Die wohl wichtigste Bedingung für einen funktionsfähigen Föderalismus ist der grundsätzliche Wille der Bevölkerung zur Einheit, zur Bildung eines gemeinsamen Staates.[1] Ein solcher Wille hat zur Bildung von Staaten geführt, die heute allgemein als Beispiele eines gelungenen Föderalismus gelten: die Vereinigten Staaten, die Schweiz und Deutschland.[2]
In allen drei Fällen haben sich selbstständige Einheiten freiwillig zu einer größeren Einheit zusammengeschlossen. Das gilt für die Reichsgründung 1871; aber bereits in der Paulskirche war der Wunsch zur Bildung eines Deutschen Reiches unbestritten, auch wenn der designierte Kaiser, der preußische König Friedrich Wilhelm IV., sich im April 1849 weigerte, die Krone aus „bürgerlichen Händen“ entgegenzunehmen: Er wollte sich als „Kaiser von Gottes Gnaden“ sehen.[3] Zwar hatte sich die Paulskirche für die „kleindeutsche Lösung“, das heißt für einen deutschen Staat unter Ausschluss Österreichs, entschieden, aber da es nicht zur Reichsgründung kam, blieb offen, ob Österreich Teil dieses Reiches werden sollte. Das wurde 1866 durch einen „Bürgerkrieg“, den Deutsch-Österreichischen Krieg, zugunsten der kleinen Lösung unter der Führung Preußens entschieden. Der Wille zur Einheit war jedoch so stark, dass auch die mit Österreich verbündeten und in diesem Krieg geschlagenen süddeutschen Länder wie Baden, Württemberg, Bayern und Sachsen, die – im Gegensatz zu Hannover – selbstständig blieben, 1871 Teil des Reiches wurden.
Freiwillige Einigung
23 Jahre zuvor wurde der Schweizerische Bundesstaat unter ähnlichen Bedingungen gegründet. Nach dem Zusammenbruch der alten Eidgenossenschaft 1798 schuf Napoleon mit der Helvetischen Republik zunächst einen Einheitsstaat, der jedoch bereits 1803 durch die „Mediation“ – die Einigung der Kantone durch Vermittlung Napoleons – abgelöst wurde, die ihrerseits nach den Niederlagen Napoleons in Russland und Leipzig das Jahr 1813 nicht überlebte.[4] 1815 sah der neu geschlossene Bundesvertrag die Schweiz als einen recht losen Staatenbund. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eskalierten die Konflikte zwischen den Kantonen; 1847 kam es zu einem kurzen Bürgerkrieg, dem Sonderbundkrieg, zwischen den eher konservativen (katholischen) „Sonderbundskantonen“ – der Innerschweiz, Wallis und Freiburg – und dem eher progressiven Rest der Schweiz. Ähnlich wie Otto von Bismarck im Deutsch-Österreichischen Krieg sorgte der Oberbefehlshaber der liberalen Kräfte, General Guillaume-Henri Dufour, dafür, dass die unterlegenen Kräfte so wenig wie möglich gedemütigt wurden. Das sollte ein gütliches Auskommen im neuen Bundesstaat ermöglichen,[5] der im darauffolgenden Jahr 1848 gegründet wurde. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz war der Wille zur Einheit eines (neuen) Bundesstaates in der Bevölkerung so tief verankert, dass er nicht einmal durch einen Bürgerkrieg kurz vor der Staatsgründung nachhaltig beeinträchtigt wurde.
Mehr als eine Frage der Zweckmäßigkeit
Dass föderale Staaten dann, wenn dieser Wille zur Einheit fehlt, sehr schnell auseinanderbrechen, zeigt die jüngere Vergangenheit deutlich. Als Folge der Umwälzungen des Jahres 1989 zerfielen die Tschechoslowakei, Jugoslawien und die Sowjetunion, wobei es nur der Tschechoslowakei gelang, die Aufspaltung in unabhängige Staaten ohne kriegerische Auseinandersetzung zu vollziehen.[6] Man mag einwenden, dass diese Staaten zuvor nicht wirkliche Föderationen waren, sondern lediglich als Föderation getarnte Einheitsstaaten; dieses Argument widerlegt aber nicht die These: Diese Staaten existierten zwar lange Zeit als Einheit, wären aber in dem Augenblick zerbrochen, in dem eine freie Entscheidung auch zu einer föderalen Ordnung möglich gewesen wäre. Offensichtlich war kein Wille zur Einheit vorhanden, der das Zusammenleben in einem föderalen Staat ermöglicht hätte. Noch heute sind die Probleme weder im ehemaligen Jugoslawien, wo die Loslösung des Kosovo von Serbien nach wie vor nicht von allen Seiten akzeptiert wird, noch in Russland, wo etwa der Wunsch der Tschetschenen nach Unabhängigkeit mit Militärgewalt unterdrückt wird, wirklich gelöst.
Dass der Wille zur staatlichen Einheit eine wesentliche Voraussetzung für einen funktionierenden Föderalismus ist, zeigt sich auch in anderen Staaten, in denen in einzelnen Provinzen Sezessionsbestrebungen bestehen. Dies gilt seit Langem für Québec in Kanada, das Baskenland und Katalonien in Spanien, inzwischen auch für Schottland im Vereinigten Königreich. Nicht unbedingt strebt in diesen Provinzen eine Mehrheit der Bevölkerung die Unabhängigkeit an. Wo der Wille zur staatlichen Einheit fehlt, wird die Entscheidung darüber, ob man im jeweiligen Staat verbleiben soll, zu einer Frage der reinen Zweckmäßigkeit. Deutlicher noch wird dies in Belgien: Gäbe es dort nicht Brüssel, das als Französisch sprechende Hauptstadt innerhalb des Flämisch sprechenden Gebiets liegt, wäre Belgien vermutlich auseinandergebrochen, obwohl es seit 1830 die lange Geschichte eines unabhängigen Staates schreibt.
Dezentralisierung als letztes Mittel
Vergleicht man Deutschland, die Schweiz oder die Vereinigten Staaten einerseits mit Spanien und dem Vereinigten Königreich andererseits, wird deutlich, dass Föderalismus dort gut funktionieren kann, wo sich (mehr oder weniger) unabhängige Körperschaften freiwillig zusammengeschlossen, ihre Eigenständigkeit jedoch bewahrt haben. Dort, wo die Einführung föderaler Strukturen dazu führen soll, bereits existierende zentrifugale politische Kräfte zu mäßigen, ist das Risiko des Scheiterns hoch: Der Staat wird dann entweder mithilfe von Zwangsmaßnahmen zusammengehalten werden müssen, oder er bricht auseinander. Selbstverständlich kann Dezentralisierung ein letztes Mittel sein, um mit friedlichen Mitteln ein Auseinanderbrechen zu verhindern. Ob dies erreicht werden kann, wird unter anderem davon abhängen, wann eine solche Maßnahme durchgeführt wird. Erfolgt sie (zu) spät und sind die zentrifugalen Kräfte bereits sehr stark geworden, dürften die Chancen dafür relativ gering sein.
„Föderale Ordnungen – sind sie nicht erstarrt zu Verfahren der Verwaltungsvereinfachung – haben immer eine lebendige gesellschaftliche Dimension.“[7] Dazu gehört ein gewisses regionales Selbstbewusstsein. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz und in Österreich ist dies sehr stark ausgeprägt. Ohne ein solches regionales Selbstbewusstsein dürfte es auch die beschriebenen Dezentralisierungsbewegungen kaum geben – zum einen, weil die Zentrale im Allgemeinen nur ungern freiwillig Macht abgibt, zum anderen aber auch, weil die möglichen Effizienzgewinne föderaler Staaten kaum genügend Anreize setzen würden, damit von unten eine hinreichend starke, rein zweckorientierte Nachfrage nach Dezentralisierung wirksam werden könnte. Nicht umsonst finden Dezentralisierungen fast ausschließlich dort statt, wo, wie zum Beispiel in Schottland oder im Baskenland, ein solches Bewusstsein vorhanden ist. Funktionsfähige, lebendige föderale Ordnungen benötigen somit beides: den Willen zur staatlichen Einheit und ein Bewusstsein regionaler Eigenständigkeit.
Gebhard Kirchgässser, geboren 1948 in Konstanz, emeritierter Ordinarius für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie und Direktor des Schweizerischen Instituts für Außenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung, Universität St. Gallen (Schweiz).
[1] Siehe hierzu auch Franck (1968) zum Zerfall der Föderalstaaten Westindien, Zentral- und Ostafrika sowie Malaysia oder Burgess (2006).
[2] Watts (1999, S. 5) zählt diese drei Länder zusammen mit Australien und Kanada zu jenen, in denen man nach internationalen Rankings am liebsten leben möchte.
[3] Siehe www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/parlamentarismus/1848/ (30.06.2014). Zu den Revolutionen des Jahres 1848 siehe z. B. Mommsen (1998) oder Mergel (1998).
[4] Zur Helvetischen Republik siehe Kreis (1986, S. 30 ff.).
[5] Siehe hierzu Streiff (1998, S. 44).
[6] Zur Entwicklung bzw. Aufgabe des Föderalismus in diesen drei Staaten siehe z. B. die entsprechenden Beiträge in Kramer (1993, S. 44). Zu Russland siehe auch Salikov (2005).
[7] Sturm (2008, S. 43).
Literatur
M. Burgess (2006): „The Success and Failure of Federation“, in: M. Burgess, Comparative Federalism: Theory and Practice, Routledge, London und New York, S. 269–282.
Th. M. Franck (1968): „Why Federations Fail“, in: Th. M. Franck, Why Federations Fail: An Inquiry into the Requisites for Successful Federalism, New York University Press, New York, S. 167–199.
G. Kreis (1986): Der Weg zur Gegenwart: Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert, Birkhäuser, Basel et al.
J. Mergel (Hrsg.) (1998): Die Revolutionen von 1848/49: Erfahrung – Verarbeitung – Deutung, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen.
W. J. Mommsen (1998): 1848: Die ungewollte Revolution, S. Fischer, Frankfurt.
M. Salikov (2005): „Russian Federation“, in: J. Kinkaid und G. A. Tarr, Constitutional Origins, Structure and Change in Federal Countries, A Global Dialogue on Federalism, Vol. 1,
McGill-Queen’s University Press, Montreal et al., S. 280–311.
H. J. Streiff (1998): Von der alten Eidgenossenschaft zur modernen Schweiz, Verlag Finanz und Wirtschaft, Zürich.
R. Sturm (2008): „Bürgerschaftliches Engagement und Föderalismus“, in: P. Bussjäger (Hrsg.), Sozialkapital, regionale Identität und Föderalismus, Braumüller, Wien, S. 43–57.
R. J. Watts (1999): Comparing Federal Systems, McGill-Queen’s University Press, Montreal et al.