Die politische Kultur Griechenlands ist bereits zum Zeitpunkt der Gründung des neugriechischen Staates 1830 durch einen allumfassenden Klientelismus geprägt: In einem jahrhundertelangen Prozess hatten sich substaatliche Strukturen großfamiliärer Netze unter den Bedingungen der osmanischen Besatzung entwickelt, deren Nachwirkungen noch heute Gründe eines fundamentalen Missverstehens sind (siehe dazu Die Politische Meinung, März 2012, Nr. 508, Seite 51–58). Die griechischen Parteien waren und sind pyramidenförmige klientelistische Netzwerke, die durch Rousfetia (Gefälligkeiten: Geld und Posten) zusammengehalten werden.
Während der Militärdiktatur (1967– 1974) begann unter den in Europa lebenden Exilgriechen eine intensive Diskussion darüber, wie man das klientelistische System überwinden könne. Bald bestand Konsens, dass man den Charakter der Parteien verändern müsse, indem man Parteien europäischen Typs (evropaïkou typou) ins Leben rief, also Parteien mit Programmen, Kongressen, internem demokratischen Willensbildungsprozess und Wahl der Führung. Dazu sollte nach dem Verschwinden der Militärjunta eine neue, sozialdemokratisch ausgerichtete Partei gegründet werden. Man schmiedete Pläne, wurde aber von einer neuen Entwicklung überrascht: Im Sommer 1974 stürzte die Junta über die von ihr selbst provozierte Invasion Zyperns durch die Türkei. Die Nachfolger riefen Konstantinos Karamanlis aus seinem freiwilligen Exil in Paris zurück, damit er erneut die Macht übernehme.
Auch der konservative Karamanlis hatte im Pariser Exil die französischen Parteien aufmerksam beobachtet und wollte nun nach seiner Rückkehr ebenfalls eine Partei europäischen Typs gründen. So entstand die Nea Dimokratia (ND), die zunächst die Aufnahme von Teilnetzen der alten ERE-Partei ablehnte. Doch schon nach zwei Monaten gab sie auf und akzeptierte die alten klientelistischen Kader der ERE (Ethniki Rizospastiki Enosis – Nationalradikale Union) mit ihrer jeweiligen Klientel. Wenig später erschien Andreas Papandreou in Athen. Er hatte im Exil an der Diskussion über eine Partei „europäischen Typs“ und die Notwendigkeit einer Grundlegenden Reform des griechischen politischen Systems teilgenommen und Umstrukturierungen angestrebt. Doch die guten Vorsätze gerieten bei der Gründung der Panellinio Sosialistiko Kinima (Panhellenische Sozialistische Bewegung – PASOK) in Vergessenheit. Nach außen hin gab sich die neue Partei als linkssozialistisch, tatsächlich war die PASOK vom ersten Moment an eine von Papandreou straff geführte Klientelpartei mit modernen Strukturen und die Fortsetzung der alten Zentrumsunion. Die ND holte eine solche Wende zum radikalen Klientelismus erst in den 1990er-Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Neffen Karamanlis’ nach.
Im Juli 1975 stellte die Regierung Karamanlis den Antrag auf Vollmitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Karamanlis wollte vor allem den innergriechischen Demokratisierungsprozess durch den EWG-Beitritt absichern und die politische Kultur Griechenlands europäisieren. Auf dem wirtschaftlichen Sektor hoffte er, dass ein EWG-Beitritt das Land wirtschaftlich voranbringen und Griechenland aus einem Agrarstaat zu einem industrialisierten Land machen werde. Den Wunsch, die Demokratie in Griechenland zu stärken, hatte aber damals nicht nur Karamanlis, sondern hatten auch die damals wichtigsten Staatsmänner der EWG, Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt. Obwohl sie wussten, dass die griechische Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig war, waren sie bereit, Griechenland in die Gemeinschaft aufzunehmen, um seine Demokratisierung abzusichern. Diese idealistische Sichtweise basierte auf der Einstellung, dass man der Wiege der europäischen Kultur ein Recht auf Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft nicht verweigern könne.
Europäische Hilfsgelder als „Rousfetia“
Diese Argumentation brachte auch Karamanlis damals vor, und bis heute findet sie immer wieder Anwendung. Doch weder Giscard noch Schmidt begriffen, dass es mit einer formalen Demokratisierung nicht getan war. Um ein „funktionierendes“ Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden, hätte Griechenland das griechische Klientelsystem überwinden und eine politische Kultur westeuropäischer Art entwickeln müssen. Ohne eine solche Metamorphose würde die Mitgliedschaft in der EWG nur zu Verstärkung des Klientelismus führen, da nun die europäischen Hilfsgelder für die Verteilung von Rousfetia zur Verfügung standen. Wie die weitere Entwicklung bis zur Gegenwart zeigt, war diese Unterlassung ein kapitaler Fehler mit schwerwiegenden Folgen bis heute. Dass die damaligen europäischen Staatsmänner die Gefahr nicht erkannten, lag daran, dass sich niemand in Europa der fundamentalen Andersartigkeit der griechischen politischen Kultur bewusst war. Hier wurde die entscheidende Weichenstellung verpasst.
Vergessene Wahlversprechen
Am 10. Oktober 1981 fanden Parlamentswahlen statt. Andreas Papandreou führte seinen Wahlkampf mit dem Slogan Allagi (Wechsel). Außenpolitisch propagierte er den Austritt aus der NATO und die Annullierung des EWGBeitrittsvertrages. Die PASOK hatte das ganze Land mit Parteibüros überzogen, die Mitglieder waren straff organisiert und gut geführt. Papandreous PASOK gewann 48,1 Prozent der Stimmen und 172 der 300 Sitze im Parlament. Einmal gewählt, rückte Andreas Papandreou von seinen außenpolitischen Wahlversprechungen ab. Griechenland blieb im NATO-Bündnis. Während des Wahlkampfes hatte Andreas Papandreou die Annullierung des EWG-Vertrages gefordert, nach seinem Wahlsieg ließ er diese Forderung stillschweigend fallen; denn mit dem Beitritt zur EWG begannen Hilfsgelder für die Entwicklung des Landes nach Griechenland zu f ließen, mit denen er seine Klientel bedienen und sein Netzwerk in ungekanntem Ausmaß ausweiten konnte. Diese Hilfsgelder machten im Zeitraum bis 1988 immerhin schon drei Prozent des griechischen Bruttoinlandsprodukts aus. Bislang waren die griechischen Parteien pyramidenförmige Klientelnetzwerke gewesen, die durch Rousfetia zusammengehalten wurden. Der Staat und die Verwaltung waren davon nur bedingt berührt worden und ihrer eigenen Gesetzlichkeit gefolgt. Doch nun okkupierte und penetrierte die PASOK den Staat. Die Souveränität der staatlichen Verwaltung wurde völlig aufhoben. Von nun an gab es keine technokratischen, souveränen Entscheidungen mehr, sondern nur noch parteipolitische.
Die direkte Integration des Öffentlichen Dienstes in das Klientelsystem führte zu grotesken Zuständen. Gehälter wurden nicht länger nach dem Prinzip des Dienstgrades bezahlt, sondern davon losgelöst. In vielen Fällen nahmen die Inhaber solcher Gehälter nicht einmal ihren angeblichen Dienst wahr. Die Zahl der Führungspositionen wurde aufgebläht. Am Ende arbeitete eine Million Menschen im Öffentlichen Dienst, das heißt, jeder vierte Arbeitsplatz war staatlich. In wenigen Jahren wurde der öffentliche Dienst um 82.000 Personen erweitert – eine Zunahme um sechzig Prozent! Gehälter und Löhne wurden erhöht. In der Folge stiegen die staatlichen Ausgaben enorm an und damit auch das staatliche Haushaltsdefizit und die staatliche Verschuldung.
Hausgemachte Entindustrialisierung
Mit dem EWG-Beitritt fielen die Zollschranken, die bislang die griechische Industrie bis zu einem gewissen Grad geschützt hatten. Nun kam es zu einer enormen Zunahme der Importe aus den Ländern der Gemeinschaft. Allein 1981 stieg das griechische Handelsbilanzdefizit um 86,6 Prozent und blieb danach immer defizitär. Die erwarteten Investitionen aus dem EWG-Raum blieben vor allem aufgrund der völlig ineffizienten griechischen Bürokratie aus. Da die vom Regional, Struktur- und Agrarfonds Griechenland zugewiesenen Finanzmittel veruntreut wurden, fielen die Landwirtschaft und die Industrie des Landes immer weiter zurück. Die Industrie verlor ihre Wettbewerbsfähigkeit. Am Ende dieser Entwicklung war Griechenland ein entindustrialisiertes Land.
Bei Papandreous Amtsantritt lag die griechische Staatsverschuldung bei dreißig Prozent des Bruttoinlandsprodukts, bis 1990 stieg sie auf achtzig Prozent. Papandreou finanzierte seine sozialen Wohltaten vor allem mit den Hilfszahlungen aus Brüssel und immer neuen Krediten. Zwischen 1981 und 2006 erhielt Griechenland aus dem Strukturfonds der EG beziehungsweise EU 52 Milliarden Euro. Nach 2013 folgten weitere 20,6 Milliarden. Papandreous Wirtschaftspolitik war der Beginn dessen, was im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in die Krise führte.
Aber die Neigung zu höheren Löhnen verbreitete sich auch in der Wirtschaft. In den 1980er-Jahren nahm das Einkommen der Griechen im Durchschnitt um 26 Prozent zu. Griechische Firmen, die aufgrund der Lohnerhöhungen pleitegingen, wurden in Staatsbesitz überführt. Sie arbeiteten danach keinesfalls wirtschaftlicher und konnten mit weiterem Personal versehen werden, was ihre Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit weiter reduzierte. Doch dies beunruhigte Papandreou wenig, da er die Haushaltslöcher mit EG-Geldern schließen konnte.
Mit einer kurzen Unterbrechung zwischen 1989 und 1993 regierte die PASOK bis 2004. 1996 löste Konstantinos Simitis, Jurist und Wirtschaftswissenschaftler, Papandreou ab. Einmal an der Regierung, versuchte Simitis, das Steuer wirtschaftspolitisch herumzureißen. Er reduzierte die Neuverschuldung und verringerte die Staatsausgaben. Um zu staatlichen Einnahmen zu kommen, wurden sogar Staatsbetriebe privatisiert. Simitis’ Maßnahmen zeigten Erfolg, denn in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre wuchs die griechische Wirtschaft.
Simitis’ nächstes Ziel war der Eintritt Griechenlands in den Euroraum. Der Antrag hätte zurückgewiesen werden müssen, denn es war bekannt, dass die griechischen Zahlen nicht stimmten. Deutschland und Frankreich machten damals aber selbst mehr Schulden als erlaubt. So stimmten trotz der Warnungen von Eurostat die europäischen Finanzminister 2000 der Aufnahme Griechenlands in den Euroraum zu.
Eldorado Eurozone
Der Beitritt zur Eurozone machte es den griechischen Regierungen möglich, Kredite zu günstigen Zinsen aufzunehmen. In der Eurozone und mit den Garantien der Europäischen Zentralbank konnte der griechische Staat zum ersten Mal in seiner Geschichte langfristige und zinsgünstige Anleihen aufnehmen und ihre Tilgung durch neue Kredite hinausschieben. Der Versuchung, immer neue, billige Kredite aufzunehmen, konnte keine griechische Regierung widerstehen. Weder in Griechenland noch in Brüssel hörte man auf die frühzeitigen Warnungen der Fachleute. Das Geld wurde in großem Stil ausgegeben: 2004 richtete Griechenland die Olympischen Sommerspiele aus. Da die griechische Wirtschaft weder die Planung noch den Bau der notwendigen Infrastruktur leisten konnte, gingen die Aufträge an ausländische Firmen. Bei der Vergabe flossen große Beträge in die Taschen der griechischen Vermittler.
Aber nicht nur der Staat lebte über seine Verhältnisse, sondern auch die Bürger. Seit den 1980er-Jahren nahm der Konsum noch nie da gewesene Ausmaße an. Die griechische Gesellschaft lebte in einem Wohlstand, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Gab es noch in den 1970er-Jahren in Athen kaum mehr als einen Supermarkt mit europäischen Importwaren, wurden Anfang des neuen Jahrtausends Läden, die griechische Waren verkauften, rar. Familien der Mittelschicht hatten wie selbstverständlich Zweitwagen und leisteten sich bisweilen sogar eine Ferienwohnung. Griechenland gab sich bis zum Ausbruch der Krise 2009 dem Konsum hin.
Als 2004 die Nea Dimokratia wieder an die Macht gewählt wurde, setzte sich diese Entwicklung fort. Die Führungselite der ND waren nun nicht länger wohlhabende Konservative, sondern Menschen einer jüngeren Generation, die von der Gier nach schnellem Geld getrieben wurden. Während ihrer Herrschaft nahm die Verschuldung unvorstellbare Ausmaße an. Die staatliche Praxis verleitete die griechischen Banken dazu, ebenfalls Schulden zu machen, und sie animierten die Bürger, auf Kredit zu konsumieren. Etwa zwei Jahrzehnte lang gab es in Griechenland einen noch nie dagewesenen Wohlstand der breiten Bevölkerung, der jedoch nicht zu Investitionen führte. Sofern die geliehenen Gelder nicht in den Konsum flossen, verschwanden sie auf Konten im Ausland.
Hinzu kommt: Wie schon nach 1830, so wurde auch nach 1974 die reiche Oligarchie Griechenlands nicht besteuert. Weder die „linke“ PASOK noch die konservative ND wagten es, die Reichen zur Kasse bitten – wenig erstaunlich, denn die politische und die wirtschaftliche Oligarchie sind aufs Engste verfilzt. Die tragische Verstrickung des Landes bedeutet heute: Die fraglos notwendige Hilfe für Griechenland kann nur unter den Bedingungen strengster Kontrolle überhaupt wirksam werden.
Heinz A. Richter, geboren 1939 in Heilbronn, emeritierter Professor für griechische und zypriotische Zeitgeschichte an der Universität Mannheim.
Weiterführende Literatur
Heinz A. Richter: Geschichte Griechenlands im 20. Jahrhundert. Band 2: 1939–2004, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2015.