„‚Die Partei‘ ist heute die bestgehasste Erscheinung unseres politischen Lebens. Durch nichts wird dieser Satz schlagender bewiesen als durch die Tatsache, dass es sogar Parteien gibt, die den Kampf gegen das Parteiwesen auf ihre Fahne geschrieben haben.“ So schrieb Hans Liermann in der Untergangsphase der Weimarer Republik. Dem Hass auf streitoffene Pluralität folgte die „Harmonie“ einer totalitären Einheitspartei auf dem Fuße. Damit sind die elementaren Alternativen klar.
Gleichwohl gehören Parteiverdrossenheit und Parteienkritik zu den Dauerthemen der realen, medialen und digitalen Stammtische der Nation.
„Antiparteienparteien“, „Freie“, „Alternativen“ und „Protest“ verdanken ihnen Aufstieg und Etablierung. Wie diese Erscheinungen, soweit sie nicht verglühen, sich letztlich doch als geradezu gewöhnliche Parteien institutionalisieren, ruft Erstaunen hervor: learning by doing. Zeitkritischen Analytikern, fern der Praxiserfahrung, fällt Realitätsverweigerung offenbar leichter. Als zum Beispiel nach 1968 Mitglieder- und Wählerzahlen boomten, boomte zugleich die Beschwörung der „Legitimationskrise“ des Parteiensystems. Dieses wird natürlich durch solch eklatante Irrungen nicht kritikfrei gestellt – und wie seine Kritiker dürfen sich auch seine Akteure und Verfechter nicht über die Realitäten erheben, die sich seit Längerem wandeln – nicht zugunsten der traditionellen Organisationsform Partei.
Das Wirken der Parteien und die Verwirklichung der Demokratie hängen von zwei sich stützenden Voraussetzungen ab: vom Prinzip legitimer gesellschaftlicher Vielfalt und von der Chance, sie zum Ausdruck zu bringen, sowie von der Gewährleistung gesellschaftlicher Legitimation und Kodezision staatlicher Entscheidungen. Im demokratischen Verfassungsstaat der Neuzeit lässt sich das „Allgemeine“ nicht mehr a priori über das „Besondere“ stellen und die Obrigkeit nicht mehr gegen die Gesellschaft. Wie dieser Staatstyp ohne artikulations- und vermittlungsfähige Institutionen verwirklicht werden könnte, ist eine Frage, auf die sich fundamental gebende, aber keineswegs fundamental denkende Grundsatzkritik keine Antwort weiß.
Das bedeutet keinen Freibrief für parteiliche Gemeinwohlvergessenheit einerseits und für quasi obrigkeitliche Mehrheitsmacht andererseits. Die rechtlichen und legitimatorischen Schranken sind bekannt, auch wenn gelegentlich an sie zu erinnern bleibt. Gerade für Parteien ist Herrschaft ein anvertrautes, gemeinwohlorientiertes, rechtlichen Bindungen und Kontrollen unterliegendes Amt. Nur auf dieser Basis lässt sich eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Leistungen und Funktionsweisen führen. Wenn nicht vom Wählervolk legitimierte Parteien die politische Macht ausüben sollen, wer dann? Und wie dann?
Die Geschichte hat gelehrt, wohin es führt, sie als „dem Staatsorganismus fremde soziale Körper“ (Heinrich Triepel 1927) zu definieren. Im Parlamentarischen Rat hieß es dann bei der Schöpfung des Grundgesetzes: „Die Form, in der die (das öffentliche Leben dynamisch bewegenden) Kräfte sich organisieren, also politisch und geschichtlich zur Wirksamkeit kommen, sind nun einmal, ob es einem gefällt oder nicht, die politischen Parteien“ (Carlo Schmid). Parteiendemokratie – ob es gefällt oder nicht. Karlsruhe jedenfalls hat an ihr ebenso einhegendes wie funktionales Gefallen gefunden, indem es politische Kommunikation, Partizipation, Rekrutierung von Führungspersonal und maßgebliche Einwirkung auf Parlament und Regierung mit ihr verband. Jedenfalls wurzeln die Parteien in der Gesellschaft und greifen nicht zuletzt deswegen nach der Regierung; zu hoffen wäre: kompetent und effizient. Erst hier lassen sich kritische Fragen stellen, funktional motiviert.
Ein Überblick über die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass die Parteiendemokratie ihrer vermeintlichen Krise nicht erlegen ist. Hat sie sich nicht sogar zumindest im Grundsatz bei der Gestaltung der wesentlichen Politikfelder vom Wiederaufbau nach 1945/49 bis zur Wiedervereinigung bewährt?
Und geht sie, grosso modo, gegenwärtig mit historisch ungewohnten Herausforderungen nicht zumindest verantwortungsvoll um? Und ist nicht sogar dynamische Mobilität ins Parteiensystem eingedrungen? Dabei hat der Wandel auch die Parteien selbst erfasst. Sogar die in Deutschland geradezu prototypisch herausgeprägte Volkspartei ist ihm unterworfen, auch wenn ihn selbst die Akteure im Parteien- und Mediensystem keineswegs generell zutreffend interpretieren und das Gewohnte, weil es einfacher ist, lieber bewahren möchten.
Differenzierung der Interessen, Desinteresse am Politischen
Da die Parteien in der Gesellschaft wurzeln, müsste offen nach grundsätzlichen Veränderungen des Verhältnisses von Politik und eben dieser Gesellschaft gefragt werden. Beide scheinen sich in den jüngeren Modernisierungsprozessen entkoppelt zu haben. Strukturelle Entwicklungen haben dazu geführt, keineswegs primär Parteiversagen oder Parteienwandel, der aber durchaus in gesellschaftlich induzierten Anpassungsprozessen einen Parteientyp hervorbringt, der sich immer weniger auf Identifikation durch Milieu, Programm und Partizipationsmechanismen stützt, sondern auf Kommunikationsmanagement und vielfältige kurzfristige Interessenbefriedigung. Diese Veränderung vollziehen Parteien nicht autonom. Sie folgen gesellschaftlichen Ursachen. Nicht nur, dass sich die überkommenen sozialmoralischen Milieus, welche die beiden großen Volksparteien getragen haben, durch Säkularisierung einerseits und Schwinden des sekundären Sektors in der Ökonomie andererseits in Auflösung befinden. Individualisierungsschübe, Wertewandel, Pluralisierung der Lebensstile und Organisationsskepsis stehen parteilichen Bindungen entgegen. Zunehmend verlieren die nahestehenden gesellschaftlichen Vorfeldorganisationen an Bedeutung oder entschwinden sogar. Es zerrinnen nicht nur Zielgruppen. Angesichts der wachsenden Attraktivität des Mottos „Unterm Strich zähl ich“ verpuffen parteipolitische Aggregationsbemühungen. In einer Gesellschaft sich reduzierender Bindebereitschaft muss sich notgedrungen auch die Bindekraft von Parteien reduzieren – mit Rückwirkungen auf diese selbst und auf das volatile Wahlverhalten der Bürger.
Nichts spricht für eine Wiederkehr der früheren Verhältnisse. Die Entwicklung ist zudem typisch für die modernen Gesellschaften Europas. Deren Individualisierung und Pluralisierung geht der Desintegration der Parteiensysteme voraus. Die Gesellschaft nimmt sich die Freiheit, sich zu wandeln, ohne auf die Parteien, ihre Organisation und ihr Selbstverständnis Rücksicht zu nehmen. Diese sind, was sie stets waren: ein Sekundärphänomen. Sie drücken die Gesellschaft aus, aber sie schaffen sie nicht.
Die Gesellschaft ist in Bewegung – mit Konsequenzen für Einstellungen und Verhalten gegenüber der Politik, vor allem wachsender Flexibilität und Volatilität. Es entstehen neue Gruppierungen von „Gleichgesinnten“, die mit den alten sozialmoralischen Milieus alles andere als identisch sind. Sinus unterscheidet zum Beispiel zehn solcher Segmente von Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln – zum Beispiel prekäres, hedonistisches, traditionelles oder auch leistungsorientiertes „Milieu“. Diese Unterscheidungen finden seit Jahrzehnten auf dem kommerziellen Werbungs- und Medienmarkt höhere Resonanz als bei politischen Strategen. Allerdings lässt sich der Unterschied zwischen zielgruppengenauen, hoch individualisierten Werbebotschaften und notwendigerweise stärker aggregierten Politikangeboten nicht nivellieren. Gleichwohl sind auch politische Botschaften dazu verdammt, die konkreten Lebenswelten der Gegenwart zu erreichen, die eben immer weniger von Schicht- und Religionszugehörigkeit oder dem Stadt-Land-Gegensatz bestimmt werden und in ihren Unterschiedlichkeiten zu einem geradezu existenziellen Problem für eine profilierte Formulierung politischer Angebote geworden sind: Parteien, die wie die klassischen Volksparteien höhere Wahlergebnisse anstreben, scheinen zunehmend gezwungen zu sein, „für jeden etwas“, jedenfalls aber ziemlich vieles anzubieten, was jenseits ihres vorgeblichen „Markenkerns“ liegt. Unterstützt aber derartige Angebotsdifferenzierung ihre Mobilisierungsfähigkeit? Das Gegenmodell wäre, sich auf einem Differenzierungen hinter sich lassenden Mainstream nach oben tragen zu lassen, vorausgesetzt, ein solcher würde sich im Vorfeld von Wahlen entfalten (oder entfalten lassen). Was aber bedeutet das für Prinzipientreue, Kontinuität und Kompetenz? Grundsätzlich sind Großparteien mit dem Problem konfrontiert, unterschiedliche Lebenswelten ansprechen zu müssen. Kleinere scheinen eher die Chance auf spezifische Korrespondenz mit dem einen oder anderen der je aktuellen „Milieus“ zu haben, woraus ihnen begrenzte Wettbewerbsvorteile zufallen. Ein Rückfall in enge Interessen- oder Weltanschauungsparteien ergibt sich daraus nicht. Wohl aber eine Tendenz zur Desintegration des Parteiensystems, in welches seit Mitte der 1990er-Jahre so viel Bewegung eingezogen ist wie seit Langem nicht mehr. In der Resonanz der Parteien drückt sich beides aus: die Differenzierung der Interessen und das gewachsene Desinteresse am Politischen.
Kommunizieren und Legitimität stiften
Die Folgen sind bekannt. Gewinne und – vor allem – Verluste im zweistelligen Prozentbereich von einer Wahl zur anderen, atemberaubende Einbrüche in den Mitgliederzahlen seit zwei Jahrzehnten, dramatischer Abstieg des Anteils der Volksparteien bei den Wählern von 91,2 Prozent 1976 auf 56,8 Prozent 2009 und – begünstigt fast ausschließlich durch die Zuwanderung enttäuschter FDP-Sympathisanten – 2013 wieder 67,2 Prozent; noch immer eine gewaltige Distanz zur Hochzeit. Und aus dem Nichts droht eine weitere „Alternative“.
Zugleich: Favorisierung anderer, spontaner, kurzweiligerer und individueller Nutzenmaximierung geneigterer Partizipationsformen. Das heißt, die Parteien verlieren an sozialer Verankerung. Die Parteiendemokratie aber behält ihre Funktionen und ihre Bedeutung: ein Widerspruch mit einem Krisenpotenzial, das es zu jenen Zeiten nicht gab, als man es beschwor. Denn nicht allein Problembewältigung, sondern zugleich Kommunikation mit den Bürgern und Legitimitätsstiftung, daran sei erinnert, begründen die Funktion der Parteien im demokratischen Verfassungsstaat, die im Kern unersetzbar erscheint, die aber von ihnen selbst in ihrer Einbettung in den sozialen Wandel nicht allein gewährleistet werden kann. Hierin liegen die Grenzen der allermeisten Reformbemühungen, mit denen im Übrigen seit Jahrzehnten relativ erfolglos experimentiert wird. Am meisten könnte noch die konkrete Steigerung der Mitgliederbeteiligung an Inhalts- und Personalfragen bewirken, soweit Aktivierungswille besteht und seine Einbeziehung von den Führungen ernst gemeint ist.
Radikale Alternativen zur Parteiendemokratie verschärfen moderne Leistungs- und Legitimationsprobleme eher, als dass sie Abhilfe schaffen. Vorstellungen von einer „parteilosen“, computergestützten Versammlungsdemokratie, einer plebiszitär geprägten permanent aktivierbaren Chance zur Selbstbestimmung, einer Konzentration des Entscheidungsdiskurses auf deliberativ begabte Eliten – sie alle demontieren nicht nur politische Institutionen und das Prinzip repräsentativer Demokratie. Beide bedürfen der Abstützung durch Parteien oder ihnen ziemlich ähnliche Organisationsformen. Die Protagonisten dieser Vorstellungen vermögen nicht den Nachweis zu führen (und streben ihn partiell auch nicht an), wie ihre Ideen die generelle politische Öffentlichkeit (statt idyllisch-konsensueller Arenen) politische Kontinuität, rationale Problemlösungen in Prozessen wachsender Komplexität und Globalisierung sowie zurechenbare Verantwortlichkeit gewährleisten können. Auch die Rekrutierung kompetenten Führungspersonals bleibt eine offene Frage.
Zugegeben: Die Parteiendemokratie ächzt ihrerseits unter diesen Herausforderungen und wird ihnen keineswegs stets gerecht. Aber selbst in ihren potenziellen Unzulänglichkeiten gibt sie diese Prinzipien nicht preis und arbeitet auf ihre Verwirklichung hin. Noch. Dies übrigens gänzlich unabhängig vom Differenzierungs- und Integrationsgrad des Parteiensystems, solange wenigstens dessen Akteure sich im Kern der demokratische Legitimität stiftenden Prinzipien bewusst sind. Kritik und Distanz der Unkundigen bleiben hinzunehmen. Sie sind unausrottbar. Soviel elitäres Bewusstsein mag erlaubt sein, zumal die Parteien in der Gesellschaft wirken, aber nicht in ihr aufgehen – und diese nicht in ihnen.
Heinrich Oberreuter, geboren 1942 in Breslau (heute Polen), von 1993 bis 2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.