Die Legitimität des Sozialstaates zu bekräftigen, ist das Ziel eines Bandes über den „Sozialstaat – Fundamente und Reformdiskurse“, der aus einer Tagungsreihe der Akademie für Politische Bildung Tutzing entstanden ist. Die Beiträge spannen einen weiten Bogen von den normativen Begründungen des Sozialstaates über Politikfeldanalysen (zu Renten, Grundsicherung und Familienförderung) bis hin zu grundsätzlichen Stellungnahmen zum Sozialstaat in Deutschland. Die Autoren eint das Bekenntnis zu einem entwickelten Sozialstaat, der für sie ein notwendiger Bestandteil einer modernen Demokratie ist. Zu den demokratischen Kernaufgaben gehöre es nicht nur, die liberalen Grundrechte der Bürger zu gewährleisten, sondern darüber hinaus „soziale Rechte“ anzuerkennen und umzusetzen, wie Frank Nullmeier („Normativer Vorrang der Demokratie vor dem Sozialstaat?“) formuliert.
Entschieden verteidigen die Autoren den Sozialstaat gegen den von einigen Libertären erhobenen Vorwurf, dass der Sozialstaat die Freiheit der Bürger im Namen der sozialen Sicherheit beschneide und ihren Leistungswillen schwäche. Weit davon entfernt, leistungsfeindlich zu sein, fördere der „Rheinische Kapitalismus“, so konstatiert Markus Vogt, mit seinen solidarischen Hilfen in Notlagen „die Fähigkeit und Bereitschaft zu individueller Leistung und Verantwortungsübernahme“. Beispielhaft für die Produktivitäts- und Leistungsvorteile solidarischer Sicherungssysteme sei der Einsatz des Kurzarbeitergeldes 2008/09: Dieser habe es der deutschen Wirtschaft ermöglicht, die Finanzkrise ohne Massenentlassungen zu überstehen, und so maßgeblich zum sogenannten deutschen „Beschäftigungswunder“ beigetragen. Bekanntlich wird Deutschland im Ausland wegen seines Beschäftigungserfolges beneidet; als vorbildlich gilt insbesondere die niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Merkwürdigerweise spielt dieser Erfolg des „Modells Deutschland“ in dem Sammelband keinerlei Rolle; international vergleichende Analysen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik fehlen leider in dieser Publikation.
Meinungsmache gegen Fakten?
Statt mit empirisch messbaren Entwicklungen befassen sich die meisten Autoren stärker mit „Diskursen“, in denen sie den Schlüssel zum Verständnis der jüngeren Sozialstaatsreformen zu erkennen meinen. Am schärfsten formuliert diese Sicht Albrecht Müller, für den „die politische Wende bis hin zur Agenda 2010 vor allem mit einer Hegemonie über die Meinungsbildung bewirkt worden ist und nicht durch objektive Standortschwierigkeiten, die angeblich neue Globalisierung und die angeblich schwierige demografische Entwicklung“. Der Grund für die Sozialstaatsreformen seien nicht objektive Gegebenheiten, sondern eine von „Interessen gesteuerte Meinungsmache“ gegen den Sozialstaat. Seit der „Tendenzwende“ in den 1970er-Jahren hätten CDU/CSU und Wirtschaftslobbyisten systematisch den Sozialstaat diskreditiert, um eine „Privatisierung gesellschaftlichen Reichtums“ durchzusetzen. Zu diesem Zweck werde im Staatssektor „auf allen Ebenen gespart“. Belege dafür liefert Müller nicht.
Tatsächlich sind die jährlichen Sozialausgaben pro Kopf trotz der Agenda-Reformen seit 2003 von knapp unter 8.000 Euro auf über 10.000 Euro (2009) gestiegen. In anderen Ländern, die solche Sozialreformen nicht durchführten, sind diese Ausgaben noch stärker gestiegen: in Frankreich zum Beispiel von 8.200 Euro (2003) auf nahezu 11.000 Euro pro Kopf. Mit seinem immensen Staatssektor (fast sechzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts) müsste Frankreichs Wirtschaft aus Müllers Perspektive eigentlich blühen, tatsächlich leidet sie aber unter Stagnation und Arbeitslosigkeit. Die bessere Beschäftigungslage in Deutschland hat nun unstrittig mit größerer Wettbewerbsfähigkeit und diese mit einem geringeren Anstieg der Lohnkosten zu tun. Neben der moderaten Tarifpolitik spielen dafür die Rentenreformen eine Schlüsselrolle: Während in Frankreich und Südeuropa die Rentenausgaben von 2000 bis 2010 stark anstiegen, blieben sie in Deutschland konstant. Möglich war diese Konsolidierung bei einer wachsenden Zahl von Rentenbeziehern nur durch schmerzhafte Einschnitte in das Rentenniveau. Den Rentenreformen gilt nun Müllers besonderer Zorn. Er bestreitet rundweg, dass die Alterung der Gesellschaft zu Einschränkungen im Interesse der Jüngeren zwingt. Die Problematik des demografischen Wandels ist für ihn ein Propagandakonstrukt, das die Finanzindustrie nutze, um mit der privaten Altersvorsorge ein „Riesengeschäft“ zu machen.
Mehr Diskurs, weniger Empirie
Dagegen belegt Stefanie Wahl in ihrem Beitrag nüchtern die Kosten der alternden Gesellschaft für die soziale Sicherung, die besonders in der Krankenversicherung weitere Reformen erfordere. Ihr Plädoyer für die kapitalgedeckte Altersvorsorge vermag allerdings in Zeiten negativer Realzinsen – Kritiker der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) sprechen von einer „schleichenden Enteignung der Sparer“ – nicht mehr zu überzeugen.
Generell beleuchten die Autoren die Folgen der Finanz- und Geldpolitik für die soziale Sicherung zu wenig. Sofern die Finanzkrise überhaupt eine Rolle spielt, führen die Autoren die Auswüchse des Finanzkapitalismus auf einen ideologisch motivierten „Neoliberalismus“ zurück. Dass die Deregulierung der Finanzmärkte auch dem Interesse der Staaten und dabei nicht zuletzt dem Ziel folgte, zur Finanzierung von Sozialausgaben mehr Schulden machen zu können, bleibt ausgeblendet. Insgesamt leidet der Band in seinen politischen Analysen unter der verbreiteten Neigung, sich mehr mit Diskursen als mit der Empirie zu befassen.
Gute Gründe für staatliche Wohlfahrt
Die Stärke des Bandes liegt in den normativen Begründungen des Sozialstaates. Michael Spieker zeichnet die Anfänge sozialstaatlichen Denkens in der deutschen Aufklärung nach: Im Gegensatz zu gängigen Urteilen über das „polizeistaatliche“ Denken des konservativen Rechtsphilosophen Christian Wolff sieht er in dessen Auffassungen keine Entmündigung der Untertanen, sondern Ansätze einer subsidiären, freiheitlichen Wohlfahrtsstaatskonzeption. Mit Bezug auf Immanuel Kant weist er nach, dass die Ablehnung der Eudämonie als Legitimation des Staats keine generelle Absage an Sozialstaatlichkeit bedeutet. So befürwortete Kant eine steuerfinanzierte Armenfürsorge und wies in seiner Friedensschrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795) der Politik auch die Sorge für das Glück der Bürger zu.
An die Kantische Gesellschaftsvertragslehre knüpfte im 20. Jahrhundert John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit an. Gegen libertäre Interpretationen von Rawls zeigt Manuel Knoll, dass seine Theorie wohlfahrtsstaatliche Interventionen zu begründen vermag. Entgegen Rawls’ eigener Überzeugung könne aber selbst seine Konzeption in pluralistischen Gesellschaften keinen Konsens herstellen, die Gegensätze in den Gerechtigkeitsvorstellungen ließen sich nicht aufheben.
Zauberformel „Inklusion“
Dessen ungeachtet meinen manche, mit der Zauberformel „Inklusion“ das für alle passende Leitbild der Sozialpolitik gefunden zu haben. Inga Fuchs-Goldschmidt („Moral, Gerechtigkeit, Inklusion“) sieht in der Inklusion „die unabdingbare Bedingung der Möglichkeit für ein sinnvolles Leben“. Was bedeutet nun aber „Inklusion“, die den Einzelnen angeblich erst zu „einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft“ macht? Erfordert die Inklusion zum Beispiel immer Erwerbstätigkeit? Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Ist das Betreuungsgeld ein „Fehlanreiz“, weil es Mütter davon abhält, ihre Kinder in Krippenbetreuung zu geben und sich selbst in den Arbeitsmarkt zu „integrieren“?
Es wäre sicher falsch, den Fürsprechern der „Inklusion“ das bewusste Streben nach einem paternalistischen Betreuungsstaat zu unterstellen. Nicht zu übersehen ist aber, dass „Inklusion“ als Deckmantel für eine „One-Size-fits-all-Politik“ dienen kann, die – von der Kindererziehung bis zur Gesundheitsvorsorge – die Pluralität der Präferenzen und Lebensentwürfe in der modernen Gesellschaft negiert und die Menschen bevormundet. Nach einer anregenden Lektüre über „Fundamente und Reformdiskurse“ des Sozialstaates bleibt es daher dem Leser überlassen, weiter darüber nachzudenken, wie die von Autoren wie Markus Vogt geforderte „solidarische Leistungsgesellschaft“ politisch geordnet werden könnte.
Stefan Fuchs, geboren 1981 in Bonn, Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, seit März 2010 Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Demographie.