Der Aufstieg der Volksrepublik China zu einer global agierenden Gestaltungsmacht weckt große Erwartungen und generiert zugleich Bedrohungsperzeptionen. Insbesondere seit dem Ausbruch der Banken- und Finanzkrise 2007/2008 wurde China nicht länger als nachholendes Entwicklungsland, sondern als Hüter der weltweit größten Dollarreserven und damit als Schlüsselspieler in der Restabilisierung der internationalen Ordnung angesehen. Im Tausch gegen ein kooperatives Handeln der Volksrepublik China wurden im Rahmen der Verhandlungen über eine Reform der Bretton-Woods-Organisationen (Internationaler Währungsfonds; Weltbank) zahlreiche symbolische Zusagen getroffen. Die Stimmrechte der neuen Wirtschaftsmächte sollten ausgebaut, eine generelle Quotenreform sollte eingeleitet werden. Damit reagierten die bislang de facto „allein regierenden“ Industrienationen auf die Kritik an der fehlenden Legitimität der bestehenden Institutionen. Zentraler Kritikpunkt der Staaten des „Globalen Südens“, als deren Advokat sich die Volksrepublik China weiterhin positioniert, ist der Vorwurf der Exklusivität und Partizipationsbegrenzung internationaler Institutionen und Regelwerke. Nachdem die Implementierung der Reformen der internationalen Finanzarchitektur aber immer wieder verschoben wurde, zeichnet sich eine strategische Umorientierung der Volksrepublik China ab. Peking hat begonnen, Alternativinstitutionen und Parallelstrukturen aufzubauen, welche das bestehende Ordnungsgefüge nicht umstürzen, das Monopol der großen internationalen Organisationen und Institutionen jedoch durchbrechen (könnten). Primär finden sich diese Parallelstrukturen im Bereich Handel und Finanzen. Die Begründung neuer trans- und interregionaler Freihandelszonen der USA, unter Ausgrenzung der Volksrepublik China, kontert Peking indirekt mit neuen entwicklungsstrategischen Infrastrukturprojekten und großflächigen Investitionsabkommen. 2014 initiierte die Volksrepublik China die Gründung der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) mit Sitz in Peking. Ebenso begann der Aufbau einer gemeinsamen Entwicklungsbank des BRICS-Netzwerkes, welches sich offiziell als Netzwerk des Globalen Südens präsentiert, bei genauerer Betrachtung aber deutlich die Interessen seiner Initiatoren widerspiegelt.
Renaissance der Seidenstraße
Einen weiteren Meilenstein bei der Reformulierung der chinesischen Außenpolitik, die indirekte Abkehr von einer Politik der moderaten Zurückhaltung in weltpolitischen Fragen, markiert das Projekt „Neue Seidenstraße“. Die chinesische Reformkommission (NDRC), das Außenministerium und das Handelsministerium legten hierzu im März 2015 einen Acht-Punkte-Plan vor. Diese Strategie („yi dai, yi lu“ – wörtlich übersetzt: „ein Gürtel und eine Straße“) hat die Konstruktion neuer Wirtschaftskorridore und (Frei-)Handelszonen zum Ziel, die sich langfristig an „chinesischen“ Standards orientieren würden. Seit 2013 hatte Xi Jinping, der 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei und 2013 Staatspräsident der Volksrepublik China wurde, auf dem Bo’ao-Forum auf der chinesischen Insel Hainan immer wieder erklärt, dass China für die Region Asien eine Vorreiterrolle übernehmen werde. Auf dem 2014er-Treffen hatte er hierzu das Konzept der „Neuen Seidenstraße“ ins Spiel gebracht (eine sehr symbolträchtige historische Reminiszenz, die er zuvor während bilateraler Treffen mit den Regierungen der zentralasiatischen Staaten bemüht hatte). Diese „neue“ Seidenstraße umfasst ein weitgefasstes Netzwerk von Handelswegen zu Land und zu Wasser. Diese verlaufen nach gegenwärtiger Planung durch 65 Länder und würden damit einen Handels- und Wirtschaftsblock begründen, der etwa 4,4 Milliarden Menschen umfassen und damit über sechzig Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren würde. Dieses Netzwerk würde nach gegenwärtigen Kalkulationen knapp ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung auf sich vereinen.
Es wäre zu kurz gedacht, dieses Vorhaben allein als Replik auf den „pivot to Asia“, die verstärkte Präsenz der USA in der Region Asien-Pazifik, einzustufen. Vielmehr ist die kausale Kopplung zwischen sozio-ökonomischen Prozessen im nationalen Kontext und globalen Entwicklungsstrategien zu bedenken. Die Wirtschaftsturbulenzen in den USA und Europa haben zu einer sinkenden Nachfrage nach chinesischen Waren geführt, auf die wiederum eine neue Fokussierung auf die Stärkung des Binnenkonsums in der Volksrepublik China folgte. Unter dem Schlagwort der „neuen Normalität“ soll nun auf ein stabiles nachhaltiges Wachstum der chinesischen Wirtschaft hingearbeitet werden. Da eine solche Verlagerung aber Zeit benötigt, sind zeitgleich Schritte eingeleitet worden, die nun entstandenen Überkapazitäten chinesischer Unternehmen durch Großprojekte in anderen Weltregionen zu kompensieren und neue Absatzmärkte für chinesische Produkte zu erschließen.
Mit der Umsetzung dieses Großprojekts verbunden sind milliardenschwere Infrastrukturprogramme, die den Auf- und Ausbau von Häfen, Flughäfen, Straßen- und Schienenwegen ebenso wie den Bereich der Telekommunikation und des Energiesektors umfassen. Finanziert wird dies über die AIIB sowie den chinesischen Seidenstraßen Infrastrukturfonds. Mit dem Bau dieser neuen Transportwege über Land, die sich über Zentralasien in Richtung Europa erstrecken, reduziert Peking seine Verwundbarkeit, die aus einer möglichen Seeblockade oder der Kontrolle der maritimen Nadelöhre, der Straßen von Malakka und Hormus, resultieren würde. Insbesondere infolge des eskalierenden Streits mit Japan um die Diaoyu-/Senkaku-Inseln und der Neuauflage der US-amerikanischen Sicherheitsgarantien gegenüber ihren historischen Verbündeten in der Region Asien-Pazifik sucht Peking nach einer Diversifizierung seiner Lieferanten ebenso wie seiner Versorgungsnetzwerke.
Die „Neue Seidenstraße“ ist allerdings nicht auf die asiatischen Entwicklungsländer beschränkt. Zu einem bereits fertigstellten Prestigeprojekt zählt die neue Eisenbahnverbindung zwischen Chongqing und Duisburg, die nur ein Drittel der Zeit benötigt, die für Containerschiffe zur See zu veranschlagen wäre. Für die Distanz von mehr als 10.000 Kilometern benötigt der Güterzug gerade einmal sechzehn Tage. Unter der fünften Führungsgeneration (das heißt seit 2012) hat die Volksrepublik China begonnen, ihre Europastrategie auszudifferenzieren: Im Zuge der Finanzkrise ist „China“ als neuer Investor in Europa auf den Plan getreten. Lag der Fokus zuvor auf den Beziehungen mit den als richtungsweisend eingeschätzten, wirtschaftlich stärksten EU-Mitgliedern, sind seitdem gezielt Projekte mit den krisengeschüttelten südeuropäischen Staaten sowie den vormals kommunistischen Systemen in Zentral- und Osteuropa initiiert worden. Hintergrund ist ein neues Bewusstsein für die Pluralität der EU und ihre reformierten Entscheidungsmechanismen, welche Mehrheiten verschiedener EU-Akteursblöcke erfordern. Die Volksrepublik China setzt nun auf symbolischen Stimmenfang in allen EU-„Lagern“.
Wirtschaftlich stabiles China – politisch stabiles Asien
Eine umfassende Neuausrichtung der chinesischen Außenpolitik zeichnet sich jedoch nicht ab – wohl aber eine seit Langem von chinesischen Think-Tanks, die als Berater der obersten Führungszirkel in Peking fungieren, eingeforderte Anpassung der außenpolitischen Grundideen an die veränderten innen- und globalpolitischen Rahmenbedingungen. Wegmarken finden sich in den Reden Xi Jinpings sowie in den offiziellen Schlüsseldokumenten der Volksrepublik China zu den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik sowie Handelsangelegenheiten. Im Mai 2015 wurde erstmals ein Weißbuch zur chinesischen „Militärstrategie“ vorgelegt – alle früheren Dokumente hatten unter dem Oberbegriff der Landesverteidigung gestanden. Diese offiziell dargelegte Strategie unterstreicht das Prinzip der „aktiven Verteidigung“ und betont die Ausweitung des neuen chinesischen Sicherheitsbegriffs auf nichttraditionelle Räume wie das Internet und den Weltraum. Besonderes Gewicht bei der Modernisierung und Professionalisierung der chinesischen Streitkräfte kommt der Marine zu; Auslöser dieser Neuaufrüstung sind jedoch keinesfalls global expansionistische Ambitionen. Bedingt durch die weltweiten Wirtschaftsaktivitäten chinesischer Unternehmen sowie der zunehmend globalen Investitionsvorhaben chinesischer Banken ergibt sich für Peking vielmehr eine Notwendigkeit, auf die Stabilisierung außerasiatischer Regionen und die Wahrung chinesischer (Wirtschafts-)Interessen hinzuarbeiten. In diesem Zusammenhang ist der negative Handlungsimperativ, die Verpflichtung zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, bereits in den letzten Jahren relativiert worden. Die Ereignisse und Trends in anderen Systemen auszublenden, hieße, globalpolitische und nationale chinesische Entwicklungsinteressen zu gefährden.
China beteiligt sich an Friedensmissionen der Vereinten Nationen und leistet einen eigenen Beitrag zur Bekämpfung der weltweiten Piraterie, nicht unter westlicher Ägide, wohl aber indirekt abgestimmt mit den USA und ihren Partnern. Auch in Fällen des weltweiten religiösen Extremismus hat die Volksrepublik China begonnen, sich aktiver einzumischen. So existiert ein Entwicklungs- und Stabilisierungsplan der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (China, Russland und zentralasiatische Staaten) für die Zeit nach dem Abzug der US-amerikanischen Truppen. Ebenso beobachtet China mit großer Besorgnis die Eroberungszüge des IS und hat sich in der Syrienfrage wiederholt zu Wort gemeldet und Unterstützung angeboten – unter der Bedingung, dass diese eigenständig koordiniert und unabhängig von den US-amerikanischen Aktionen erfolgen würde.
Reformator, kein Revolutionär
Die Volksrepublik China positioniert sich als Reformakteur, nicht aber als revolutionärer Gegenspieler der etablierten Strukturen. Der Aufbau von Alternativstrukturen verspricht Machtzugewinn, jedoch nur so lange, wie diese Strukturen sich nur regional behaupten müssen und Fehlentwicklungen dem Steuerungsversagen der „alten“ internationalen Institutionenordnung zugeschoben werden können. Letztendlich sind alle Reform- und Restrukturierungsvorstöße dem seit langer Zeit betriebenen außenpolitischen Pragmatismus der Volksrepublik China zuzuschreiben. Es geht um die Sicherung und Maximierung chinesischer Sicherheitsinteressen (unter welchen auch der Aspekt der wirtschaftlichen Stabilität subsumiert wird) und um außenpolitisches Prestige.
Letzteres aufzupolieren erfordert, Bedrohungsszenarien zu entkräften und Sympathien für „chinesische“ Interessen zu generieren. Chinas neuer globaler Investitionsplan wird von vielen Staaten jedoch nicht nur als entwicklungsstrategische Chance, sondern auch als möglicher Beginn einer neuen Hegemonie wahrgenommen. Das chinesische Außenministerium reagierte hierauf mit der Beteuerung, dass die „Neue Seidenstraße“ nicht als „Solo Chinas“, sondern als „eine Sinfonie aller beteiligten Länder“ komponiert worden sei. Dieses Bild spricht Bände: Harmonien erfordern ein Zusammenspiel aller Staaten und Akteure, der Dirigentenstab befände sich aber – zumindest für dieses interregionale Netzwerk – in den Händen der chinesischen Eliten. Die Partitur hingegen wäre nicht zwingend als „chinesisch“ einzustufen. So greifen Chinas „Blaupausen“ alte Ordnungsdebatten des „Westens“ auf. Das „chinesische“ Plädoyer für eine Ablösung des US-Dollars als alleinige Weltwährung und eine Reform der Finanzregelwerke reaktiviert die alte Kontroverse zwischen den Ökonomen John Maynard Keynes und Harry Dexter White; die Forderung nach einer „Demokratisierung der internationalen Beziehungen“ findet sich in vielen kosmopolitischen Weltordnungsmodellen.
Der außenpolitische Kurs der Volksrepublik China bleibt den Narrativen des „Wiederaufstiegs“ verpflichtet. Xi Jinpings „Chinesischer Traum“ formuliert sozio-ökonomische Entwicklungsziele für den nationalen Kontext, die sich nur über eine aktivere Mitgestaltung der Welt(handels)politik erzielen lassen. Chinas „globale“ Aktionspläne stehen und fallen mit den intern ausgehandelten Modernisierungsplänen. Solange der fragile Konsens der konkurrierenden Faktionen nicht zerbricht, sind keine radikalen Kursänderungen zu erwarten.
Nele Noesselt, geboren 1982 in Marburg, Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt China/Ostasien an der Universität Duisburg-Essen.