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Das nationale Lagebild, neue Phänomene und Bekämpfungsstrategien

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Bedrohungen für die Sicherheit können die unterschiedlichsten Ursachen haben – eine ist die Kriminalität, insbesondere die Organisierte Kriminalität (OK). Auf den ersten Blick wird sie oft weniger wahrgenommen, denn sie agiert im Verborgenen. Außerdem weisen OK-Gruppierungen zunehmend globale Strukturen und Vernetzungen auf, die auf aktuelle Entwicklungen flexibel und sogar innovativ reagieren. Dies erfordert eine kontinuierliche Anpassung der Bekämpfungsstrategien und Zusammenarbeitsstrukturen auf nationaler und internationaler, insbesondere europäischer Ebene.

Einen Überblick über das sogenannte Hellfeld der Organisierten Kriminalität in Deutschland bietet das jährlich vom Bundeskriminalamt (BKA) erstellte Bundeslagebild Organisierte Kriminalität (OK-Lage). Trotz dynamischer globaler Entwicklungen stellt sich die OK-Lage als vergleichsweise beständig dar. So liegt die Zahl der Ermittlungsverfahren seit einer Dekade bei durchschnittlich 573 OK-Verfahren pro Jahr, wobei sich die Schwankungen generell in einem Bereich zwischen 550 und 600 Verfahren jährlich bewegen. Die Aktivitätsschwerpunkte der Organisierten Kriminalität liegen in Deutschland unverändert in der Rauschgiftkriminalität (35 Prozent der Verfahren), der Wirtschaftskriminalität (17 Prozent der Verfahren) und der Eigentumskriminalität (15 Prozent der Verfahren). Ein Drittel der Gruppierungen agiert deliktsübergreifend.

 

Heterogene Gruppenstrukturen

 

Bei ungefähr der Hälfte der Verfahren handelt es sich um Fortschreibungen aus dem Vorjahr, bei der anderen um jeweils neu eingeleitete Ermittlungsverfahren. Auch die Zahl der registrierten Tatverdächtigen weist keine auffälligen Schwankungen auf. Aus dieser rein statistischen Betrachtungsweise gehen die internationalen Aspekte der Organisierten Kriminalität bereits deutlich hervor. Fast 75 Prozent der OK-Verfahren weisen heterogene Gruppenstrukturen (das heißt Mitglieder verschiedener Staatsangehörigkeiten) sowie Bezüge ins Ausland auf. Bei zwei Dritteln der Tatverdächtigen handelt es sich um nicht deutsche Tatverdächtige. Insgesamt konnten Verbindungen von OK-Gruppierungen von Deutschland in über einhundert Staaten festgestellt werden. Die häufigsten Bezüge bestehen zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) – allen voran zu den Niederlanden, Spanien, Polen, Frankreich, Belgien und Italien.

Organisierte Kriminalität ist transnationale Kriminalität, wobei Europa als gemeinsamer Aktivitätsraum wahrgenommen wird. Diese Feststellungen deckten sich weitgehend mit den Erkenntnissen des sogenannten SOCTA (Serious and Organised Crime Threat Assessment, 2017), einer durch Europol erstellten Analyse zur Kriminalitätsentwicklung im transnationalen Bereich. Demnach ermittelten die europäischen Strafverfolgungsbehörden gegen mehr als 5.000 OK-Gruppierungen, die internationale Bezüge aufwiesen, und deren Tatverdächtige aus insgesamt über 180 Nationen, davon ungefähr 60 Prozent aus europäischen Staaten, kamen. Auch auf europäischer Ebene agierten circa 45 Prozent der OK-Gruppierungen polykriminell, das heißt deliktsübergreifend. Ihre Aktivitätsschwerpunkte lagen ebenfalls in der Rauschgiftkriminalität (circa 35 Prozent), der Eigentums- und Schleusungskriminalität sowie im Bereich von Betrugsdelikten.

Die Organisierte Kriminalität weist sehr unterschiedliche Formen auf: „Klassische“ Phänomene, die jeder mit dem Begriff verbindet, sind die italienischen und russisch-eurasischen Mafiagruppierungen sowie kriminelle Rockergruppierungen. Ihre Betätigungsfelder umfassen seit jeher Rauschgift- und Eigentumskriminalität, Gewalt- und Waffendelikte sowie Erpressung und Menschenhandel. Die klassischen OK-Gruppierungen suchen auch darüber hinaus permanent neue Geschäftsfelder.

Neuere Phänomene der Organisierten Kriminalität weisen oft betrügerische Strukturen auf, wie etwa bei der Internetkriminalität der sogenannte CEO-Fraud, eine Betrugsmasche zum Nachteil von Firmen durch sogenanntes social engineering. Es erfolgt meist durch Vortäuschung falscher Identitäten – etwa von vermeintlichen Führungskräften in Unternehmen – mit dem Ziel, Überweisungen zu veranlassen. Darüber hinaus zählen Abrechnungsbetrügereien von kriminell agierenden Pflegediensten oder Anlagebetrügereien auf Onlineplattformen zu den neueren Phänomenen der Organisierten Kriminalität. Auch im Kontext der Zuwanderung ergaben sich neue illegale Geschäftsstrukturen, die zunehmend an Professionalität und Organisationstiefe gewinnen – beispielsweise bei der Vermietung von Schrottimmobilien.

In über neunzig Prozent der im vergangenen Jahr geführten OK-Verfahren verwendeten die Gruppierungen zur Begehung ihrer Straftaten gewerbliche oder geschäftliche Strukturen. Ihr Ziel ist stets die Gewinnmaximierung. So agieren sie wie äußerst flexible kriminelle Unternehmen und zeichnen sich durch eine hohe Anpassungsfähigkeit an neue Gegebenheiten aus. Die Erschließung neuer Tatgelegenheiten sowie die Verschleierung und Reinvestition illegaler Gewinne stellen die Strafverfolgungsbehörden fortlaufend vor neue Aufgaben – vor allem, da diese Gruppierungen wie legale Unternehmen arbeitsteilig und transnational agieren und sich die weitreichenden technischen Möglichkeiten zunutze machen, die das Internet und die heutige Telekommunikation zur verschlüsselten Kommunikation bieten. In der globalisierten Welt ist die Organisierte Kriminalität nicht länger räumlich gebunden.

 

Monitoring für neue Phänomene

 

Die 2015 erstellte OK-Bekämpfungskonzeption der Polizeien des Bundes und der Länder sowie des Zolls war ein wichtiger Schritt, um eine stärker abgestimmte polizeiliche Vorgehensweise gegen Phänomene der OK zu erreichen. Als Kernbestandteil der Konzeption wurde der gemeinsame Schwerpunktsetzungsprozess der Kommission Organisierte Kriminalität (KOK) implementiert, um auf aktuelle Schwerpunkte und potenzielle künftige Brennpunkte der Organisierten Kriminalität schnell und bundesweit arbeitsteilig reagieren zu können. Mit diesem sogenannten „KOK-Schwerpunktsetzungsprozess“ wurde ein fortlaufendes Monitoring für neue Phänomene der Organisierten Kriminalität geschaffen.

Im BKA wurde dazu eine Koordinierungsstelle zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (KOST-OK) eingerichtet. Ihr Ziel ist es, die Polizeien von Bund und Ländern in die Lage zu versetzen, länderübergreifende OK-relevante Brennpunkte zu identifizieren, gemeinsam konkrete Maßnahmen für eine Bekämpfung abzuleiten und diese bei jeweils einzurichtenden Bund-Länder-Projekten umzusetzen. Hierzu erfolgt halbjährlich eine bundesweite Erhebung. Die gemeldeten Schwerpunkte werden durch das BKA angereichert und zu Vorschlägen für eine koordinierte, arbeitsteilige und gemeinsame Bekämpfung in Bund und Ländern in Form von Auswerteprojekten oder Ermittlungsverfahren ausgearbeitet. Dieser Prozess führt zu einer hohen Flexibilität und Reaktionsfähigkeit bei neuen Entwicklungen. Auf Basis der bisher durchgeführten Auswerte- und Ermittlungsprojekte kann ein positives Fazit zur Implementierung dieses Prozesses gezogen werden.

 

Bekämpfung von Clankriminalität

 

Bei erkannten Schwerpunkten kommen neben dem projektorientierten Ansatz des „KOK-Prozesses“ auch andere dauerhaft angelegte behördenübergreifende Zusammenarbeitsformen zur Anwendung. Ein aktuelles Beispiel ist die Bund-Länder-Initiative zur Bekämpfung der Clankriminalität (BLICK). Zur intensivierten länderübergreifenden Bekämpfung der Clankriminalität wurde diese Kooperation in Abstimmung zwischen den hauptbetroffenen Ländern Berlin, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie dem Zollkriminalamt, der Bundespolizei und dem BKA eingerichtet. Ziel ist es, die länderübergreifende beziehungsweise internationale Kooperation zu stärken sowie einen gesamtheitlichen Handlungsansatz weiterzuentwickeln.

Um „moderne“ OK effektiv bekämpfen zu können, darf vor nationalen Grenzen nicht haltgemacht werden. Eine enge internationale Verzahnung und Abstimmung insbesondere in Europa ist die Voraussetzung, um nachhaltig gegen international agierende Täterorganisationen intervenieren zu können. Dabei ist sowohl die anlassbezogene als auch die institutionalisierte Zusammenarbeit auf bi- und multilateraler Ebene intensiv zu verfolgen.

Durch den „Ständigen Ausschuss für die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit in der EU“ (Comité permanent de coopération opérationelle en matière de sécurité intérieure, COSI) wurde zur Bekämpfung der organisierten und schweren internationalen Kriminalität der EU Policy Cycle eingerichtet. Auf Grundlage der bereits erwähnten Analyse zur Kriminalitätsentwicklung (SOCTA) werden in einem ersten Schritt aktuelle und künftige Bedrohungsschwerpunkte identifiziert. Diese werden dann durch den COSI als Prioritäten für den EU Policy Cycle festgelegt. Die Ausarbeitung operativer und strategischer Maßnahmen sowie die Kooperation der einzelnen Teilnehmer des EU Policy Cycle in den einzelnen Prioritäten werden über eine Ad-hoc-Managementumgebung (European Multidisciplinary Platform against Criminal Threats, EMPACT) umgesetzt.

Innerhalb Europas nimmt Europol in diesem Prozess als Koordinator eine zentrale Rolle ein; für Deutschland nimmt das BKA die nationale Gesamtkoordination sowie die Vertretung aller deutschen Teilnehmer im europäischen Kontext als National EMPACT Coordinator (NEC) wahr. In diesem Zusammenhang fungiert die KOST-OK des BKA als Impulsgeber für Schwerpunktsetzungen bei Europol sowie im Rahmen des EU Policy Cycle und stellt damit die Verzahnung zu den nationalen Schwerpunkten bei der OK-Bekämpfung sicher.

Aktuell findet der dritte der grundsätzlich vierjährigen EU Policy Cycle (2018–2021) statt. Deutschland beteiligt sich an allen zehn Bekämpfungsschwerpunkten, unter anderem im Bereich Illegale Migration, Menschenhandel, Verbrauchssteuer- und Umsatzsteuerbetrug, Rauschgiftkriminalität, Cybercrime und Organisierte Eigentumskriminalität. Das BKA hat hierbei europaweit die Driver-Funktion für den Schwerpunkt Cybercrime – Attacks against information systems übernommen.

 

Zentraler Player Europol

 

Neben der Koordinierungsrolle im EU Policy Cycle hat sich Europol zu dem zentralen Player bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität in Europa entwickelt. Insbesondere europaweite Analyseprojekte unter Beteiligung der Mitgliedstaaten spielen dabei eine wesentliche Rolle, unter anderem im Bereich Rauschgiftkriminalität, Schleusungskriminalität, Kinderpornographie, Geldwäsche, Vermögensabschöpfung, Menschenhandel und Ausprägungen der Organisierten Kriminalität.

Europol bietet außerdem eine Infrastruktur für Formen der fallbezogenen Zusammenarbeit, indem sie den Mitgliedstaaten Räumlichkeiten und technische Ausstattung zur Verfügung stellt, die beispielsweise von Joint Investigation Teams (JIT) genutzt werden können. Diese „Gemeinsamen Ermittlungsgruppen“, die aufgrund einer für den Einzelfall geschlossenen Vereinbarung der beteiligten Staaten auf Zeit und für einen bestimmten Sachverhalt durch Justiz und Polizeibehörden gebildet werden, haben sich zu einem schlagkräftigen Werkzeug der OK-Bekämpfung in Europa entwickelt. Neben den beteiligten Ländern nehmen daran häufig Europol und meist auch Eurojust (European Union Agency for Criminal Justice Cooperation) auf justizieller Ebene teil.

Darüber hinaus gibt es weitere EU-geförderte Maßnahmen und Projekte, wie etwa das von der EU-Kommission geförderte Projekt ONNET (@on) unter Projektleitung von Italien. Es dient der Bekämpfung polykrimineller transnational agierender Gruppierungen. Derartige Projekte beinhalten neben strategischen Inhalten und Ziele oft auch Möglichkeiten zur finanziellen Förderung der Zusammenarbeit.

Neben den dargestellten Kooperationsformen sind bi- oder multilaterale Partnerschaften einzelner Staaten ein weiterer bedeutender Baustein zur Bekämpfung von Organisierter Kriminalität in Europa. Beispielhaft ist hier die Deutsch-Italienische Task Force (DITF) zur Bekämpfung der italienischen Mafia zu nennen. Die der DITF zugrunde liegende Kooperationsvereinbarung wurde getroffen, um gegenseitigen Austausch, Abgleich und Analyse von Informationen zu fördern und zu intensivieren mit dem Ziel, auf dieser Grundlage gemeinsame Ermittlungsverfahren einleiten zu können. Schließlich sollten auch die implementierten Instrumente der generellen polizeilichen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene nicht unerwähnt bleiben. Diese leisten neben den spezifischen Instrumenten zur gezielten OK-Bekämpfung ebenfalls einen wichtigen Beitrag. Dies gilt insbesondere für die europäischen polizeilichen Fahndungs-, Informations- und Auskunftssysteme.

 

Neue Bekämpfungsstrategien

 

Zur transnationalen Bekämpfung der Organisierten Kriminalität hat sich eine enge Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden in der Europäischen Union unter Koordination von Europol etabliert, in die bei Bedarf auch Drittstaaten eng eingebunden werden. Europa hat zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität eine Vielzahl spezifischer Instrumente entwickelt, die bei den EU-Mitgliedstaaten umfassend akzeptiert und entsprechend angewandt werden. Gleichwohl ist eine fortlaufende Anpassung und Schwerpunktsetzung bei den Bekämpfungsstrategien erforderlich. In diesem Zusammenhang kommt dem weiteren Ausbau und der Fortentwicklung von Europol als Informations- und Koordinationsdrehscheibe besondere Bedeutung zu.

Mit Blick auf den kriminalgeografischen Gesamtraum Europa wird ein besonderes Augenmerk auf eine bestmögliche Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich zu richten sein. Dies erfordert Regelungslagen, die nach dem Brexit eine enge Kooperation der Strafverfolgungsbehörden gewährleisten. Neben dem Informationsaustausch der jeweilig zuständigen Behörden ist insbesondere ein Abkommen zwischen Europol und dem Vereinigten Königreich notwendig, das unter anderem den Austausch von personenbezogenen Daten, Ergebnissen strategischer Analysen und Expertise sowie eine operative Kooperation umfasst. Eine Abtrennung Großbritanniens von den EU-Systemen und damit einhergehende Datenverluste und Kooperationserschwernisse gilt es im Sinne eines transnationalen europäischen Bekämpfungsansatzes zu vermeiden.

 

Stefan Michel, geboren 1960, Leitender Kriminaldirektor, Leiter der Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität, Bundeskriminalamt, Wiesbaden.

Axel Walch, geboren 1982, Kriminaloberrat, Vertretender Leiter des Referats Koordinierungsstelle Organisierte Kriminalität, Zentrale Lage, Früherkennung, OK-Strategie, Bundeskriminalamt, Wiesbaden.

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