auf eine intensive Online-Phase gehe es mitunter nur noch darum, „dass ich irgendwie irgendwas poste und unbedingt Kommentare haben will ‒ und dass ich da irgendwie das Leben nicht mehr so gelebt habe“.

 

Bestätigung und Scham

 

Im Zuge dieser Verschiebungen können sich die inneren Bilder vom Selbst und von anderen wandeln. Auch Affektregulation verändert sich: Auge, Finger und Medium sind ganz nah affektiv verbunden und involviert, wenn zum Beispiel Selbstwertempfinden über das Posten in der Hoffnung auf Likes oder Follower zu regulieren versucht wird. Durch die enge Verschmelzung von Sehen, Fühlen, Klicken entsteht eine neue Art von Binnenraum, als intimer Kern des Eigenen oder naher Beziehungen erlebbar. Zugleich sind die Praktiken vielfach digital öffentlich. Jugendliche bringen überdies die sozialen Zwänge zum Ausdruck: dabeizubleiben, Aufmerksamkeit zu erzeugen, sich gut darzustellen im steten Vergleich.

Die Wünsche, gesehen zu werden, gut anzukommen, sind zentrale Motive der Bindung an digitale Medien und der Verschiebung von Aufmerksamkeiten. Dies gilt nicht nur für Heranwachsende, auch wenn diese besonders empfänglich dafür sind und ihre Entwicklungen dadurch geprägt werden. Bei Erwachsenen geht es um andere Inhalte, andere Vergleichshorizonte; aber auch sie sind affiziert, Akteure und Betroffene des kulturell-psychischen digitalen Wandels in der ambivalent erlebten Vergleichs- und Optimierungskultur.

Die Formate der sozialen Medien verstärken Optimierungsdruck und den Wettbewerb um Status, Aufmerksamkeit und Bestätigung. Indem digital Quoten oder Likes, Absatz- oder Followerzahlen gemessen und für andere transparent werden, entsteht eine neue kulturelle Praxis des permanenten Abgleichs. Das Zahlenranking ist für viele eine Basis der Bestimmung des eigenen sozialen Standorts, obwohl der Vergleichshorizont unüberschaubar ist. Viele beschreiben, wie sie leiden, wenn sie in Relation zu ausgewählten anderen schlecht dastehen. Und doch oder auch gerade deshalb üben die Social-Media-Vergleiche, die immer weiter ausgedehnt werden können, vielfach einen unwiderstehlichen Sog aus.

In diesem Sinne begünstigen die Möglichkeiten der sozialen Medien auch Zirkel aus Wunsch und Enttäuschung, bei denen die Selbstwertempfindungen abhängig werden von den externen Signalen wie Likes und Followern. Sie werden durch das Medium verstärkt, da es Erfüllung verspricht – das Richtige, Optimale zu finden oder gefunden zu werden –, aber zugleich permanent frustriert. Auch daraus kann eine Art doppelter Scham resultieren: einmal, wenn die Werte schlecht sind, wenn die eigene Ersetzbarkeit hervortritt, aber auch Scham über die ausgeprägte Selbstwertabhängigkeit von diesen Praktiken. Zumal, wenn es noch dazu um die von Jugendlichen und Erwachsenen oftmals geschilderte Produktion von Schein in Social Media geht – um geschönte Selbstdarstellung der anderen, aber auch der eigenen Präsentation. Aus damit verknüpfter Selbstentfremdung und Scham erwachsen neue Bedürftigkeiten und neuer Druck. Parallel zur vielfach ansteigenden Nutzungsintensität nehmen auch Ambivalenzen und Unbehagen zu.

 

Kultur und Psyche im digitalen Wandel

 

Der Nutzen der Digitalisierung muss kaum betont werden. Nicht nur die Corona-Pandemie hat verdeutlicht, wie sehr die soziale Welt von den digitalen Möglichkeiten profitiert. Technisch gibt es zudem unausgeschöpfte produktive Potenziale. Zugleich gilt es, die neuen Herausforderungen und Konstellationen in ihren Auswirkungen genau zu analysieren.

Kulturell und psychisch auf besondere Weisen folgenreich sind die gewandelten Bedeutungen von Raum und Zeit, An- und Abwesenheit, Nähe und Distanz in Verbindung mit einer Omnipräsenz der digitalen Kommunikationsweisen, die jederzeit in die Intimität hineinreichen können. Digitale Formate verändern dadurch Beziehungsgestaltungen mit produktiven und unproduktiven Potenzialen. Intrapsychisch verschieben sich durch digitale Formate auch Wahrnehmungen der Innen- und Außenwelt. Diese Verschiebungen werden teils erzeugt, teils intensiviert durch die enorme Bindekraft der digitalen Medien. Die digital verstärkte Optimierungslogik erzeugt Abhängigkeiten von der Bewertung der anderen im Netz. Der immens vergrößerte Horizont des für alle sichtbaren Vergleichs wirkt sich aus auf die Selbstwertregulation.

Aber auch für Getrenntheit und Bezogenheit gibt es neue Bedingungen und Herausforderungen. Nicht nur die Überlappungen von Familien- und Arbeitszeiten haben durch Digitalisierung zugenommen, wodurch immer wieder ausgehandelt werden muss, was wo hingehört, wann abzuschalten ist. Darüber hinaus können es digitale Medien zum einen teils ermöglichen, teils auch suggerieren, jederzeit Getrenntheit überbrücken zu können – und zum andern, jederzeit die jeweiligen Beziehungskontexte wechseln zu können. Dies sind Vorteile, die die meisten Menschen ständig nutzen, und viele Jugendliche sind besonders virtuose Meister im Registerwechsel. Die digitalen Möglichkeiten bedienen aber auch defensive Mechanismen: Trennungsvermeidung durch stetes Online-Sein oder, komplementär, Abwehr von Bindung und Begegnung etwa durch Hin- und Herswitchen zwischen on- und offline ist Teil einer normalen, von allen geteilten Praxis. Und je mehr digitale Welten geradezu omnipräsent den Alltag bestimmen, desto stärker wirken die damit verknüpften Mechanismen und Sogkräfte – wodurch sich kulturell und individuell-psychisch auch neue Bedeutungen von Normalität und Pathologie ergeben.

 

Vera King, geboren 1960 in Schramberg, Professorin für Soziologie und Sozialpsychologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt am Main, Mitherausgeberin der Zeitschriften „Psyche“ und „Psychosozial“.

 

Zum Thema

King, Vera / Gerisch, Benigna (Hrsg.): Digitalisierung. Folgen für Kultur und Psyche, Doppelheft der Zeitschrift PSYCHE 73, Heft 9/10, September 2019.

King, Vera / Gerisch, Benigna / Rosa, Hartmut (Hrsg.): Lost in Perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.

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