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Die Memoiren der Altkanzlerin

Angela Merkel mit Beate Baumann: Freiheit. Erinnerungen 1954–2021, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 736 Seiten, 42,00 Euro.

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„Wer schreibt, der bleibt“ – das scheint nicht nur die Maxime von „Otto Normalsterblich“ zu sein, sondern selbst Regierungschefinnen und Regierungschefs bevorzugen es, das Narrativ ihrer Amtszeit in Form von Memoiren selbst zu prägen. Gern werden Memoiren dabei gleichsam als natürliche Fortsetzung der Amtspflichten gesehen. Konrad Adenauer beispielsweise sprach von der „Memoirenfron“, die er zu bewältigen habe. Dabei hat das Genre dieser Lebenserinnerungen Werke von sehr unterschiedlicher Qualität hervorgebracht: von den zwölfbändigen Höhenflügen eines Literaturnobelpreisträgers Winston Churchill bis hin zum erst kürzlich entdeckten kaum 100 Seiten starken Lebensbericht von Ludwig Erhard. Mit Blick auf den Umfang der Adenauer-Autobiographie mit insgesamt rund 2.220 Seiten und den Erinnerungen von Helmut Kohl mit knapp 2.400 Seiten Gesamtumfang nehmen sich die rund 700 Seiten der Memoiren von Angela Merkel fast bescheiden aus.

Der Vergleich mit Adenauer und Kohl ist nicht nur wegen der langen Zeit der jeweiligen Kanzlerschaft passend, sondern auch, was den Stil betrifft: eine eher nüchterne, relativ anekdotenarme Schilderung der Abläufe in der Politik, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – darauf verzichtet, politische Gegenspieler frontal und schonungslos anzugehen und sich an ihnen „abzuarbeiten“. Der Blick auf den früheren innerparteilichen Gegenspieler und aktuellen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz ist in den Memoiren Angela Merkels beispielsweise eher wohlwollend. Mit Kohl und Adenauer teilt sie allerdings auch die am Ende ebenso enttäuschte wie letztlich naive Erwartung des Publikums, dass in diesen Memoiren eine zerknirschte Selbstreflexion und detaillierte Analyse aller vermeintlichen Fehler erfolgen würde.

Und doch wäre es wohl verwunderlich, wenn die erste Bundeskanzlerin nicht auch hier ihre Einzigartigkeit unter Beweis stellen würde. Es mag zwar den veränderten Zeiten moderner Kommunikation geschuldet sein – dennoch ist das zeitgleiche Erscheinen des Buches in dreißig Ländern der Welt zumindest für die deutschsprachige Memoirenliteratur eine einmalige Dimension. Zur deutschsprachigen Ausgabe gibt es gar ein Hörbuch, eingesprochen von der Schauspielerin Corinna Harfouch. „Mehr Brimborium geht kaum“, kommentiert die Neue Osnabrücker Zeitung das lakonisch.

 

Anwerbeversuch der Stasi

Dass mit Beate Baumann eine enge Mitarbeiterin als Co-Autorin fungiert, zumal eine, die das Licht der Öffentlichkeit bewusst nicht sucht, ist eine Besonderheit. Eine Tatsache, die sich auch im Informationsgehalt niederschlägt und eine spannende Neuigkeit aufweist: Dass die fast ikonische Äußerung der Kanzlerin auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise – „Wir schaffen das“ – von Baumann stammte, war bislang nicht bekannt. Dass die Auswahl des Verlags und die Fragen der Präsentation ebenfalls in den Händen der beiden Protagonistinnen geblieben und genauestens geplant worden sind, darf man wohl unter „typisch Merkel“ verbuchen.

Die Unvergleichbarkeit ihres Lebenslaufs ist so etwas wie die Grundmelodie ihres Buches, die schon im Prolog mit dem bezeichnenden ersten Satz angestimmt wird: „Dieses Buch erzählt eine Geschichte, die es so nicht noch einmal geben wird, schon weil es den Staat, in dem ich 35 Jahre gelebt habe, seit 1990 nicht mehr gibt“ (S. 11). Damit ist bereits auf eine große Stärke des Bandes verwiesen. Mindestens die ersten drei Teile des Buches – die Beschreibung des Lebens in der DDR bis 1989, die Schilderung des demokratischen Aufbruchs zwischen dem Herbst 1989 und dem Ende des Jahres 1990, aber auch die Zeit des Aufbaus im Osten und des Aufstiegs Merkels in der Parteihierarchie – sind streckenweise fesselnd, nicht selten auch berührend, gelegentlich mit Spuren des berühmten trockenen Humors der Kanzlerin gewürzt. Zumindest für diesen Teil der Memoiren ist die abwertende Einschätzung Berthold Kohlers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Kanzlerin sei eine Ausnahmeerscheinung gewesen und ihre Memoiren seien es nicht, unzutreffend.

Wenige andere Bücher dieser Art schildern so unideologisch, so plastisch und lebensnah den Gegensatz zwischen einem repressiven Regime einerseits und einer Kindheit, Jugend und frühen Erwachsenenzeit, die im persönlichen Umfeld als angenehm, ja glücklich empfunden worden ist, andererseits. Der Versuch, sich im Angesicht der Diktatur eine gewisse „Unbekümmertheit“ zu erhalten, der die Schilderungen bisweilen für den unbedarften (West-) Leser irritierend positiv erscheinen lässt, kontrastiert dann aber mit Szenen, die die Bedrohlichkeit der Allmacht des Regimes beinahe physisch erlebbar machen, etwa ein Vorfall an der Universität Leipzig, als Angela Merkel heimlich Physikaufgaben im Marxismus-Leninismus-Unterricht löst, im Hörsaal öffentlich „verpetzt“ wird und die Schulung vor aller Augen verlassen muss, oder der Versuch der Stasi, sie am Rande eines Vorstellungsgespräches in Ilmenau als Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) anzuwerben. Ein unmoralisches Angebot, das sie mit der klugen Bemerkung konterte, sie sei eine kommunikative Person, die Geheimnisse schlecht für sich behalten könne, was sie für diesen Dienst ungeeignet mache. Ein Satz, der zum Schmunzeln anregt, weil es gerade die Sphäre der Verschwiegenheit war, die ihre Amtszeit ebenso prägen wie im Übrigen auch Teile dieser Lebenserinnerungen.

 

Legendäre „Elefantenrunde“

Eindrücklich sind die Schilderungen von den Anfängen der friedlichen Revolution bis hin zur Wiedervereinigung: ihre gespannte Gewissheit spätestens nach der Präsentation des Kohl’schen Zehn-Punkte-Plans, „hier entsteht etwas Neues, ich möchte dabei sein“ (S. 130); ihr Einsatz für eine neu gegründete Partei, den Demokratischen Aufbruch (DA); die Feuerprobe der Bewältigung der Enttarnung des DA-Chefs Wolfgang Schnur als IM, bei der sie als Pressesprecherin in der ersten Reihe stehen musste; dann der atemberaubend schnelle Sprung in die Regierungsverantwortung als stellvertretende Regierungssprecherin und als Mitglied der DDR-Delegation bei den innerdeutschen Verhandlungen über die Einheit und schließlich der Eintritt in die aktive Politik, in den Bundestag und das Kabinett. Ein atemberaubend steiler Weg, der mit der Wahl zur ersten Bundesvorsitzenden der CDU in Essen seinen Höhepunkt fand. Manchmal gelingen ihr – wie bei der Schilderung dieses Ereignisses – Sätze, die erspüren lassen, wie sehr ihr angeblich so gespaltenes Verhältnis zur CDU tatsächlich von großer Nähe, aber immer auch einer Portion Distanz geprägt war: „Ich fühlte mich eins mit den Delegierten. Es war der perfekte Parteitag. Nie wieder, auch als Bundeskanzlerin nicht, erlebte ich einen Parteitag mit einem solchen Gefühl der Einigkeit zwischen der CDU und mir und mir und der CDU“ (S. 270).

Fünf Jahre später erringt sie die Kanzlerschaft. Die verbleibenden beiden Teile des Buches, die sich, unterbrochen durch die von ihr so empfundene Zäsur der Flüchtlingskrise, der Zeit bis zum Ende ihrer Regierungszeit widmen, leitet sie mit der Schilderung der legendären „Elefantenrunde“ am Wahlabend ein, bei der Gerhard Schröder bekanntlich großspurig den Wahlsieg für sich reklamierte und bei der sie zwar äußerlich ihre Nervenstärke zeigte, indem sie ruhig blieb, aber im Buch doch offenbart, was dieser Abend in ihr ausgelöst hat: „Wahnsinn! Was ist denn hier los!“ (S. 298)

So lesenswert diese Anfangspassage und so spannend die „Innensicht“ in der Betrachtung der Ereignisse 2015 ist, so sichtbar unterscheiden sich diese Abschnitte der Memoiren von den ersten Teilen des Buches und wecken in ihrer sehr zurückgenommenen, beinahe amtlichen Sprache gelegentlich – zugespitzt formuliert – den Eindruck, als wohne man einer zur Buchform geronnenen langen Regierungspressekonferenz bei, bei der ganz im Sinne der „berühmten“ Merkel’schen Vorsicht die Botschaft eher zwischen den Zeilen zu finden ist.

 

„Eiserne Rechtfertigung“ ist nicht verwerflich

Von nahezu allen Rezensenten ist besonders für diesen Buchteil die Gretchenfrage gestellt worden: „Wie hältst Du’s mit der Selbstkritik?“ Ausgerechnet die (linke) taz sieht in dem offensichtlichen Bedürfnis Merkels, ihr eigenes Regierungshandeln zu erklären und auch zu rechtfertigen, nichts Verwerfliches: Die „eiserne Rechtfertigung ist ein fester Bestandteil des Genres PolitikerInnen-Memoiren“. Die allgemeine Reaktion der Öffentlichkeit ist jedoch nicht „Einsicht“, sondern teils harsche Kritik: So wie auch ihr Regierungshandeln angeblich weniger vom Weitblick geprägt und eben nicht „vom Ende her gedacht“ gewesen sei, so seien auch ihre Memoiren.

Man kann es aber auch anders sehen: Gerade in der so kritisierten Zeitreise zurück in die jeweilige Handlungssituation liegt auch eine Stärke der Memoiren. Denn manche berechtigte „Rechtfertigung“ findet in den Medien zu wenig Niederschlag; nicht zuletzt die Erkenntnis, dass die Regierungschefin und die dazugehörige Fraktion in der Konsens- und Mediendemokratie nicht einfach durchregieren können, sondern wesentlich vom Verhalten des kleineren Koalitionspartners mit abhängig sind. Zu selten wird zum Beispiel in der gegenwärtigen Diskussion über die Zeitenwende gesehen, was Merkel in den Memoiren in lesenswerter Klarheit betont hat, „dass es nicht CDU und CSU, sondern die Sozialdemokraten waren, die sich mit der Erhöhung der Verteidigungsausgaben, gelinde gesagt, schwergetan haben“ (S. 707). Angesichts des gebetsmühlenartigen Hinweises seitens der Ampelregierung, man habe sein eigenes Potenzial nicht entfalten können, weil in der Zeit Merkels und unter der Führung der CDU alles liegen geblieben sei, sorgt das für wohltuende politische Hygiene.

Zwar war auch die Russlandpolitik von fraktionsübergreifender Gemeinsamkeit getragen. Gleichwohl hätte man sich gerade in diesem Punkt doch eine Klarstellung erhofft. Dass Merkel sich bereits 2008 gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine ausgesprochen hat, dass sie auch nach der Besetzung der Krim auf eine Verhandlungslösung gesetzt hat – all das beschreibt sie aus ihrer Sicht plausibel. Dass Deutschland während der Minsker Verhandlungen die Wirtschaftsbeziehungen nach Russland und die Abhängigkeit vom dortigen Gas noch ausgebaut hat, bleibt erklärungsbedürftig.

 

Ein Dokument der Zeitgeschichte

Christoph Ziedler vom Tagesspiegel bringt nüchtern auf den Punkt, was für Memoiren von Politikerinnen und Politikern von diesem Rang auch ganz allgemein gelten kann: „Ein Dokument der Zeitgeschichte ist es – egal wie man zu Merkel steht – in jedem Fall.“ Darin liegt auch der besondere Wert dieses Buches und der Tatsache, dass Angela Merkel vergleichsweise zügig nach ihrem Amtsende ihre Memoiren verfasst hat: Dass sie schon lange vor dem Ablauf der Dreißig-Jahres-Schutzfrist für die Archivalien zu dem einlädt, was angesichts der unzweifelhaft besonderen Bedeutung ihrer Kanzlerschaft und allein schon aufgrund der langen Dauer ihrer Amtszeit geboten ist – zu dem Beginn einer systematischen akademischen Erforschung der Ära Merkel. Schon jetzt steht zu erwarten, dass eine solche wissenschaftliche Erkundung mit wachsendem zeitlichem Abstand vor allem auch von der allzu schablonenhaften Betrachtung der Ära Merkel mit wohlfeilen Schuldzuweisungen hin zu einer differenzierteren Betrachtung ihrer Zeit führen wird. Den Grundstein hat sie – auch das ist wohl typisch Merkel – mit diesem bemerkenswerten Buch souverän selbst gelegt.

 

Michael Borchard, geboren 1967 in München, promovierter Politikwissenschaftler, Leiter Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

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