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Eine Roadmap für die Europäischen Volksparteien

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Jedem Versuch, einen Ausblick auf die Zukunft zu geben, müssen eine Analyse der Gegenwart und eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vorausgehen. Nur so können wir sicherstellen, dass unsere Identitätsmerkmale und Werte Bestand haben und dass es uns gelingt, Strategien zu entwickeln und Botschaften zu formulieren, die den Herausforderungen, die auf nationaler und europäischer Ebene auf uns zukommen, gerecht werden.

Ein erstes Merkmal der europäischen Volksparteien fällt sofort ins Auge: Sie alle zeichnen sich aus durch geballtes politisches Kapital, sowohl auf der Ebene der verschiedenen nationalen Parlamente als auch in den europäischen Institutionen, in denen wir, die Volksparteien, gestern wie heute eine wesentliche Rolle spielen. Eine erste Folge dieses politischen Kapitals ist das hohe Maß an Vertrauen, das wir bei den Bürgern genießen.

Als zweites herausragendes Verdienst können unsere Parteien für sich in Anspruch nehmen, im Verlauf der Geschichte unseres Kontinents von der Nachkriegszeit bis heute einen höchst positiven und nachhaltigen Beitrag zur politischen Gestaltung geleistet zu haben. Sie haben entscheidende Impulse gesetzt bei der Entwicklung der konstitutionellen Demokratien, der Sozialen Marktwirtschaft, der offenen Gesellschaften und der Erweiterung des Mittelstandes, das heißt, sie haben mitgewirkt an mittlerweile globalen Konzepten, auf denen unsere größte Errungenschaft fußt, nämlich die am wenigsten ungerechte Gesellschaft der Geschichte geschaffen zu haben.

Dann allerdings bedurfte es der Ideen und Wertvorstellungen und nicht zuletzt des politischen Willens unserer berühmten Vorgänger im 20. Jahrhundert, um das Projekt der europäischen Einheit auf den Weg zu bringen, in dem Bestreben, historische Wunden zu heilen, Einvernehmen und einen noch nie da gewesenen Raum des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes zu schaffen.

Und schließlich haben es unsere Volksparteien verstanden, unterschiedliche Denktraditionen und Befindlichkeiten zusammenzubringen und gemeinsam politische Projekte im Geist der Reform, der Mäßigung und im Dienst am Gemeinwohl auszuarbeiten. Und diese unsere gemeinsamen Wurzeln in der Aufklärung, im Humanismus, der Christlichen Demokratie, im Kommunitarismus und Liberalismus haben uns zu mehrheitsfähigen Parteien gemacht, zu Plattformen des Konsenses für die breite Mittelschicht, das Rückgrat unserer Gesellschaften, die sich bei uns in all ihrer Vielfalt wiederfinden und äußern können. Weiterhin tragen unsere Parteien in ihren jeweiligen Ländern durch zukunftsträchtige Projekte zur Verwirklichung des europäischen Ideals bei.

Wir haben also Grund genug, stolz zu sein auf das Vermächtnis unserer europäischen Volksparteien. Aber wir können uns nicht ausruhen auf diesen Erfolgen, denn sie sind es auch, an denen man uns in Zukunft messen wird. Und das bei nicht nur ständig neuen, sondern auch immer komplexeren Herausforderungen. Wie sieht unsere Roadmap aus für ein Europa, das versucht, die Krise hinter sich zu lassen, für ein Europa nach der Krise? Ohne Zweifel ganz unterschiedlich, je nach den Prioritäten jedes einzelnen Landes. Aber dennoch gibt es eine Reihe von Überlegungen, die als Diskussionsbeitrag für ganz Europa wichtig sind.

 

Vertrauen in eine qualitativ hochwertige Politik

Die Wirtschaftskrise hat zu großem Unbehagen in Europa geführt. Und wie immer in solchen Fällen gibt es Menschen, die diese Stimmung oder sogar dieses Leiden vieler Bürger ausnutzen und ihnen angeblich einfache – aber natürlich unrealistische – Lösungen anbieten, um komplexe Probleme zu lösen. So haben wir in Europa zur Rechten und zur Linken Versuchungen und Gespenster wieder aufleben sehen, von denen wir glaubten, sie seien für immer verbannt, populistische und nationalistische Bewegungen, alte Feinde einer offenen Gesellschaft. So gilt es nun, den Ruf der Politik zu sanieren, das Vertrauen in das gegebene Wort wiederherzustellen, unsere Institutionen zu stärken, Transparenz und Bürgerbeteiligung als Pflicht und nicht lediglich als Option zu verstehen, denn nur so können wir das Vertrauen in die öffentlichen Gewalten wiederherstellen, nur so den Kontakt zu den gemäßigten Mehrheiten, die das Rückgrat der Nationen bilden und ihrer Politik Kraft und Glaubwürdigkeit verleihen, festigen.

 

Reform statt Bruch

Man darf sich nichts vormachen: Wenn der Ruf der Politik und der Institutionen aufgrund der Krise so stark gelitten hat, kann Vertrauen erst wieder wachsen, wenn sich ein Ausweg aus der Krise abzeichnet und ein neues Szenario für die Zeit nach der Schlacht. Dabei sollten wir uns von den Erfahrungen der letzten Jahre leiten lassen: Die einzig realistischen Lösungen waren neue Politiken im Zuge von Reformen, solange diese weder den breiten Konsens der Bürger noch die Architektur unserer Institutionen infrage stellten. Nach wie vor gilt, dass Politik nicht Utopie sein kann und der Bruch nicht die Lösung, sondern dass die Politik mittels der Kunst der ständigen Reform eine irreversible Ruptur vermeiden muss. Wie Jeremy Bentham sagt: „Lasst uns allein nach dem Möglichen streben, das ist Herausforderung genug für die weitsichtigsten und wertvollsten unter den Menschen.“

 

Herausforderung des Wachstums, Hoffnung auf Wohlstand

Die Aufgabe der Politik besteht in der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Aber auch ohne sich, wie in unserem Fall, einem bestimmten politischen Namen verschrieben zu haben, weiß man, was unsere Bürgerinnen und Bürger von uns erwarten, nämlich attraktive Projekte, die Hoffnungen wecken und Sicherheit vermitteln. In diesen harten Jahren der Krise haben wir am eigenen Leib erfahren müssen, was wir theoretisch längst wussten: erstens, dass ein ununterbrochenes Wirtschaftswachstum, das nicht von einer aktiven, verantwortungsbewussten und reformorientierten Politik begleitet wird, einfach nicht realistisch ist. Und zweitens führt diese mangelnde Reformbereitschaft zu einem wahren Geschwür in unserem Wirtschafts- und Sozialgefüge, das schmerzhaft und offenkundig ist, nämlich den unerträglichen Arbeitslosenzahlen in einigen unserer europäischen Länder. Dieses durch die Krise verursachte Leiden unserer Bürger konfrontiert uns mit der menschlichen Dimension der Wirtschaft und stellt uns als Regierende vor die Aufgabe, dieser demoralisierten, sich chancenlos wähnenden Gesellschaft wieder eine Perspektive zu geben. Und dazu müssen die Reformen fortgesetzt werden, denn sie sind das einzige Gegenmittel gegen die Mutlosigkeit und den von der Krise verursachten gesellschaftlichen Schaden. Nur durch die Rückkehr zu Wachstum und Beschäftigung, wie es in Europa bereits zu verzeichnen ist, wird es gelingen, unseren Gesellschaften das in letzter Zeit zur Mangelware gewordene Gut Hoffnung zurückzugeben und eine von Ruhe, Stabilität und Wohlstand geprägte Zukunft in Aussicht zu stellen.

 

Eine soziale Gesinnung

Die Volksparteien betrachten sich als Verfechter jener Konzepte, die an Konsens in unseren Gesellschaften orientiert sind. Dazu gehört eine historische Errungenschaft des Nachkriegseuropa, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt hat: das Prinzip leistungsfähiger Sozialstaaten, die in der Lage sind, Ungleichheiten zu bekämpfen, für ein breiteres Angebot an Chancen zu sorgen und einen universalen Zugang zu Rechten und Dienstleistungen zu garantieren, die bisher einigen wenigen vorbehalten waren. Der Einsatz für dieses noble Ziel gehört zu den herausragenden politischen und moralischen Erfolgen des letzten halben Jahrhunderts und hat zweifellos in hohem Maß zum sozialen Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften beigetragen. Auch jetzt besteht kein Grund, an der Rolle des Sozialstaates zu zweifeln, ganz im Gegenteil, gerade in der Wirtschaftskrise ist sie in besonderem Maße zum Tragen gekommen. Denn bei allem tiefen Leid, das die Krise über unsere Mitbürger gebracht hat, muss anerkannt werden, dass es in Europa bislang noch nie gelungen ist, eine Krise mit einem derart hohen Maß an sozialer Kohäsion zu überwinden. Aber es gilt, aus dieser Erfahrung zu lernen: erstens, dass die öffentliche Hand bei der Gestaltung der Leistungen des Sozialstaates das Kriterium der langfristigen Nachhaltigkeit vor Augen haben muss; zweitens, dass wir, die Volksparteien, unser Verdienst bei der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates besser kommunizieren müssen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass man versucht, uns Solidarität und Sensibilität abzusprechen, sondern wir müssen unermüdlich betonen, dass wir uns bei unseren Entscheidungen von dem Verantwortungsbewusstsein für den Wohlfahrtsstaat haben leiten lassen, dessen Zukunft durch die kurzsichtige, eigennützige Politik der Sozialdemokraten in Gefahr geraten war. Und schließlich dürfen wir nicht müde werden, immer wieder daran zu erinnern – so evident dies auch sein mag –, dass es keine bessere Sozialpolitik gibt als Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und allgemeinen Wohlstand.

 

Antwort auf die Globalisierung: Zusammenschluss der Kräfte

In letzter Zeit häufen sich pessimistische Kommentare über das absehbare Ende der Zeit großer Visionen. Dabei erleben wir gerade hautnah die Verwirklichung einer solchen großen Vision, der des geeinten Europa, das sich seit seinen Anfängen als Kohle- und Stahlgemeinschaft ständig weiterentwickelt hat, bis hin zu einem Gemeinsamen Markt und schließlich zu einem von allen geteilten zukunftsorientierten wirtschaftlichen und politischen Projekt. Die Fortschritte auf diesem europäischen Weg mögen mal rascher, mal langsamer vonstattengegangen sein, aber sie haben Bestand, sind erkennbar und machen Schule in einer Welt, in der es einen immer stärkeren Trend zu regionalen Zusammenschlüssen gibt. Im Gegensatz zu denjenigen, die sich gegenwärtig für eine Erneuerung des europäischen Diskurses aussprechen, sollten wir versuchen, die Wähler von der Notwendigkeit einer noch weiter reichenden politischen Harmonisierung und Verdichtung der wirtschaftlichen Strukturen auf dem europäischen Kontinent zu überzeugen, um so unseren Lebensstil und unsere internationale Bedeutung zu wahren.

 

Volksparteien und Demokratie im Zeitalter der Medien

Ob es wohl noch jemand gibt, der in den – nicht mehr so neuen – Medien eine Gefahr statt eine Chance sieht? Es war nur logisch, dass offene Gesellschaften wie die unseren ihr enormes Potenzial als Plattform für Beteiligung und Diskussion sofort so intensiv wie möglich genutzt haben. Die sozialen Netze sind die neue Agora der Politik. Sie sind fester Bestandteil unseres täglichen Lebens, nicht mehr Zukunft, sondern Gegenwart, ständig präsent in Form von Tablets und Smartphones. Und sie spielen eine immer größere Rolle bei der Unterbreitung und der Kritik politischer Maßnahmen. Daraus ergibt sich bei näherem Hinsehen eine ganze Reihe von durchaus ernst zu nehmenden Fragen: Wie lassen sich oft komplexe Botschaften auf die Satzlänge eines Tweets verkürzen? Wie soll man durchdringen zu Bürgern, deren Aufmerksamkeit ständig von tausend Reizen gleichzeitig in Anspruch genommen wird, wie können wir effektiv kommunizieren, ohne dass unsere Botschaften dabei banal werden? Es ist ein ständiger Lernprozess parallel zu den ständigen technologischen Neuentwicklungen. Manche dieser Erfahrungen sind erfolgreich, manche weniger, alle sind lehrreich. Aber mittlerweile gibt es eine Reihe unumstößlicher Fakten – zum Beispiel, dass die Kommunikation fester Bestandteil der politischen Aktion ist. Oder dass es obligatorisch für einen Politiker ist, politische Debatten in all diesen neuen Formaten führen zu können. Wer diese Chance nutzt, ist nicht nur in der Lage, zu kommunizieren, sondern er kann überzeugen und mobilisieren. Wer sie dagegen verstreichen lässt, verliert mehr als nur die Wahlen, nämlich die Möglichkeit, sich bei den Bürgern Gehör zu verschaffen.

 

Die zentrale Rolle der Person, die Dimension der Gemeinschaft

Die Volksparteien teilen die Überzeugung, dass die öffentlichen Gewalten dazu berufen sind, sich in den Dienst von Menschen zu stellen, die von Natur aus frei und selbstständig sind, und nicht, sie zu führen oder gar ihnen Maßnahmen aufzuerlegen. Ist das nicht eine zwingende Erkenntnis aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts? Also sollten die Staaten bestrebt sein, eine subsidiäre Rolle zu spielen, die die Eigenverantwortung des Einzelnen und seine unternehmerischen Fähigkeiten respektiert. Sie sollten zudem das einer reifen Gesellschaft entsprechende leistungsfördernde Arbeitsklima garantieren. Weiterhin gilt es, dafür zu sorgen, dass der zivilen Gesellschaft Freiräume für die Entfaltung kreativer Aktionen sowie für die spontane Schaffung freier Bürgerinitiativen verbleiben.

 

Überzeugungskraft unserer Werte

Wenn die europäischen Volksparteien einen positiven Einfluss auf die europäische Politik ausgeübt haben, dann deswegen, weil sie sich nicht von opportunistischen Überlegungen haben leiten lassen, sondern stets ihren Prinzipien treu geblieben sind. Und diese haben sich im Verlauf der Geschichte als richtig und effektiv erwiesen. Diese Ideen und Werte bieten uns also auch in der heutigen Welt sicheres Geleit. Wir können uns in ihr frei von Komplexen bewegen und brauchen nicht um Vergebung zu bitten. Der Korpus unserer Prinzipien zeichnet sich aus durch das Gedankengut, auf das sie zurückgehen, durch moralisches Prestige; es sind Prinzipien, die bei der Bevölkerung ankommen und die sich politisch umsetzen lassen auf eine Weise, die sich so gut wie nirgends sonst findet. In Zeiten, in denen unsere Gesellschaften Antworten suchen, sollten wir uns der Debatte und der Gegenüberstellung von Ideen nicht verschließen. Abgesehen von einer politischen Führung ist ein hohes Maß an Vermittlung erforderlich, damit unsere Werte ihre ganze Überzeugungskraft entfalten können und jeden Tag neue Unterstützer finden.


Mariano Rajoy, geboren 1955 in Santiago de Compostela (Spanien), seit Dezember 2011 Ministerpräsident von Spanien.

Übersetzung aus dem Spanischen: Angelika Freund, Madrid