Die vergangenen beiden Jahre kennen ein neues Schlagwort: „Big Data“! Das heißt: Immer größere Datenmengen werden immer schneller verfügbar, stammen dabei aus immer vielfältigeren Bezugsquellen und treten in sehr unterschiedlichen Formaten auf. Die Politikwissenschaft hat darauf noch keinen wirklichen Appetit entwickelt. Noch nicht! Denn die Politik- und Wissenschaftswelt erlebt – wie es der Harvard-Professor Gary King ausdrückt – mittels dieser Datenauswertung in einem noch nie gekannten Ausmaß eine wahre Explosion an neuen Erkenntnissen und neuartigen Fragestellungen (Shaw, 2014). Die digitalen Kommunikations-, Verkehrs-, Konsum-, Industrie- oder auch Gesundheitsdaten haben aufgrund der Digitalisierung in den vergangenen Jahren explosionsartig zugenommen: Gab es 2012 etwa 22-mal so viele Daten wie 2000, wird zwischen 2010 und 2020 eine fünfzigfache Steigerung erwartet. Das entscheidende Moment liegt aber gar nicht so sehr in den neu entstandenen Datenbergen, sondern in der sich gerade entwickelnden Fähigkeit, sie auszuwerten: Neue statistische und rechenbetonte Methoden eröffnen neuartige wissenschaftliche Erkenntnisse und detaillierteres politisches Wissen. Und Teile dieser neuen Fertigkeiten – denken wir nur an Google – prägen bereits heute unsere Alltagsgewohnheiten. Sollte ursprünglich die Suchmaschine lediglich helfen, Internetseiten leichter zu finden, wird Google heute genutzt, wann immer man was auch immer wissen will. Als kleine Nebenwirkung wurde der Druck der angesehensten Enzyklopädien dieser Welt eingestellt.
Dabei stehen wir erst am Anfang der Entwicklung. Informatiker sind beim Entwickeln neuer Algorithmen längst nicht mit ihrem Latein am Ende. Dabei sind die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der Digitalisierung heute noch vollkommen unklar. Innovationen sind nicht nur eine Spielwiese für Technikfreaks. Technologischer Fortschritt hat stets das politische, gesellschaftliche und auch kulturelle Leben stark beeinflusst. So erschuf die Dampfmaschine nicht nur die Eisenbahn, die Massenproduktion oder auch das Luftschiff, sondern verringerte die räumlichen Distanzen zwischen Menschen, läutete eine bisher nicht gekannte Urbanisierung ein und barg den Keim großer sozialer Verwerfungen in sich. Als Nebenprodukt stellte sie die politische Kommunikation auf den Kopf. Erst mit der Eisenbahn konnten nationale Kampagnen durchgeführt und politische Nachrichten mithilfe nationaler Zeitungen in bis dahin unbekannten Geschwindigkeiten an ein Millionenpublikum verbreitet werden. Die Entstehung stark durchorganisierter nationaler Parteien war die Folge.
So trägt auch Big Data als eine tiefgreifende technologische Innovation einschneidende Veränderungsimpulse in sich. Allein schon deshalb muss die Politikwissenschaft diese Entwicklung stärker in den Blick nehmen: Big Data wirkt sich massiv auf die Politik aus.
Politisch hoch aufgeladen
Der politische Streit, wie mit Daten „richtig“ umgegangen werden soll, kann bereits heute zu wahren Glaubenskämpfen führen. Die NSA-Affäre, die Debatte über die Vorratsdatenspeicherung, der Ruf nach mehr Sicherheit und der medizinische Fortschritt, der mithilfe von neuen Daten Krebs heilen will, zeigen: Der Umgang mit Daten ist schon jetzt politisch hoch aufgeladen. Dabei bildet die „Digitalisierung“ keine originär neue Konfliktlinie. Sicherheit versus Freiheit, wachstumsbegeisterte Innovationstreiber versus protektionistische Beharrungskräfte, Fortschrittsoptimisten versus Kulturpessimisten – diese Richtungskämpfe kennt die politische Arena schon seit Langem. Mit Big Data treten diese Konflikte wieder stärker hervor. Während der Oxford-Professor Viktor Mayer-Schönberger betont, dass ein detaillierterer und umfangreicherer Umgang mit Daten unser Leben gesünder, sicherer und sozialer machen würde, warnt dagegen Frank Schirrmacher in Anlehnung an Platon vor allzu viel Technikgläubigkeit. Sie würde letztlich unsere eigenen Fähigkeiten verarmen lassen.
Damit ergeben sich von der politische Theorie über die politische Ökonomie bis hin zur Policy-Forschung facettenreiche Erkenntnisinteressen hinsichtlich der Frage: Verbessern diese neuen Möglichkeiten der Datenanalyse unser Leben oder bedrohen sie unser Gemeinwesen und unsere Wirtschaftsordnung? Die Digitalisierung fällt nicht einfach vom Himmel. Sie ist das Ergebnis von irdischen Interessen, Entscheidungsprozessen und Rahmenbedingungen. Die Technik selbst hat letztlich ja keinen Willen (Bunz, 2012: 63 f.). Folglich ist heute völlig offen, wie die Digitalisierung konkret unseren Alltag, aber auch unser Gemeinwesen und politische Entscheidungen beeinflussen wird. Dies gerade auch aus Europa und Deutschland stärker als bisher zu reflektieren, durchdachte Antwortstrategien zu entwickeln und ihren Verlauf damit zu gestalten, ist eine große Verantwortung von Politik und Wissenschaft. Weder blanke Technikgläubigkeit noch Innovationsverweigerung werden langfristig eine befriedigende Antwort sein. Europa muss seine Sprachlosigkeit aufgeben, damit nicht allein die USA, China und vielleicht auch manche Schwellenländer, wie Indien oder Brasilien, die künftigen Grundsatzfragen der digitalen Welt entscheiden. Dafür bedarf es einer interdisziplinären Kraftanstrengung, bei der die Politikwissenschaft eine führende Rolle einnehmen muss. Bis heute gibt es in Kontinentaleuropa noch keinen wissenschaftlich wie politisch international sichtbaren Internet-Thinktank, der die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Wirkungsweisen der Digitalisierung durchdenkt und detaillierte Handlungsempfehlungen als Reaktion darauf entwickelt.
Aber Big Data als Forschungsfeld für die Politikwissenschaft reicht über die klassische Policy-Forschung hinaus. Das Sammeln riesiger Datenmengen birgt auch erhebliches Veränderungspotenzial für politische Prozesse. Nun interessiert sich der moderne Staat seit seiner Entstehung für die Daten der Bürger. Sie sind ihm das Werkzeug, politische Aufgaben zu erkennen und mögliche Missstände zu beheben. Aus keinem anderen Grund wurden im 19. Jahrhundert statistische Ämter gegründet (Nassehi, 2014). Hatte aber die althergebrachte Statistik den Durchschnitt im Blick, ist dies bei Big Data anders: Gerade Abweichungen, Besonderheiten und Einzelaspekte rücken in den Fokus der Betrachtung und dies fast zur „Ist“-Zeit. Grauschattierungen werden rascher und detaillierter sichtbar. Die Bevölkerung kann noch exakter in Teilgruppen unterteilt und mit politischen Einstellungen passgenau verknüpft werden. Für Barack Obamas Wiederwahl war diese Datenauswertungsfähigkeit entscheidender als sein Charisma oder auch sein Kommunikationstalent. Datenanalysten im Obama-Team entwickelten mithilfe von Algorithmen „Zauberformeln“, die Wähler mit Themen identifizierten und gleichzeitig individuell dosiert in die Kampagne einbanden (Issenberg, 2012). So luden etwa Studenten zu Bildungsthemen potenzielle Mitstreiter in ihre eigenen WGs ein und warben für die Wiederwahl des US-Präsidenten. Damit baute Obamas Team enorm schnell und vergleichsweise kostengünstig eine bis dahin unbekannte digitale politische Massenorganisation auf. Sie beruhte vor allem auf einer Vielzahl direkter „Linkages“ zwischen Parteiidentifizierern, Wechselwählern und Multiplikatoren und war ausschließlich topdown gesteuert. Gesellschaftliche Vorfeldorganisationen – wie etwa Gewerkschaften – rückten dabei in den Hintergrund. Schließlich konnten diese mit ihrer neuen Massenorganisation Unterstützergruppen identifizieren, Wählergruppen thematisch ansprechen und rasch auf politische Debatten reagieren.
Glaskugel für komplizierte Entscheidungen
Diese Veränderung hat aber nicht nur Auswirkungen auf Organisationen und ihr Zusammenspiel, sondern auch auf den politischen Willensbildungsprozess selbst. Filterfunktionen von gesellschaftlichen Großorganisationen, aber auch von Journalisten, verlieren an Bedeutung. Aber gewinnt der politische Willensbildungsprozess durch den direkten, ungefilterten Austausch zwischen Politik und Bürger wirklich an Responsivität und Aussagekraft? Zunächst ja, da er die Grautöne der Meinungen der Bürger besser erkennt. Schwarz-Weiß-Antworten werden seltener. Die Aussagen werden jedoch nicht verlässlicher. Der direkte Austausch erfolgt ja weder persönlich noch abgewogen. Vielmehr besteht er aus Korrelationen unterschiedlicher Handlungsweisen und Meinungsbekundungen. Diese werden kumuliert und Wissenswertes wird herausgefiltert. Datenanalysten erhalten somit einen guten Überblick über den Stand der Debatten, aber nicht über ihren Ausgang oder ihre Sinnhaftigkeit. Gleiches gilt für Regierungshandeln, das solche gesellschaftlichen „Seziermaschinen“ anwendet. Es zeigt detailliert Stimmungen, ergibt aber keine politischen Antworten. Stimmungspolitik wird mit diesem Verfahren nicht erfolgreicher.
Politische Entscheidungen können aber mithilfe von Big Data evidenzbasierter getroffen werden und damit mit geringeren Unsicherheiten erfolgen. Auch wenn dies noch reine Zukunftsmusik ist, hat etwa der Physiker und Soziologe Dirk Helbing ein eine Milliarde Euro teures Computersystem vorgeschlagen, das der Politik als Glaskugel für komplizierte Entscheidungen dienen soll. Man würde mit diesem System die Auswirkungen möglicher Maßnahmen bei der Eurokrise für Teilbereiche der Finanzmärkte durchspielen und gleichzeitig auch ihre Auswirkungen auf alle Politikfelder bestimmen können (Weinberger, 2013: 220). Die Entscheidung, welche Auswirkungen hingenommen, welche Lösung gewollt und welchen Berechnungen getraut werden soll, muss aber letztlich weiterhin die Politik treffen.
Teil der „wissenschaftlichen Futterkette“
Dieses weite Feld an Auswirkungen von Big Data auf Politics, Policy und Polity (also auf die prozesshafte, inhaltliche und institutionelle Ebene der Politik) zu untersuchen, wird für die Politikwissenschaft eine reizvolle und ehrgeizige Aufgabe sein. Aber auch fern neuer Untersuchungsgegenstände wird Big Data die Politikwissenschaft verändern: Die zunehmenden Fähigkeiten der Datenanalyse werden der Politikwissenschaft die Chance geben, etablierte Problemstellungen anders anzugehen und auch neue, bislang kaum zu beantwortende Fragen zu bearbeiten. Dafür wird sich die Politikwissenschaft interdisziplinärer ausrichten müssen: Teilbereiche ihrer Disziplin werden sich stärker als bisher in eine neuartige, interdisziplinäre „wissenschaftliche Futterkette“ zwischen interdisziplinärer Methodenforschung und den jeweiligen Fachanwendungen einfügen. Angedockt an ein profundes Methodeninstitut zur detaillierten Auswertung der neuen Datenmengen könnten Politikwissenschaftler gemeinsam mit Datenanalysten aus der Informatik, der Wirtschaftspsychologie und der Soziologie akkuratere und damit aussagekräftigere Wahlforschungsmodelle entwickeln.
Ähnlich wie die Physik in den 1970er- und 1980er-Jahren wird die Politikwissenschaft nicht nur die neuen Methoden der Datenanalyse in ihre Disziplin einführen, sie wird gleichfalls – analog zur Entwicklung der String-Theorie über kleinste Objekte eindimensionaler Ausdehnung anstelle des Modells von Elementarteilchen – häufiger als bisher induktiv vorgehen. In der Physik haben bereits die sogenannten Zufallsnobelpreise großer Expertenteams die „Einsteins“, die jeder für sich in ihrer Studierstube grübelnd wissenschaftliche Spitzenleistungen erbrachten, abgelöst. Die Politikwissenschaft kennt dagegen heute noch ihre „Einsteins“: Das Methodengebäude der Politikwissenschaft wird oftmals immer noch um Hypothesen gebaut, die zunächst vor dem inneren Auge des Betrachters entstehen und dann mittels erhobener empirischer Fakten falsifiziert oder bestätigt werden. Mit Big Data wird sich dies ändern: Bereits im Vorfeld von theoretischen Überlegungen erhält der Politikwissenschaftler eine ungeheure Anzahl von Fakten, die sich oftmals kontinuierlich aktualisieren. Damit rücken Korrelationen in den Vordergrund, die Forschungsfragen stärker bestimmen werden. Ein induktives Vorgehen bedeutet jedoch kein theoriefreies Feld. Zum einen, weil sich die Forscher gerade für die abweichenden Korrelationen interessieren werden, die sie mit ihren bisherigen Theorien nicht genau erklären können. Zum anderen werden sie weiterhin die politische Welt erklären und nicht nur dokumentieren wollen. Daten sind per se ja noch keine Information. Sie zeigen nur Fakten an, begründen aber nicht ihr Zustandekommen. Politikwissenschaft wird nie nur zeigen können, dass etwas passiert, sondern muss sich auch dem Warum widmen. Deshalb werden die Politikwissenschaft ihr Methodenwerkzeug erweitern und das wissenschaftliche Vorgehen ein Stück weit auch verändern. Big Data wird die Politikwissenschaft nicht komplett auf den Kopf stellen; dennoch wird Big Data aufgrund der enorm erweiterten Erkenntnisfähigkeit und der gestiegenen Relevanz bereits in ein paar Jahren zum festen Bestandteil der Politikwissenschaft gehören. Der Heißhunger darauf wird bald beginnen.
Udo Zolleis, geboren 1974 in München, Politikwissenschaftler, Honorarprofessor an der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Literatur
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