Italien: Ende Februar 2013 erschütterten die Ergebnisse der Parlamentswahlen die politische Landschaft: Mehr als fünfzig Prozent der Wahlberechtigten stimmten für Parteien, die den Sparkurs der europaweit gelobten Regierung von Premierminister Mario Monti ablehnten. Wollen die Italiener nicht mehr sparen? Im Gegenteil: Viele würden gern wieder mit dem Sparen anfangen; jedoch privat und nicht im öffentlichen Sektor.
Laut dem statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) lag die Gesamtverschuldung Italiens im dritten Quartal 2012 bei 127,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Um Euro-Partner und internationale Finanzmärkte zu beruhigen, hat die Regierung von Premierminister Mario Monti einiges unternommen, damit die Neuverschuldung unter der Drei-Prozent-Schwelle des Maastricht-Kriteriums bleibt: Empfindliche Steuererhöhungen, eine tief greifende Rentenreform und umfangreiche Kürzungen der öffentlichen Leistungen. Da es der italienischen Regierung jedoch nicht gelungen ist, durch überzeugende Strukturreformen – insbesondere im Bereich von öffentlicher Verwaltung, Justiz und Arbeitsmarkt – Wachstumsimpulse zu setzen, schrumpft die Wirtschaft nach wie vor und die Arbeitslosenzahlen steigen.
Die italienischen Haushalte haben immer weniger Geld zur Verfügung. Im vergangenen Jahr ist die Kaufkraft um vier Prozent eingebrochen. „Sparen“ ist damit zu einem wichtigen Thema in Italien geworden: Tipps und Tricks, wie es sich über die Runden kommen lässt, werden in privaten Gesprächen getauscht und auch in den Medien behandelt. „Sparen“ bedeutet jedoch im eigentlichen Sinne nicht „weniger Geld ausgeben“, sondern „Geld zurücklegen für die Zukunft“. Und in dieser Disziplin waren die Italiener lange europäische Spitzenreiter.
Nach Angaben des Statistikinstituts Istat lag die Sparquote der privaten Haushalte in Italien Ende 2012 zwar nur bei rund neun Prozent, 2010 jedoch noch bei gut fünfzehn Prozent des Nettohaushaltseinkommens. Und zu Beginn der 1990er-Jahre erreichte die Sparquote der italienischen Haushalte sogar über zwanzig Prozent.
Wofür sparen die Italiener beziehungsweise wofür haben sie gespart? In aller Regel für die eigenen vier Wände – oder die der Kinder. Rund achtzig Prozent der Italiener wohnen in ihrer eigenen Wohnung oder im eigenen Haus. Zum Vergleich: In Deutschland waren dies im Jahr 2010 nur rund 45 Prozent der Bevölkerung. Und das Wohneigentum der Italiener ist zudem größtenteils abbezahlt. Die Gesamtverschuldung der italienischen Familien macht gerade einmal 34 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. In Deutschland sind es mehr als 63 Prozent.
Während die öffentliche Verschuldung eine der höchsten in ganz Europa ist, wirtschaften die Italiener privat also sehr solide und haben eine ausgeprägte Sparkultur. Gerne würden die italienischen Haushalte sogar wieder mehr sparen – wenn nur die Steuerlast sinken oder ein Wirtschaftsaufschwung die Gehälter steigen und die Arbeitslosenquote zurückgehen lassen würde.
Dafür, dass dem nicht so ist, machen viele Italiener die „Sparpolitik“ der Regierung Monti verantwortlich. Der Staat soll aufhören zu sparen, damit die Bürger wieder damit anfangen können – so könnte man das Grummeln in der italienischen „pancia“, dem Bauch, zusammenfassen. Da der italienische Staatshaushalt keine weiteren Schulden verkraftet, steht die italienische Politik vor der Aufgabe, die notwendigen Strukturreformen weiter voranzutreiben, damit die Wirtschaft wieder wachsen kann. Die neue italienische Regierung hat enorme Aufgaben zu bewältigen.
Katja Christina Plate, Auslandsbüro Rom der Konrad-Adenauer-Stiftung
Spanien: Das Land muss sparen – die Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy hat seit Amtsantritt vor nicht einmal zwei Jahren vier Kürzungsprogramme verkündet. Waren es zum Jahresende 2011 neun Milliarden Euro, die eingespart werden mussten, hat das jüngste Austeritätspaket einen Umfang von unvorstellbaren 65 Milliarden Euro (Minderausgaben bis 2015). Gespart wird überall, besonders hart trifft es den Bildungs- und Sozialetat. Das ist für Spanien eine neue Situation. Zur Jahrtausendwende wies das Land beinahe ausgeglichene Haushalte auf, zwischen den Jahren 2005 und 2007 sogar Überschüsse. Das Platzen der Immobilienblase im Zuge der internationalen Finanzkrise beendete die wirtschaftliche Hausse. Trotz extremer Kürzungen sinkt das Defizit nur langsam. Die Staatsverschuldung erreicht Rekordhöhen. Im dritten Quartal 2012 betrug sie 77,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Vier Jahre zuvor lag sie noch bei 37 Prozent der Wirtschaftsleistung. Soll das Vertrauen in spanische Staatsanleihen wiederhergestellt werden, gibt es zum Sparkurs wohl nur wenige ökonomische Alternativen. Garant der politischen Kontinuität des Austeritätskurses ist die Furcht der spanischen Regierung vor dem Schicksal des Nachbarn Portugal – der Verlust der Haushaltssouveränität an die „Troika“.
Die Spanier müssen sparen. Über fünf Millionen Menschen sind arbeitslos. Besonders zu spüren bekommt das die Konsumgüterindustrie. Die Verkaufszahlen von Automobilen befinden sich – wie die Wohnungspreise – fast im freien Fall. Mit dem Konsum bricht eine wichtige Stütze der spanischen Wirtschaft weg. Es fällt auf, dass auf der Iberischen Halbinsel nicht vom Zwang zu „sparen“ (ahorrar), sondern von der „Kürzung“ (recorte) die Rede ist. Der semantische Unterschied steht für die Integration der jungen Demokratie in Europa – die Geschichte einer eindrucksvollen ökonomischen Aufholjagd: Diese wurde in Gang gesetzt durch einen Nachholbedarf im Konsum, weniger durch „biederes“ Sparen. Der „faule“ Immobilienboom zur Jahrtausendwende ist dabei das vorerst letzte Kapitel dieser Erzählung. Viele Spanier sehen nur noch „Kürzungen“, welche die erreichte Angleichung an den westeuropäischen Lebensstandard nun angeblich zunichtemachen.
Wie in anderen betroffenen Ländern fällt auch den Spaniern die Einsicht schwer, dass die privaten und öffentlichen Austeritätsprogramme Ergebnis vorausgegangener Fehler und Versäumnisse sind. Hierfür die europäischen Nachbarn verantwortlich zu machen, verschafft nur vorübergehende Erleichterung – und beschädigt zunehmend das europäische Fundament.
Adriaan Kühn, Auslandsbüro Madrid der Konrad-Adenauer-Stiftung
Irland: Das Thema „Finanzkrise und das verordnete Sparen“ muss aus deutscher Sicht mit einem Exkurs beginnen: Im ersten Semester des Ökonomiestudiums lernt man die „schwäbische Hausfrau“ kennen, die das Familieneinkommen (Y) für den Konsum (C) und zum Sparen (S) verwendet, also Y=C+S. Etwas später wird der „schwäbische Mittelständler“ vorgestellt, der sein Einkommen (Y) einsetzt für Konsum (C) und Investitionen (I), also Y=C+I, wobei er für die Finanzierung seiner Investitionen seine und die über Banken kanalisierten Ersparnisse anderer „Schwaben“ einsetzt. Verhielten sich alle „Schwaben“ so, spräche man von einem ökonomischen Gleichgewicht (I=S). Kredite, also eine Schuldenaufnahme, würden sich nur rechtfertigen, wenn damit eine produktive Investition getätigt würde, die ein Einkommen schaffen, oder wenn die Kredite durch späteres Sparen abgezahlt würden.
Wie nun verhalten sich die „irische Hausfrau“ und der „irische Unternehmer“? Natürlich verbietet sich eine Verallgemeinerung. Denn es gibt die soliden Iren ebenso wie die ökonomisch unverantwortlichen. Ist Sparen eine Tugend in diesem Land? Widerspricht Sparen nicht eigentlich der allseits bekannten und geschätzten irischen Großzügigkeit und Gastfreundschaft?
Irland gehörte – hervorgerufen nicht zuletzt durch die englische Kolonisierung seit dem siebzehnten Jahrhundert – auch weitere siebzig Jahre nach der Unabhängigkeit 1921 zu den ärmsten Regionen Europas. Eine „Sparkultur“, ausgerichtet auf Investitionsabsichten, konnte sich in dieser Situation kaum entwickeln. Man hatte einfach zu wenig, um es zu sparen. Der Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1973, massive Auslandsinvestitionen, besonders aus den USA und seitens der EWG (Strukturfonds, Sozialfonds, Agrarsubventionen), relativ niedrige Löhne sowie eine gut ausgebildete Bevölkerung ermöglichten eine zunächst langsame Verbesserung und ab Mitte der 1990er-Jahre bis 2007 eine „Bonanza“, die den „Celtic Tiger“ auf den zweiten Platz der EU-Reichtumstabelle springen ließ.
In dieser Boomzeit schienen die erwähnten „Erstsemester-Erkenntnisse“ vergessen. Um eine Überhitzung der Konjunktur und Inflation zu vermeiden, startete die Regierung ein äußerst lukratives Sparförderungsprogramm, was einer der Gründe dafür ist, dass die Banken „in Geld schwammen“ und billige Kredite bei geringer Absicherung vergaben. Das heizte den Bauboom an, allerdings auch die Baupreise, sodass viele Iren der Ober- und oberen Mittelschicht glaubten, Investitionen in Immobilien seien der beste Weg, die für den Konsum nicht benötigten Einkommensteile und Kredite einzusetzen. Zudem führten die gestiegenen Einkommen nicht nur zu einer Erhöhung des allgemeinen Preisniveaus; vielmehr brachte der Konsumrausch auch seltsame Blüten hervor, wie etwa den Flug nach New York zum Weihnachtseinkauf. Wären die erhöhten Ausgaben allein aus den erhöhten Einkommen oder Ersparnissen finanziert worden, so hätte man sich noch in der Nähe der „Erstsemester-Erkenntnisse“ befunden. Der Boom erdrückte freilich jegliche ökonomische Vernunft, und „die Leute“, wie der neue irische Regierungschef bei der Davoser Weltwirtschaftstagung ökonomisch korrekt, wenngleich politisch wenig geschickt, sagte, „verschuldeten sich wie verrückt“ („people went mad borrowing“).
Der Lehman Brothers-Pleite folgte 2007 in Irland eine Bankenkrise, die wiederum zu einer Staatsfinanzkrise führte, weil die vorige Regierung Einlagen und Schulden der irischen Banken in unbegrenzter Höhe garantierte. Die Regierung, deren führende Partei Fianna Fáil seit fünfzehn Jahren an der Macht war, wurde 2011 abgewählt, und die neue Fine Gael-Labour-Regierung sah sich mit einem Schuldenberg von circa 148 Milliarden Euro (107 Prozent des Bruttosozialeinkommens) konfrontiert.
Vor dem Hintergrund der einstigen Armut und der Kenntnis des Wohlstands auf dem Kontinent ist der Konsumnachholbedarf der Jahre 1998 bis 2003 zu verstehen. Spätestens dann hätte die Regierung freilich einen „Julius-Turm“ anlegen müssen (man hatte einen Budgetüberschuss), glaubte aber wohl an x-mal „sieben fette Jahre“. So blieb der neuen Regierung ab 2011 nur der Weg, der Bevölkerung ein „Zwangssparen“ durch Steuererhöhungen und Gehaltskürzungen aufzuerlegen (im Öffentlichen Dienst zwanzig bis 25 Prozent). Die Arbeitslosigkeit, bis 2007 unter vier Prozent, schnellte zwischen 2008 und 2010 auf fast fünfzehn Prozent hinauf, der davon betroffene Bevölkerungsteil war zu weiteren Ausgabenkürzungen gezwungen.
Sparen hat in einer solchen Situation der relativen Armut und des anschließenden Booms kaum eine Chance, zu einer Tugend zu werden. Es wäre freilich der wirtschaftliche Untergang des Landes gewesen, hätte man in der Finanzkrise nicht durch Ausgabenkürzungen versucht, sich dem Ziel Y=C+S und Y=C+ I, also S= I, wieder anzunähern. Die überaus große Mehrheit der Iren hat die Einsparungen bisher akzeptiert, zwar murrend, aber – wegen versäumten Sparens – mehr schuldbewusst im stillen Kämmerlein als dem Protestmarsch-Beispiel der Südeuropäer folgend. Es ist nicht auszuschließen, dass das zu einer „Spartugend“ führt, die nicht zwangsläufig Großzügigkeit in Geiz umschlagen lässt, aber Sparen auch nicht zum Selbstzweck deklariert. Grün ist die Farbe Irlands – und die Farbe der Hoffnung.
Dieter W. Benecke, ehemaliger Vorstand von Inter Nationes, langjähriger Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Wohnsitz in Dublin
Frankreich: Das Sparverhalten der privaten Haushalte und jenes des Staates klaffen in Frankreich deutlich auseinander. Die privaten Haushalte sind im internationalen Vergleich sehr sparsam. Ihre Sparquote liegt im langfristigen Durchschnitt bei elf bis zwölf Prozent und damit um gut einen Prozentpunkt höher als in Deutschland.
Dagegen kann von Sparsamkeit im staatlichen Bereich schon lange keine Rede sein. Seit den 1970er-Jahren weist der Staatshaushalt ein Defizit auf. Zwar hat die französische Regierung zugesagt, das Haushaltsdefizit im Jahr 2013 auf unter drei Prozent zu drücken. Vor Kurzem musste sie aber einräumen, dass sie das Ziel verfehlen und das Defizit bei mindestens 3,7 Prozent liegen wird. Im Jahr 2014 dürfte es mit 3,9 Prozent sogar noch höher sein. Die sehr nachsichtige und konziliante Reaktion der EU-Kommission auf dieses Eingeständnis verwundert und wird bei anderen Staaten die Frage aufwerfen, warum sie sich eigentlich so anstrengen, die europäischen Verträge zu erfüllen. Dabei ist (bisher zumindest) nichts von einer Naturkatastrophe oder einem anderen unabwendbaren Ereignis bekannt geworden, welches als Ursache des zu hohen Defizits herangezogen werden könnte. Allerdings interpretiert die sozialistische Regierung das ausbleibende Wirtschaftswachstum als schicksalhaft und gänzlich unverschuldet. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die Regierung Hollande tut alles, um auch noch den kleinsten Funken des Wirtschaftswachstums auszutreten. In Erwartung eines „Deus ex Machina“ in Gestalt des europäischen Fonds zur Wachstumsförderung haben sich auf diese Weise in den vergangenen Jahren enorme Schuldenbestände angesammelt. Im Jahr 2013 wird der Schuldenstand auf über 95 Prozent des Bruttosozialproduktes anwachsen. Damit erreicht er ein Niveau, bei dem nach Meinung führender Ökonomen und des Internationalen Währungsfonds der hohe Schuldenstand selbst zur Wachstumsbremse wird. Aber die Regierung Hollande glaubt weiter an die Segnungen keynesianischen „deficit spendings“, obwohl die makroökonomischen Rahmenbedingungen ganz andere sind. Mehr oder minder offen macht sie auch die Bundesregierung für das Ausbleiben des Wachstums verantwortlich, weil sie auf Ausgabendisziplin und Strukturreformen besteht.
Aber vielleicht ist gerade die fehlende Disziplin der französischen Regierung bei der Sanierung der öffentlichen Haushalte der Grund für die hohe Sparquote der privaten Haushalte? Wo der Staat seine Finanzen nicht in Ordnung hat, müssen zumindest die Privaten angemessene Risikovorsorge treffen.
Norbert Wagner, Auslandsbüro Paris der Konrad-Adenauer-Stiftung
Japan: Das Land blickt auf „zwei verlorene Jahrzehnte“ zurück, in denen die Wirtschaft nicht oder nur schwach gewachsen, die Wettbewerbsfähigkeit eingebrochen und die Staatsverschuldung außer Kontrolle geraten ist. Die im Dezember 2012 gewählte Regierung will das mit einem umfangreichen und in seinen Dimensionen kühnen Konjunkturprogramm ändern. Es wird nach seinem Initiator, Japans neuem Ministerpräsidenten, „Abenomics“ genannt. Damit soll die seit Langem bestehende Deflation beendet, Wachstum geschaffen, zusätzliche Arbeitsplätze bereitgestellt und die Staatsverschuldung abgebaut werden.
Einen deutlichen Hinweis auf gravierende Strukturschwächen Japans gibt die staatliche Verschuldung. Sie wuchs vom Beginn der 1990er-Jahre bis heute um knapp 170 Prozent und liegt bei circa 240 Prozent des Bruttosozialproduktes. Da die Steuereinnahmen zur Finanzierung des Staatshaushaltes bei Weitem nicht mehr ausreichen – er wird zur Hälfte durch Schuldenaufnahme finanziert –, steigt die Staatsverschuldung kontinuierlich. Dabei muss erwähnt werden, dass Japan nach wie vor die drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt ist, die Arbeitslosigkeit nie über fünf Prozent anstieg und die Produktivitätsfortschritte im internationalen Vergleich in der Spitzengruppe liegen. Das Land besitzt eines der höchsten Auslandsguthaben der Welt, die Verschuldung der Unternehmen und privaten Haushalte ist gering. Japan leidet nicht unter ökonomischen Instabilitäten, wohl aber – wenn es weiterhin eine führende Wirtschaftsmacht sein will – unter notwendigen Anpassungsmaßnahmen und einer mangelnden Umsetzung drängender struktureller Reformen. Darüber hinaus ändert die Demografieentwicklung fundamental seine Wachstums- und Wirtschaftsstruktur.
Das ist der Politik längst bewusst. Paradoxerweise erlaubten es bislang jedoch gerade die Defizite der Staatshaushalte, welche die Auswirkungen des Strukturwandels dämpften und streckten, den Reformprozess zu verschieben. Das war möglich, da die Staatsverschuldung zu über 95 Prozent von den Japanern selbst getragen wird, sie also bequem im Lande selbst finanziert werden kann. Sie stellt bislang lediglich ein inländisches Bilanzproblem einer reichen Volkswirtschaft dar. Solange eine binnenwirtschaftliche Finanzierung möglich ist, die internationalen Finanzmärkte also nicht benötigt werden, können schmerzhafte Anpassungen vermieden werden. Das dürfte der Grund dafür sein, dass in der gegenwärtigen innerjapanischen Diskussion die Schuldensituation keine zentrale Rolle spielt. Dennoch bewirkt die zunehmende Verschuldung aber eine verstärkte Anfälligkeit für Krisen, denn Japans Finanzierungsmöglichkeiten werden schwieriger. Bereits jetzt muss die Hälfte der jährlichen Neuverschuldung des Staatshaushaltes wieder für den Schuldendienst ausgegeben werden.
Die Regierung und eine Reihe von japanischen Ökonomen glauben daher, die Staatsschulden mit beabsichtigten Erhöhungen der Verbrauchssteuern bis zu zehn Prozent, vor allem aber durch den erwarteten Erfolg der „Abenomics“ mittel- und langfristig zurückführen zu können. Diese setzen sich aus einer neuen Kombination der Fiskal- und Geldpolitik zusammen, die mit Strukturreformen verbunden werden. Ihr Ansatz und ihr massiver Umfang kommen für Japan einer monetären Revolution gleich und bedeuteten einen radikalen Strategiewechsel der Geldpolitik.
Fiskalpolitisch bedeutet das: Für Konjunkturprogramme des zu Ende gehenden Haushaltsjahres 2012 / 2013 waren circa 120 Milliarden Euro als Initialzündung vorgesehen. Für das Haushaltsjahr 2013/ 2014 beträgt der Gesamthaushalt circa 850 Milliarden Euro. Geldpolitisch sind eine Verdopplung der Geldbasis bis Ende 2014 von circa 1,15 Billionen Euro und ein jährlicher Kauf von Staatsanleihen in Höhe von circa 400 Milliarden Euro mit einem Inflationsziel von zwei Prozent vorgesehen. Die bisherige De-facto-Abwertung des Yen von circa zwanzig Prozent gegenüber dem Euro beschreibt die währungspolitische Konsequenz.
Ein Reformprogramm wird derzeit ausgearbeitet und soll bis Jahresmitte 2013 vorliegen. Zusätzlich sollen Beitrittsverhandlungen zur Transpazifischen Freihandelszone und Verhandlungen über Freihandelsabkommen (FTA) mit der Europäischen Union sowie mit China und Korea die Strukturreformen voranbringen.
Japan sieht sich in dieser Politik durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) bestärkt, der auf der Grundlage der Erfahrungen mit hoch verschuldeten Ländern feststellte, dass hohes Wachstum, eine expansive Geldpolitik, Exportsteigerungen und eine schwache Währung zu einer Haushaltskonsolidierung beitragen. Nach japanischem Verständnis hat auch der G20-Gipfel vom Februar 2013 die neue Geldpolitik bestätigt.
Das Wirtschaftsprogramm von Ministerpräsident Shinzo Abe erhält eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung. Es ist ein äußerst wagemutiges Projekt, Japan auf einen Wachstumspfad zurückzuführen, die zum Teil überregulierte Wirtschaft zu vitalisieren, den Wettbewerb zu stärken und überfällige Strukturreformen anzupacken. In diesem Sinne haben
„Abenomics“ auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung. Sie können nur gelingen, wenn die Strukturreformen schnell formuliert und umgesetzt werden, die Unternehmen die Geldschwemme zu Investitionen nutzen und die Gesellschaft die notwendigen Veränderungen annimmt. Die expansive Fiskal- und Geldpolitik hat die Grundlagen gelegt; der nächste Schritt, die Durchführung der Strukturreformen, dürfte über Erfolg oder Misserfolg der „Abenomics“ und damit über die Zukunft Japans entscheiden.
Jörg Wolff, Auslandsbüro Tokio der Konrad-Adenauer-Stiftung