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Wie Eltern die Inklusionsversuche an Schulen erleben

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Seit rund zehn Jahren wuppen Familien mit Schulkindern eine Reform nach der anderen. Auch wenn sich die Inhalte pädagogisch unterscheiden, die Startphase bleibt immer gleich: Mehr oder weniger hektisch werden alte Systeme gekippt, um dann zu schauen, wie die Schüler klarkommen. Und siehe da – sie schaffen das! Irgendwie zumindest.

Das ist letztlich kein Wunder, denn leiden die Kinder, springen stets diejenigen rettend ein, die am nächsten dran sind: die Eltern. Sie büffeln mit ihnen, finanzieren Nachhilfe, sitzen lange Abende auf Sonderelternabenden ab. Sie hören müde zu, wenn der Schulleiter erklärt, dass auch er noch nicht mehr Informationen zur jeweiligen Reform habe, aber hoffe, schnell eine Antwort zu bekommen. Sicher sei nur, dass sie kommen werde, es stehe nur noch nicht fest, wie.

Und jetzt also Inklusion. Diese anspruchsvollste aller Schulreformen der letzten Jahre braucht viel Zeit und noch viel mehr Geld, um gelingen zu können. Trotzdem läuft alles wie immer: Das neue Modell muss billiger werden als das alte. Die Gelder, die bislang in die schulische Integrationsarbeit geflossen sind, werden umgeschichtet und gleichzeitig gekürzt. Was die Sache noch schlimmer macht: Dieses Mal können Eltern nicht mit den bewährten Notfall-Strategien einspringen und durch Noch-mehr-Üben oder Nachhilfe gegensteuern. Auch wenn es bislang nur wenige Forschungsergebnisse zum inklusiven Unterricht gibt, so lassen sich doch zwei Tendenzen herausfiltern: Kinder mit Förderbedarf machen gute Fortschritte, für Kinder ohne Förderbedarf ändert sich nichts. Sie lernen nicht mehr und nicht weniger in einer inklusiven Schule im Vergleich zu einer normalen Regelschule. Die Probleme liegen woanders.

 

Wann Ausgrenzung beginnt

Kinder mit Förderbedarf haben es schwer in der Schule. Sie finden selten jemanden, der mit ihnen in der Pause spielt. In der Gruppenarbeit gehören sie nicht zu den Wunschkandidaten, und im Sportunterricht werden sie zuletzt in die Mannschaft gewählt.

In den Grundschulen ist das Problem noch nicht so groß. „Hier gab es genug Feste, an denen Kinder und Eltern gemeinsam teilgenommen haben. Meine Tochter wurde zu Kindergeburtstagen eingeladen. Alles war in dieser Hinsicht gut“, erzählt eine Mutter aus Berlin. Ihre Tochter war vor neun Jahren das erste Kind mit Trisomie 21, das in Berlin-Mitte in eine Regelgrundschule eingeschult wurde. „Wir mussten für diesen Platz kämpfen, aber das hat sich gelohnt.“ Seit dem Schulwechsel nach Klasse 6 sieht es für ihre Tochter anders aus: „Jetzt besucht sie eine inklusive Schule, und die Strukturen, die früher dafür gesorgt haben, dass sie sozial gut eingebunden war, sind weggefallen. Sie hat nur noch einen einzigen Freund aus der Grundschulzeit. Neue Freunde oder Einladungen gibt es für sie nicht mehr.“

Das liegt vor allem daran, dass Jugendliche nicht mehr von ihren Eltern organisiert werden und auch so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie sich von sich aus wenig mit den Bedürfnissen anderer auseinandersetzen. Deshalb brauchen Schulen Experten. Etwa einen Inklusionsbeauftragten, der dafür sorgt, dass Lehrer und Schüler sich in einer großen Gruppe regelmäßig austauschen.

 

„Circle of Friends“

Tatsächlich werden die meisten Kinder mit Handicap ausgegrenzt. Man kann Kindern nicht vorschreiben, mit wem sie spielen und mit wem nicht. Aber man kann ein System entwickeln, mit dessen Hilfe Kinder mit Förderbedarf zu sozialen Kontakten kommen. In England gibt es zum Beispiel den Circle of Friends. Ein solcher Freundeskreis besteht aus einer Gruppe von Schülern, die sich zusammenschließen, um einen Mitschüler zu unterstützen, der droht, in die Isolation abzurutschen.

Das erste Treffen wird von einem Experten angeleitet. Auch der Klassenlehrer ist dabei, weil er künftig die Gruppe führen wird. Danach kommt die Gruppe einmal wöchentlich zusammen, um anstehende Themen zu besprechen, Fortschritte zu feiern und Lösungsideen für auftretende Probleme zu entwickeln. Der Lehrer garantiert mit seiner Anwesenheit, dass Regeln eingehalten werden. Er bemüht sich, eine freundschaftliche Atmosphäre zu schaffen, die gegenseitiges Vertrauen ermöglicht. Aus den Ideen, die von den Schülern für ihren Mitschüler entwickelt werden, hält er sich ganz und gar heraus – unabhängig davon, wie schwierig das Thema ist. Die Aufgabe des Lehrers ist einzig und allein, den Fokus immer wieder auf die Frage zu lenken: „Was wollt ihr tun?“ Wenn keine gute Idee entsteht, dann endet ein Treffen offen und wird zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt. Dieses System hat den Vorteil, dass die eigenen Ideen der Schüler eine viel höhere Akzeptanz haben und so eine größere Kraft entwickeln können.

 

Überforderte Schüler und Lehrer

Erste Versuche mit sogenannten Buddy-Systemen gegenseitiger Kontrolle und Absicherung durch einen direkten Begleiter gibt es auch bei uns. Aber sie laufen nicht unbedingt rund. Wie es ankommt, wenn einzelne Schüler von der Schule zur Unterstützung von anderen Schülern regelrecht abgestellt werden, beschreibt eine Mutter so: „Leider fußt Inklusion vor allem auch darauf, dass andere Kinder sich schon kümmern werden oder kümmern müssen. Sie sollen behinderte Kinder durch den Alltag begleiten. Dabei wird nur vergessen, dass Kinder nicht immer helfen wollen.“

Ein Vater erzählt: „Mein Sohn hat sich mit einem Förderkind angefreundet. Ich wusste, dass dieser Junge aufgrund seiner schwierigen Herkunftsfamilie in einer Pflegefamilie ist, und habe die Freundschaft auch ganz bewusst gefördert. Nach einiger Zeit wollte mein Sohn nicht mehr in die Schule gehen. Erst nach Tagen hat er erzählt, warum. Der Grund war, dass sein Freund ihm ständig an den Popo fassen wollte. Natürlich haben wir das in der Schule besprochen. Klar geworden ist mir dabei vor allem, wie überfordert die Lehrerin tatsächlich in ihrer Klasse war. Denn der Sozialpädagoge muss mehrere Klassen betreuen und kann sie nur stundenweise unterstützen.“

Andere Eltern berichten von Störungen im Unterricht: „Meine Tochter ist leicht abzulenken. Und seit in ihrer Klasse zwei Kinder sind, die ihre Wut nicht kontrollieren können und sich oft schreiend auf dem Boden wälzen, ist es mit ihrer Aufmerksamkeit noch viel schwieriger geworden.“

 

Nur offenes Reden hilft

Die geschilderten Beispiele sind keine Einzelfälle. Man muss nicht lange suchen, um Berichte von ähnlichen Erfahrungen zu hören. Eine der Schwierigkeiten ist, dass es zu wenige Sozialpädagogen gibt, zu wenige Mehrfachbesetzungen, aber zu viele Kinder in den Klassen. Und vor allem fehlt es auch an Zeit – Zeit, um gute Modelle zu entwickeln, Experten auszubilden und Lehrer zu schulen. Ohne Zeit und Geld kann unserer Gesellschaft und dem, was ihr das Menschenrecht auf Inklusion wert ist, nur ein Armutszeugnis ausgestellt werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht politisch korrekt klingt, wenn man die Probleme ausspricht. Das wird schnell so interpretiert, als ob man keine Inklusion wolle. Das ist ein Dilemma, das Eltern und Lehrer hemmt, offen Stellung zu beziehen. Doch wenn diese Diskussion nicht offen geführt wird, wenn sich niemand etwas zu sagen traut, kann sich eine inklusive Gesellschaft nicht entwickeln. Damit wäre der flächendeckende Misserfolg vorprogrammiert – von einigen Leuchtturmschulen einmal abgesehen.

 

Anke M. Leitzgen, geboren in Soest, ist Bildungsjournalistin und schreibt unter anderem für die Zeitschrift „Eltern family“. Sie ist Mutter von drei schulpflichtigen Kindern.