Viel ist von Zahlen die Rede, von Statistiken, von quantitativen Relationen, wenn es um Einkommen und Vermögen geht. „Nur was man zählen kann, zählt“, möchte man meinen. Und doch weiß jeder, dass genau das nicht stimmt. Mit guten Gründen wird bezweifelt, dass das Bruttoinlandsprodukt und dessen Wachstum das Maß aller Dinge sei; dies gilt ebenso für monetäre Vermögenswerte. Jede Bewertung von Zuständen, Handlungen und Strukturen muss klären, woran sich die Bewertung orientiert. In einem lesenswerten Aufsatz „Wohlstand für alle – Nachdenkliches zum Thema Vermögen, Kapital und Eigentum“ (2005) bringt Hans-Günter Krüsselberg das Werk des Wirtschafts-Nobelpreisträgers Amartya Sen Development as freedom in den Zusammenhang zum Thema Vermögen. Der bei Sen vorherrschende Schlüsselbegriff ist „capability to achieve“, der im vorliegenden deutschen Text mit „Verwirklichungschancen“ übersetzt wird. Dabei gibt es doch ein eindeutig passenderes Wort für das, was gemeint ist, das Wort „Vermögen“ (Krüsselberg 2005, S. 224). Daran anknüpfend wird hier die These vertreten, dass mindestens drei Vermögensarten zu unterscheiden sind und zu bilanzieren wären, wenn man sie denn bilanzieren könnte: zunächst das Sach- und Geldvermögen als der übliche und gewohnte Begriff, dann das Humanvermögen, die Fähigkeiten und Potenziale jedes Individuums, welche in schwer bewertbare Bereiche vordringen (und etwa in der Sprache des Neuen Testamentes mit dem Begriff des „Talentes“ beschrieben wird), und schließlich das Sozialvermögen, die Bindungen und Beziehungen, welche – das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – für das menschliche Leben so konstitutiv sind, dass der Philosoph Peter Bieri in seinem Buch zur Würde sinngemäß schrieb: Die Entscheidung über den eigenen physischen Tod würde ich treffen, wenn alle meine Beziehungen an ein Ende gekommen wären (Bieri 2013).
Nur zusammen machen diese drei Aspekte von Vermögen ein Leben reich. Und so lässt sich das Paradox erklären, dass der eine oder andere Vermögende in seiner Einsamkeit am Ende doch arm ist. Allerdings wäre nichts so falsch, als materielle Armut zu romantisieren. Wer nichts (mehr) hat, verliert auch schnell (vermeintliche) Freunde. Und mit hinreichend viel Geld lassen sich Einsamkeit und mangelnde Bildung leichter vertuschen – auch vor sich selber. Bei all dieser Ambivalenz stellt sich die Frage: Warum ist Vermögen überhaupt wertvoll? Unter welchen Wertbegriffen führen wir die Vermögensdiskussion? In der Perspektive einer europäischen Wirtschaftsethik (vgl. Fetzer/ Baumann Montecinos / Verstl 2015) sind es drei Leitwerte, die als maßgeblich gelten können.
Freiheit, Würde, Nachhaltigkeit
Die Idee der Freiheit ist so eng mit der politischen Geschichte, aber auch mit der Ideengeschichte Europas verbunden, dass ihre Bedeutung gerade wegen ihrer nur vermeintlichen Selbstverständlichkeit immer wieder in Erinnerung zu rufen ist. Von Martin Luthers Freiheitsschrift bis zum aufklärerischen Aufruf Immanuel Kants zur eigenen Urteilsfähigkeit, von der Französischen Revolution bis zum Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs: Europa ist ohne die Idee der Freiheit nicht mehr zu denken. Wo die Freiheit sichtbar bedroht ist, rückt Europa zusammen – am Beispiel der Presse- und Meinungsfreiheit wurde dies jüngst wieder symbolisch sichtbar. Weniger sichtbar ist ein anderer Zusammenhang: Wo immer wir ernsthaft von Verantwortung reden, setzen wir voraus, dass der Verantwortungsträger frei ist zur Verantwortung und nicht nur Spielball von Einflussfaktoren. Ohne die Voraussetzung der Freiheit ist Verantwortung ein unsinniger Begriff.
Die Würde des Menschen ist Kernelement der Europa historisch prägenden Religionen, das in religionsunabhängiger Begründung bei Immanuel Kant zu der berühmten Kurzformel wurde, Menschen nie nur als Mittel, sondern stets auch als Zweck an sich zu betrachten. Dass in Deutschland die Würde des Menschen im Grundgesetz, Artikel 1, verankert ist, hängt mit der spezifischen Erfahrung deutscher Geschichte zusammen. Aber das ist kein deutscher Sonderweg, sondern allein schon durch die Leitidee der Personwürde in der katholischen Tradition tief in die europäische Geistesgeschichte eingeprägt. Würde ist der „Anspruch auf Achtung eines jeden Menschen“ und konkretisiert sich im Recht auf Selbstbestimmung, im Recht und der Pflicht zur Verantwortung, in der Solidarität mit und Zuwendung zu denen, die ihren Anspruch auf Achtung nicht selbst durchsetzen können, sowie auch in den Menschenrechten (vgl. Bernhard Vogel 2006).
Werte fallen nicht vom Himmel, sondern entwickeln ihre Kraft aus geschichtlichen Erfahrungen. Nachhaltigkeit ist der historisch jüngste Begriff in dieser Wertetrias. Nicht zufällig wurde in einer lesenswerten Kulturgeschichte des Nachhaltigkeitsbegriffs (Grober 2013) der Begriffsschöpfer Hans Carl von Carlowitz als „sächsischer Europäer“ beschrieben und die Vorgeschichte des Begriffes in der franziskanischen Tradition sowie bei René Descartes und Baruch de Spinoza aufgearbeitet. Auch wenn uns der Nachhaltigkeitsbegriff heute vor allem im Zusammenhang globaler Herausforderungen begegnet (Stichwort Erdpolitik) und mit einer Vielzahl von globalen Schlüsselkonferenzen (Rio, Brundtland-Kommission) verknüpft ist, darf man darin trotzdem ein Stück europäischer Tradition entdecken.
Freiheit, Würde und Nachhaltigkeit als Wertetrias europäischer Wirtschaftsethik ist mehr als die Addition dreier Begriffe. Vermutlich liegt darin das spezifisch europäische Gepräge, dass Freiheit und Würde sich wechselseitig interpretieren und nur zusammen den europäischen Wertekanon bestimmen; das führt zu einem bestimmten qualitativen Verständnis von Freiheit (vgl. Dierksmeier 2015). Nachhaltigkeit beschreibt die intertemporale Komponente der so verstandenen Freiheit.
In dieser Wertetrias geht es bei der Nachhaltigkeit nicht darum, die Welt oder unseren Wohlstand zu erhalten, wie sie sind. Es geht vielmehr darum, künftigen Generationen ein Leben in Freiheit und Würde zu ermöglichen. Die Herausforderung ist, dass künftige Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen können, anstatt hinterlassene „Schulden“ abbezahlen zu müssen – seien diese „Schulden“ nun ökonomischer, ökologischer oder sozialer Art. Nachhaltigkeit zielt dann auf mehr als auf die „Rettung“ des Planeten oder die Einhaltung von zwei Grad Klimaerwärmung. Nicht nur heutigen, sondern auch künftigen Generationen ist ihre eigene, von ihnen selbst zu gestaltende Entwicklung zuzugestehen. Insofern ist die Trias „Freiheit – Würde – Nachhaltigkeit“ die europäische Ausprägung für „Nachhaltige Entwicklung“.
Gier oder perfekter Funktionalismus
Doch nicht durch ihre Beschwörung werden Werte wirksam. Sie sind wirksam, weil sie meist unerkannt und unbewusst das Verhalten beeinflussen (vgl. Fetzer 2012). Wo es um die Verständigung über die Grundlagen von Kooperation geht, ist es sinnvoll und notwendig, sich der eigenen Wertgrundlagen zu vergewissern und diese auch explizit zu machen.
Stärker als bisher dürfte beispielsweise die rückblickende Interpretation der Finanz- und Wirtschaftskrise rund um 2008 unter der Fragestellung dieser Wertetrias betrachtet werden. Manche meinen, es sei vor allem die Gier von Bankern und anderen gewesen, welche auf der Werteebene ursächlich war. Die Kirchen interpretieren zu Recht anders: „Es war die durch mathematisch-ökonomische Modelle suggerierte Illusion der Beherrschbarkeit auch größter Risiken, die als eine wesentliche Ursache für die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007–2009 gesehen werden muss. Die Finanzmärkte galten für viele als perfekt funktionierende Märkte. Tatsächlich aber ist die Fragilität der Ökonomie größer denn je geworden“ (Sozialinitiative 2014, S. 16). Vielleicht ist weniger die Gier, sondern mehr die destruktive Macht der Zahlen- und Modellfixierung in großen Organisationen (und teils auch in der Ökonomik) ein Problem. Es ist der Versuch, Unsicherheit und Risiko über Zahlenarithmetik aus dem Leben zu eliminieren. Es ist der Versuch, die Anforderungen der Freiheit und des Risikos auf dem Markt durch vermeintliche Sicherheit zu ersetzen. Ist diese Lektion schon gelernt oder werden verbesserte finanzmathematische Modelle (gegen deren Entwicklung nichts einzuwenden ist) erneut das gleiche Sicherheitsversprechen abgeben? Das wäre zu kritisieren um eines qualitativen Verständnisses von Freiheit willen. Auch Herdenverhalten in einer Chicken-Game-Situation gehört sicher zu den Ursachen des Crash. Viele wussten, dass die Blase irgendwann platzt, aber wer im Chicken-Game als Erster bremst, hat verloren (vgl. Fetzer 2008). Also läuft die Lemmingherde weiter. Solches Herdenverhalten ist im Einzelfall verständlich, aber im Grundsatz das Gegenteil menschlicher Würde. Und nachhaltig auch nicht, wie wir wissen. Wirtschaftsethik hat drei Aufgaben: Erstens, bei konkreten Fragestellungen die darin involvierten Werte herauszuarbeiten, zweitens, Handlungsebenen und Situationsbedingungen zu analysieren, um naturalistische und normative Kurzschlüsse zu vermeiden, und drittens, Dilemmasituationen zumindest zu deuten oder gar Angebote zu ihrer Auflösung zu machen.
Vermögen und Werte
Vermögen ist in wirtschaftsethischer Perspektive kein Selbstzweck. Dies gilt auch und vor allem für Geld- und Sachvermögen. Nur kurz kann hier angedeutet werden, welcher Perspektivwechsel sich ergibt, wenn man Vermögen in seinen drei Dimensionen unter einer Werteperspektive betrachtet, wie sie hier angelegt wird.
Vermögen ermöglicht Freiheit: Nicht ein hoher Umsatz ermöglicht im Unternehmen qualitative Freiheit, sondern eine stabile Vermögensbasis. Die in Finanzkreisen viel diskutierte Frage, wie hoch eine Eigenkapitalquote sein soll und muss, ist dann gleichzeitig die Frage, welche Form von Freiheit man will. Vereinfachend gesagt: Der höhere „Hebel“, der mit niedrigen Eigenkapitalquoten erzielt wird, ist eine kurzfristige Gewinnchance, welche in Krisensituationen die eigene Handlungsfreiheit massiv reduziert. Je komplexer die Welt, desto mehr Bildung und Humanvermögen ist nötig, um freie Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen zu können. Und die eigenen Freiheitspotenziale in einer von Vertrauen (Sozialvermögen) geprägten Umwelt sind ungleich höher als in einer atomisierten Konkurrenz-Welt, die sich gelegentlich wie ein Rattenrennen anfühlt.
Doch es gibt auch die Kehrseite: Was ist eigentlich das Problem an gigantischen Sachund Kapitalvermögen? Warum gönnen wir den Vermögenden nicht einfach, was sie haben? Vielleicht ist es dieses: Extrem große Vermögen ermöglichen ein Maß an Freiheit und wecken die Befürchtung, dass diese Freiheit des Vermögenden als vermeintliche Macht über andere ausgelebt werden könnte. Erst durch die Art seiner Nutzung werden das Vermögen und die Freiheit des einen zur Bedrohung für die gleichwertige Freiheit des anderen.
Vermögen ist Ausdruck von Würde. An dieser Stelle ist es sinnvoll, die unterschiedliche (differenzierende) und die gemeinsame (gleiche) Würde zu trennen. „Würde kann einerseits bedeuten: das Achtung gebietende Sein, das einzelne Menschen aufgrund einer bestimmten Leistung oder Position besitzen“ (Vogel 2006, S. 19). Sachvermögen, Humanvermögen und Sozialvermögen sind hierfür wichtige Einflussfaktoren. Dieses „differenzierte Würdeverständnis ist weder kritikwürdig, noch konkurriert es mit dem alle Menschen verbindenden Verständnis von Würde als Menschenwürde. Im Gegenteil: Die Stärke des gemeinsamen Begriffs der Menschenwürde bewährt sich gerade dort, wo der differenzierende Aspekt der Würde nicht hinter einer falschen Vorstellung von Gleichheit als Gleichförmigkeit zum Verschwinden gebracht wird. Eine Gesellschaft, die solche Differenzierungen von Würde aufgrund von Lebensleistung oder gesellschaftlicher Stellung nicht wahrnimmt und achtet, beschädigt langfristig sich selbst“ (ebd.).
Die Idee der Menschenwürde dagegen orientiert sich nicht an solchen Unterschieden, auch nicht an der Gleichförmigkeit unterschiedlicher Individuen oder ihres Lebensstiles, sondern an der alle Menschen miteinander verbindenden Tatsache des Menschseins. Es gibt ein Ausmaß von Ungleichheit, welche die Idee der Würde, des Anspruches eines jeden Menschen auf Achtung, derart verdunkelt, dass es mit diesem Anspruch nicht wirklich in Einklang zu bringen ist. Unter dieser Perspektive ist die Kritik an extrem ungleichen Verteilungen von Vermögen und ihrer Nutzung durchaus zu führen. Wenn demgegenüber mit Gini- und anderen Koeffizienten Ungleichheitsmaße etabliert werden, dann ist Vorsicht geboten. Denn deren implizite Normativität sagt: Je gleichmäßiger verteilt, desto besser. Hier gilt es, die Idee der Würde gegen die der Gleichheit als Ziel zu verteidigen. Wer Gleichheit zum letzten Ziel erklärt, hat die Würde des Menschen schon infrage gestellt.
Nachhaltigkeit ist schließlich im Blick auf seine zeitliche Dimension ohnehin nichts anderes als Leben ohne unnötigen Vermögensverzehr. Unsere am messbaren Bruttoinlandsprodukt orientierten Wachstumsmodelle geben den Verzehr an Vermögen in keiner seiner Dimensionen hinreichend wieder. Wer Vermögen steigern will, ist gut beraten, alle drei Dimensionen zu berücksichtigen. Dies gilt für die individuelle Lebensplanung nicht weniger als für die großen politischen Entscheidungen: Nicht nur Eigentum, sondern jede Form von Vermögen verpflichtet – zur verantwortbaren Nutzung.
Joachim Fetzer, geboren 1966 in Augsburg, evangelischer Theologe und Volkswirt, seit Januar 2013 Geschäftsführender Vorstand des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik – EBEN Deutschland e.V.
Literatur
Bieri, Peter: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München 2013.
Dierksmeier, Claus: “Freedom and Dignity – European Values for a Globalized Business Ethics”, in: Fetzer / Baumann Montecinos / Verstl 2015, S. 7–15.
Fetzer, Joachim / Baumann Montecinos, Julika / Verstl, Ina (Hrsg.): Freiheit – Würde – Nachhaltigkeit. European Business Ethics (Forum Wirtschaftsethik, Jahresschrift des DNWE, 22. Jg., Ausgabe 2014), Berlin 2015.
Fetzer, Joachim: „Ein Plädoyer für Gelassenheit im Umgang mit Wertekrisen“, in: Der Wert der Werte. Über die moralischen Grundlagen der westlichen Zivilisation. Hrsg. von Karen Horn und Gerhard Schwarz, Zürich 2012, S. 73–86.
Fetzer, Joachim: „Ist man hinterher immer klüger? Auf der Suche nach sozialethischen Lehren aus der Finanzmarktkrise“, in: Fetzer / Funk / Herzog / Wiemeyer: Lehren aus der Finanzmarktkrise – Ein Comeback der Sozialen Marktwirtschaft, Berlin 2008, S. 31–36.
Grober, Ulrich: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2013.
Krüsselberg, Hans-Günter: „‚Wohlstand für alle‘ – Nachdenkliches zum Thema ‚Vermögen, Kapital und Eigentum‘“, in: Helmut Leipold / Dirk Wentzel (Hrsg.): Ordnungsökonomik als aktuelle Herausforderung (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Band 78), Stuttgart 2005, S. 212–230.
Sozialinitiative: Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, 2014 (am besten zugänglich über www.ekd.de, 05.02.2015).
Vogel, Bernhard (Hrsg.): Im Zentrum: Menschenwürde. Politisches Handeln aus christlicher Verantwortung, Berlin/Bonn 2006.