Als Hans-Peter Schwarz 1986 die bis heute einschlägige Adenauer-Biografie vorlegte, war der erste Bundeskanzler seit 23 Jahren nicht mehr im Amt. Immerhin vierzehn Jahre ließ derselbe Biograf vergehen, bevor sein Buch über Helmut Kohl erschien. Zwischen dem Ende der Kanzlerschaft Willy Brandts und seiner biografischen Würdigung durch Peter Merseburger lagen gar drei volle Jahrzehnte. Schon deshalb ist man von vornherein skeptisch, wenn man das dickleibige Werk des Erlanger Historikers Gregor Schöllgen über Gerhard Schröder zur Hand nimmt, zumal das Buch durch die Verwendung des bestimmten Artikels im Untertitel den Anspruch erhebt, nicht irgendeine, sondern die maßgebliche Biografie zu sein. Kann ein Historiker nach so kurzer Zeit – nur zehn Jahre sind seit dem Ende der Kanzlerschaft vergangen – wirklich wichtige Erkenntnisse zutage fördern, die dem zeitunglesenden Beobachter der Schröder-Jahre bis dato verborgen geblieben sind? Gegenüber zeitgenössischer Publizistik und Sozialwissenschaft sind es vor allem drei Instrumente, die dem Historiker zusätzlich zu Gebote stehen: der Zugang zu erst im Nachhinein zugänglichen Dokumenten, die Beurteilung der damaligen Ereignisse mit dem zusätzlichen Wissen der Retrospektive sowie die Einordnung in längere historische Zusammenhänge. Aber amtliche Dokumente unterliegen einer dreißigjährigen Sperrfrist, und ein Jahrzehnt ist vielfach eine zu kurze Zeit, um die Auswirkungen politischer Entscheidungen beurteilen zu können. Wiederholt sind zuletzt historische Darstellungen der jüngsten Vergangenheit an diesen Schwierigkeiten gescheitert, unter anderem die erste Monografie über die rot-grüne Bundesregierung (Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013), die an kaum einer Stelle über den Horizont des Zeitzeugen hinausging und weitgehend belanglos blieb.
Schöllgen möchte derartige Befürchtungen zerstreuen, indem er auf den vollen Zugang verweist, den er zu Schröders Aufzeichnungen und Unterlagen hatte. Zudem hat er Gespräche mit zahlreichen Wegbegleitern des Altkanzlers geführt, mit politischen Partnern und Gegnern, mit Künstlern und Journalisten, von Wolfgang Thierse über Franz Müntefering bis zu Angela Merkel. Selbst Schröders Intimfeind Oskar Lafontaine fehlt nicht. Ohne Zweifel, Schöllgen hat einigen Fleiß in das Buch gesteckt, umso enttäuschender fällt das Gesamtergebnis aus.
Unbändiger Aufstiegswille
Das Buch beginnt mit Herkunft und Jugend Schröders, schildert die zerrütteten Verhältnisse in dessen Familie und die entbehrungsreichen ersten Jahre, als der spätere SPD-Chef und seine Geschwister bei der alleinerziehenden Mutter aufwuchsen, die den Lebensunterhalt durch Putzarbeiten verdiente. In dieser Zeit sieht sein Biograf den Schlüssel zu Schröders grenzenlosem Aufstiegswillen, aber auch zu seinem tiefen Bewusstsein für Ungerechtigkeiten. Der steinige Weg, der ihn über Lehre und Abendgymnasium zum juristischen Studienabschluss führte, ließ ihn die Notwendigkeit erkennen, gleiche Bildungschancen für alle unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu schaffen.
Überzeugend kann Schöllgen zeigen, dass sich dieses Motiv durch Schröders politische Karriere zog. Und diese Karriere begann ebenfalls schon in frühen Jahren mit Schröders Engagement in der SPD und bei den Jungsozialisten, deren Bundesvorsitzender er 1978 wurde. Gezielt nutzte er dieses Amt als Sprungbrett in den Bundestag, in den er 1980 erstmals einzog. Von dort ging es rasch weiter, er stieg in der niedersächsischen SPD auf und war nur sechs Jahre später deren Spitzenkandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Damals musste er sich noch dem Amtsinhaber Ernst Albrecht geschlagen geben, aber vier-Jahre später drehte er den Spieß um und eroberte für die Sozialdemokraten die Macht an der Leine zurück.
Enfant terrible der SPD
Schöllgen schildert den Erfolgsweg seines Protagonisten mit unverhohlener Sympathie für dessen Willensstärke und Geschicklichkeit, verschließt aber auch nicht die Augen vor seinem mitunter grenzenlosen Opportunismus, der sich auf allen Stationen seines langen Wegs ins Kanzleramt zeigt. Früh schon hatte Schröder verstanden, dass öffentliche Aufmerksamkeit eine unverzichtbare Währung auf dem Weg zur politischen Macht ist und dass er sich diese Aufmerksamkeit nicht zuletzt durch abweichendes Verhalten und starke Sprüche sichern konnte. So dosierte er geschickt seine Zustimmung zur Partei-(oder Juso-)Linie, wenn er auf Mehrheiten angewiesen war, und vertrat abweichende Haltungen, wo er dies für seine eigene Karriere als sinnvoll erachtete. Schnell wechselnde Standpunkte waren dabei nicht ausgeschlossen.
Die Lust zur Provokation verlor Schröder auch als niedersächsischer Ministerpräsident nicht. Insbesondere nach der verlorenen Mitgliederbefragung über den SPD-Parteivorsitz gegen Rudolf Scharping entwickelte er sich mehr und mehr zum Enfant terrible seiner Partei, kritisierte deren Kurs und Führungspersonal scharf. Dem damaligen SPD-Geschäftsführer Peter Struck warf er gar vor, „ein Kartell der Mittelmäßigkeit“ zu organisieren. Laut seinem Biografen folgte er dabei jedoch bereits seiner tiefen Überzeugung von einer unternehmensfreundlichen Wirtschaftspolitik. Seinen Posten als wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Partei verlor der ständige Querulant dennoch. Ob ihm ohne den „Putsch“ Oskar Lafontaines auf dem Mannheimer Parteitag 1995 der Wiederaufstieg geglückt wäre, ist zweifelhaft. So aber schlossen sich die beiden in Charakter und Überzeugungen grundverschiedenen Politiker zusammen, um 1998 die Macht für die Sozialdemokraten im Bund zurückzuerobern – mit bekanntermaßen erfolgreichem Ausgang.
Damit begann der interessanteste Teil der politischen Vita Schröders und zugleich der langweiligste des Buchs. Denn während Schöllgen bis dahin zumindest ansatzweise versucht hat, das Wirken seines Protagonisten interpretierend einzuordnen und größere Bögen zu spannen, zerfasert ihm dessen Kanzlerschaft zur bloßen Chronik: Ereignis um Ereignis, Gesetzesentwurf um Gesetzesentwurf werden aufgezählt, Einzelmaßnahmen aneinandergereiht, eine Analyse unterbleibt. Wenn überhaupt ein Grundtenor erkennbar ist, besteht er darin, dass Schröder zwischen der Einsicht in die unvermeidliche Richtigkeit seiner Politik, schlechten Umfragewerten und seiner uneinsichtigen Partei aufgerieben wird. Ob diese Politik tatsächlich so uneingeschränkt richtig war, stellt der Historiker ebenso wenig infrage, wie er sich um die Gründe für die Ablehnung innerhalb und außerhalb der SPD kümmert. Wiederholt spricht er von der feindlichen Presse, so als ob sich die übrigen Bundeskanzler einer breiten Unterstützung der Hauptstadtjournalisten sicher gewesen wären. Woran lag es, dass etwa Der Spiegel, der Schröders Aufstieg sehr positiv begleitet hatte, sich vom Bundeskanzler abwandte? Und wieso stürzte die SPD trotz der hohen Beliebtheitswerte des Regierungschefs sowohl 1998 als auch 2002 schon kurze Zeit nach der Bundestagswahl in den Umfragen dramatisch ab – lange vor Riester-Rente oder Agenda 2010? Für Schöllgen ist dies offensichtlich nicht so wichtig. Zwar erwähnt er die chaotische Vorgehensweise der Regierung und ihre häufigen handwerklichen Fehler mehrmals, geht ihnen jedoch nicht auf den Grund. Schröder ist immer das Opfer seiner realitätsvergessenen Partei. Ähnlich klingt seit Jahrzehnten die Märtyrergeschichte Helmut Schmidts. Aber gehört es nicht zu den wesentlichen Qualitäten eines Regierungschefs, seine Mannschaft auf Kurs zu halten? Lässt sich wirklich von einem Bundeskanzler behaupten, er habe seinen Job gut gemacht, lediglich die Partei sei ihm nicht gefolgt?
Überholter Kenntnisstand
Dabei enthält sich Schöllgen nicht jeglicher Kritik an Schröder, beschränkt sich aber auf Einzelaspekte. Häufig zitiert er dabei lediglich aus den Kommentarspalten der Presse, mitunter stellt er lediglich zwei alternative Perspektiven vor. Häufig drückt er sich mit der Floskel „Man kann das so sehen“ davor, selbst Position zu beziehen. Und wenn er es doch tut, dann mit wohlklingenden, apodiktischen Formeln ohne Erläuterung seines Urteils. So erklärt er mehrfach, Deutschland sei außenpolitisch unter Schröder „erwachsen“ geworden. Hier genau hätte der Historiker die Stärke seiner Disziplin entfalten und die Entwicklung der deutschen Außenpolitik seit 1990 skizzieren können, um seiner Behauptung Gewicht zu verleihen. Aber dieser Mühe unterzieht sich Schöllgen nicht, und so bleibt es dem Leser überlassen, sich selbst entsprechende Gedanken zu machen (und dann eventuell, wie der Rezensent, zu einem abweichenden Urteil zu gelangen).
Gleichfalls ungenutzt bleibt die Möglichkeit, vergangene Ereignisse aus dem Abstand eines Jahrzehnts zu würdigen. Damit liefert Schöllgen nicht nur keine neuen Erkenntnisse, sondern fällt sogar hinter den Kenntnisstand der Leserschaft zurück. So lässt sich beispielsweise heute sagen, dass die Einführung der Riester-Rente zu einer Entlastung der Rentenkassen geführt hat. Ein weiterer intendierter Effekt, die Absicherung der Geringverdiener im Alter, ist jedoch nicht eingetreten, weil ausgerechnet diese Gruppe wesentlich seltener zu einer freiwilligen Zusatzversorgung greift als Angehörige der ohnehin relativ gut abgesicherten Mittelschicht. Ähnlich bei den Hartz-Reformen: Ob und in welchem Ausmaß sie für den deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit verantwortlich waren, ist bis heute umstritten, wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Sie hätten zur Würdigung der Reform herangezogen werden können, Schöllgen aber unterzieht sich dieser Mühe wiederum nicht und behauptet einfach die Richtigkeit der sozialpolitischen Neuerungen.
Vergeblich sucht man auch eine Auseinandersetzung über das Für und Wider des Kosovokriegs – immerhin des ersten größeren Kampfeinsatzes in der Geschichte der Bundeswehr. Das Vorgehen der NATO war durch kein UN-Mandat gedeckt, die Vertreibung der albanischen Bevölkerung wurde nach Beginn der Bombenangriffe nicht gestoppt, sondern verstärkt. Nach dem Ende des Krieges verließ ein Großteil der dort ansässigen Serben ihre Heimat. Inzwischen ist das Kosovo ein unabhängiger Staat, aber beileibe kein Erfolgsmodell. Die Folgen des militärischen Eingreifens sind zumindest zwiespältig. Dennoch gibt es weiterhin gültige Gründe für das damalige westliche Handeln. Ihrer Erörterung hätte es aber bedurft. Sie unterbleibt, wie so vieles in diesem voluminösen und dennoch kurzatmigen Buch.
Schröder und Putin
Der wahrscheinlich kontroverseste Aspekt an Schröders Kanzlerschaft und darüber hinaus ist sicherlich das Verhältnis zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Was Schöllgen hierzu bietet, ist reine Apologie, die auch durch gelegentliche Teildistanzierungen nichts von ihrer Anstößigkeit verliert. So leugnete Schröder den offensichtlichen politischen Charakters des Verfahrens gegen den Unternehmer Michail Chodorkowski. Sein Biograf schließt sich dieser Einschätzung an, obwohl spätestens die zweite Verurteilung Jahre später die Absurdität der offiziellen Anklage deutlich werden ließ. Brav schließt sich Schöllgen auch Schröders Ruf nach Verständnis für einen langsamen Weg Russlands zu der für das Land ungewohnten Demokratie an, ganz so, als habe nicht Putin in den letzten Jahren endgültig die Maske des „lupenreinen Demokraten“ fallen gelassen. Wahlfälschungen, Einschüchterungen der Opposition und Instrumentalisierung des Strafrechts im Kampf gegen die Zivilgesellschaft sind Bestandteile Putin’scher Innenpolitik. Und alle von Schröder propagierte Politik der Zusammenarbeit und wirtschaftlichen Verflechtung bei gleichzeitiger Leisetreterei in puncto Menschenrechte haben die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und damit die erste gewaltsame Veränderung der europäischen Nachkriegsordnung nicht verhindert. Spätestens hier hätte der Historiker eine tief greifende Fehleinschätzung des Kanzlers konstatieren müssen, aber dazu kann er sich offensichtlich nicht überwinden.
Erkenntnislos bleibt auch der dritte Vorteil des Historikers gegenüber dem Zeitgenossen: die Nutzung neu zugänglicher Akten. Zwar zitiert Schöllgen häufig aus den Privatbeständen des Altkanzlers, fördert dabei aber überwiegend Belangloses zutage. Der Leser erfährt, wer wann welche Glückwunschkarte erhalten hat, dass sich Jacques Chirac über ein von Schröders Tochter selbstgemaltes Bild freuen durfte oder dass in der Kanzlermaschine geraucht wurde. Für die Beurteilung des Menschen und Politikers Schröder bleiben all diese Informationen wenig hilfreich.
Wie um seine Ambitionslosigkeit zu unterstreichen, liefert Schöllgen nicht einmal ein Abschlusskapitel, zieht kein Fazit und verliert kein Wort zur Gesamtwürdigung seines Protagonisten. Eine bezeichnende Leerstelle für eine Biografie, die weder die Psyche des Kanzlers ausleuchtet noch eine tief gehende Analyse seines politischen Handelns bietet. Gregor Schöllgen, der mit einigen seiner früheren Bücher gezeigt hat, dass er zu den talentiertesten deutschen Historikern gehört, hat eine langweilige Biografie über einen der zweifellos interessantesten Charaktere der deutschen Nachkriegsgeschichte vorgelegt. Schade um beide!
Alexander Brakel, geboren 1976 in Bonn, stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.