Glühbirne, Gurkenkrümmung, Staubsauger. Diese Stichworte genügen, um Vorurteile gegen „Brüssel“ und die „Eurokraten“ zu wecken. Die europäischen Regelungen haben Schlagzeilen gemacht. Sie beeinflussen das öffentliche Meinungsbild von der Europäischen Union und ihren Vertretern und Institutionen alles andere als positiv. Diese Aufzählung eurobürokratischer Übertreibungen ließe sich problemlos fortführen: Klospülung, Duschkopf, Ölkännchen, Traktorsessel und vieles mehr. Nicht nur in britischen und deutschen Boulevardmedien herrscht diebische Freude, wenn EU-Beamte wieder einmal zu kleinteilig reguliert haben. Auch die versammelten Europaskeptiker, von ganz links bis rechts außen, sind beglückt. Die Öffentlichkeit nimmt diese Regulierungen wahr – nicht jedoch die meist sinnvolle, aber nur schwer zu fassende EU-Gesetzgebung.
So überflüssig die Regulierungen auf den ersten Blick erscheinen, so überzeugend sind sie nach Meinung mancher Experten. Aus technisch-fachlicher Sicht gibt es meist einige gute Gründe, die für solch eine EU-Regulierung sprechen. Nur ganz selten sind sie so schwachsinnig wie das 2013 zwischenzeitlich angedachte „Ölkännchen-Verbot“. Vordergründig wurden Lebensmittelsicherheit und Qualität als Argumente angeführt. Der Schutz der Bürger vor gepanschtem und minderwertigem Olivenöl müsse gewährleistet werden – deshalb sollten in der gesamten EU nur noch versiegelte Ölfläschchen auf Restauranttischen stehen. Wie sich herausstellte, ging es in Wirklichkeit um neue Absatzmöglichkeiten für die südeuropäische Olivenölindustrie, deren Lobbyisten die entscheidenden Impulse gegeben hatten. Kaum wurden die Pläne öffentlich, waren sie auch schon wieder begraben. Was Spanien allerdings nicht davon abhält, das Verbot trotzdem national einzuführen. Schwieriger wird es, wenn es auch gute Gründe für neue Regulierung gibt.
Legendäre Verordnungen
Die berühmte „Gurkenkrümmungsverordnung“, die von 1988 bis 2009 in Kraft und rechtlich bindend gewesen ist, ist ein Beispiel dafür. Die „Verordnung Nr. 1677/88/EWG zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken“ führte drei Qualitätsklassen von Gurken ein. Für Gewicht, Länge, Durchmesser und Krümmung wurden Mindestmaße festgelegt, damit Händler und Bauern vergleichbare Produkte für Transport und Verkauf hatten. Alle fachlich Beteiligten fanden die Regelung sinnvoll, bis die Öffentlichkeit Wind davon bekam. Dass „die EU“ die Gurkenkrümmung bürokratisch reguliert, war seitdem das Beispiel für überflüssige EU-Regulierung schlechthin. Vor allem aufgrund ihres Symbolwerts wurde sie schließlich 2009 zusammen mit zahlreichen anderen Obst- und Gemüsenormen abgeschafft. Bauern und Händler nutzen die für sie hilfreichen Kriterien allerdings weiter – im Rahmen einer Selbstverpflichtung.
Ein anderes Beispiel: die Glühbirne. Durch die sogenannte „Ökodesign-Richtlinie“ wurde die Kommission 2005 ermächtigt, „Regelungen für die umweltgerechte Gestaltung energiebetriebener Produkte festzulegen, die ein erhebliches Vertriebs- und Handelsvolumen, erhebliche Umweltauswirkung und ein erhebliches Potenzial für die Verbesserung ihrer Umweltauswirkung ohne übermäßig hohe Kosten aufweisen“, zu erlassen. Das ökologische Argument gab der Kommission die Möglichkeit, die über ein Jahrhundert lang bewährte Glühbirne zu verbieten. Der deutsche Umweltminister Sigmar Gabriel hat damals den Anstoß gegeben. Sein Vorschlag stieß auf viel Gegenliebe. Nicht nur Umweltverbände jubelten über so viel Bewusstsein für Energieeinsparung und Klimaschutz, sondern auch die Glühbirnen-Industrie freute sich. Damit mussten ihre Neuentwicklungen, ob ausgereift oder nicht, gekauft werden. Mit den herkömmlichen und günstigen Glühbirnen gab es zwar stabile, aber mäßige Einnahmen. Mit dem Verbot änderte sich das.
Auf einmal war ein Markt für Energiesparlampen geschaffen. Was nicht bedacht wurde: Im Gegensatz zu Glühbirnen enthalten sie hochgiftiges Quecksilber. Gegenwehr gegen diese „Umwelt-Industrie-Allianz“ war damals aussichtslos. Inzwischen dürfen keine neuen herkömmlichen Glühbirnen in Europa mehr produziert werden, und statt harmloser Glühbirnen hängen nun quecksilberhaltige Energiesparlampen in den meisten Haushalten – leuchtende Symbole der EU-Regelungswut. Und das war erst der Anfang.
Ein Fest für Bürokraten
Zuletzt machte das Verbot von leistungsstarken und damit energieintensiven Staubsaugern Schlagzeilen. Denn die Ökodesign-Richtlinie ist weiterhin in Kraft, und die Kommission kann sehr frei weiterhin Produkte im Sinne des Klimaschutzes regulieren. Aktuell prüft die Kommission sogar eine Ausweitung dieser Richtlinie auf nicht Energie verbrauchende Produkte. Der „Lebenszyklus“ von Produkten ist hier das Stichwort. Dann könnten auch die ökologischen Kosten der Produktion und des Transportes in einer nie gekannten Regulierungswelle einbezogen werden. Ein Fest für Bürokraten!
Der Weg, den die EU hier eingeschlagen hat und dessen Ende bislang noch nicht absehbar ist, ist gefährlich und falsch. Mit jeder weiteren kleinteiligen Regulierung zementiert die EU vorhandene Vorurteile gegenüber „Brüsseler Bürokraten“.
Dabei brauchen wir Europa so dringend wie nie zuvor. Denn es gibt unzählige Gründe, warum die Europäische Union für ihre über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger notwendig ist. Die Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise lähmt weiterhin große Teile des Kontinents. Die Rahmenbedingungen für die europäische Wirtschaft sind im Vergleich zu den weltweiten Konkurrenten nicht einfach. Die europäischen Energiepreise zählen zu den höchsten überhaupt. Rohstoffreich ist Europa im Vergleich zu vielen anderen Teilen der Welt nicht. Zahlreiche junge Leute stehen vor einer ungewissen Zukunft bei einer dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit, insbesondere in südeuropäischen Ländern. Und blickt man auf die demografischen Entwicklungen weltweit, ist klar, dass Europas Anteil an der Weltbevölkerung weiter sinken wird, während andere Völker bei sinkendem Durchschnittsalter wachsen. Allein können 82 Millionen Deutsche wenig ausrichten, über 500 Millionen Europäer dafür umso mehr. Wir brauchen Europa, um global mithalten zu können!
Das Wesentliche tun
Wenn sich die Europäische Union mit der Staubsaugermaximalleistung und Ölkännchen beschäftigt, geht sie in diesen Zeiten in eine falsche Richtung. Die EU ist zwar im Verständnis der Bürger schon lange aus dem reinen Friedensprojekt herausgewachsen. Die Erfahrungen der Menschen von heute sind schließlich andere als die ihrer Eltern und Großeltern. Das bedeutet auch, dass die europäische Einigung nicht mehr automatisch positiv besetzt ist.
Was ist also zu tun? Europa muss sich stärker auf die zentralen Themen konzentrieren: Überwindung der Krise, Haushaltskonsolidierung, Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum. Dazu kommen Maßnahmen, mit denen das Leben der Bürger konkret verbessert wird. Die Senkung der Roaming-Gebühren oder das ERASMUS-Austauschprogramm haben hierfür Vorbildcharakter. An diesen Beispielen wird der „europäische Mehrwert“ greifbar. Weniger Gesetzgebung ist manchmal mehr. Denn nur wenn die Bevölkerung Europa weiterhin will, haben wir auch in der Welt eine Chance. Gewinnen aber jene die Überhand, die Europa ablehnen, ist absehbar, dass wir künftig mit China, den USA und anderen wirtschaftlich und politisch nur noch schwer mithalten können.
Wir brauchen ein starkes Europa mit Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger. Diese Unterstützung dürfen wir nicht verspielen. Weniger könnte manchmal mehr sein.
Herbert Reul, geboren 1952 in Langenfeld, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament.