Eine Volkspartei muss natürlich nicht „hip“ sein. Schaden könnte es jedoch nicht, wenn Teile dieser Partei jene Gegenwartskompetenz hätten, die seit den 1950erJahren mit der Prädikatsauszeichnung „hip“ versehen wird. Das kostbarste Gut der Ur-Hipster war ihre radikale Individualität. Sie waren Stillibertäre ohne jegliches Interesse an gesamtgesellschaftlicher Anerkennung. Mehr noch: Sie flohen und mieden jeden Ort, an dem Vereinnahmung drohte. Deshalb kann – und wenn es ein wenig altväterlich klingt – der Urtext über den Hipster von Norman Mailer (unter dem Titel The White Negro 1957 veröffentlicht) zur Lektüre anempfohlen werden. Es ist kein Text über Mittelschichtkinder, sondern über die Marginalisierten einer intoleranten Gesellschaft. Der Kriegszustand, in dem sich der „Schwarze“ in den tief rassistischen 1950er-Jahren befand, hat ihn nicht nur seelisch, sondern körperlich – ja neuronal – verändert. Der Hipster, eine Art amerikanischer Existenzialist, folgt den Schwarzen aus eigenem Antrieb ins gesellschaftliche Off. Er erfindet sich damit selbst. Der white negro hat ein eigenes Nervensystem: Er nimmt anders wahr als die Mehrheit, denkt, improvisiert sich durch den Alltag abseits angesagter Trampelpfade. Er tut dies nicht in Antithese zum Spießer, sondern durch Unkenntnis, ja Unerreichbarkeit des Spießeralltags.
Die Verdienste des Hipsters bleiben: 1. Die Forderung nach einer Geschmacksdiktatur, sie sollte allerdings radikal individuell verstanden werden. 2. Die paranoide Oberflächlichkeit, sie hat viel Identitäts- und Substanzgequatsche zerstört. 3. Der Versuch, absolut modern sein zu wollen, bleibt eine Gegenwartsverpflichtung. 4. Der Hipster hat die Marktwirtschaft mit Vitalität versorgt. Kein Konsum ist nachhaltiger als jener, der sich aus der Gegenkultur an die Oberfläche des Mainstreams drückt. Die Distinktionssehnsucht der kaufkräftigen Mittelschicht macht aus der Warenwelt einen Kosmos voller geheimer Botschaften und Codes.
Die Idee der Union als Volkspartei stellt in das Zentrum ihrer Vision eine Gemeinschaft von solidarisch denkenden und fühlenden Individualisten, denen Freiheit viel, aber nicht alles bedeutet. Ein Freiheitsernst verbindet im besten Fall Union und Hipster (herrlich, mal diesen Satz schreiben zu können für die Konrad-Adenauer-Stiftung). Der Hipster sehnt und strebt nach absoluter Freiheit: Er ist ein Rebellionssüchtiger, ein stetig Ausbrechender, einer, der in jeder Struktur Gitterstäbe vermutet. Ein Trüffelschwein künftiger Emanzipationsprozesse. Als solcher kann er für Volksparteien wertvoll werden. Er ist die emanzipatorische Avantgarde.
Die politisch sensible Künstlerin Josephine Meckseper hat Anfang der 2000erJahre ein paar aufregende Arbeiten geschaffen, in der sie die Schriftzüge der Union mit der Ästhetik des Hip-Hops fusionierte und damit deutlich machte, dass jedes politische Logo seinen Platz in der Popkultur finden kann, ohne sich verbiegen zu müssen. Der Union kann man nur vorwerfen, dass sie diese Arbeiten, die zuletzt in der Villa Grisebach in Berlin versteigert wurden, nicht für die Parteizentrale gekauft hat. Es gibt keine natürliche Unverträglichkeit zwischen avantgardistischen kulturellen Codes und Massenkommunikationsstrategien von Volksparteien. Die Sozialdemokraten profitierten in ihrem Post-68er-Akademiker-Milieu unter anderem von der pointierten Plakatkunst von Klaus Staeck.
Die Union hatte jene Momente nicht. Bislang. Sie sah sich stets auf Seite derjenigen, die progressiven kulturellen Trends mit Staunen oder gar Abscheu gegenüberstanden. Die Fotoarbeiten von Josephine Meckseper, deren Großväter Nazis, deren Onkel in der DKP und deren Eltern links waren, erschüttern die wechselseitigen Vorurteile jener Unverträglichkeit zwischen einer bürgerlichen Volkspartei und jener Volkskunst namens Pop. Die Wahlplakate von Andy Warhol für den linken Demokraten McGovern sind ebenso eine Ermutigungsoffensive wie die Beuys’schen Grünen-Plakate, die von den vermeintlich Alternativen nur zurückhaltend eingesetzt wurden.
Die Union hat eine lange Geschichte komplexiver Berührungsangst mit urbanen Eliten, die nur im seltensten Extremfall „hipsteristisch“ codiert waren und sind. „Hipstertum“ stand historisch viel weniger links, als in der umgangssprachlichen Ausdeutung des Begriffs nahegelegt wird. Diese Außenseiter waren vor allem Verächter von Kollektiven und Staatsautoritäten. Sie hatten einen freiheitlichen Kern, der zu klassisch linken Positionen mitunter deutlich weniger taugt als zu den Positionen einer Union. Nur: Die Union hatte keinen Ehrgeiz und auch keinen Plan, diese Freiheitsnarrative für sich einzusammeln. Sie ignorierte brachliegende Optionen ziemlich luxuriös.
Wenn die Union immer wieder ankündigt, an ihrer „Großstadtkompetenz“ arbeiten zu müssen, um das Lebensgefühl der Großstädter zu treffen, dann hatte das in der Vergangenheit oft etwas von einem Didi-Hallervorden-Sketch, in dem die Ebene der optischen oder akustischen Zeichen in offensichtlichem Konflikt zur Bedeutung des Gesagten stehen. Diese Ignoranz hat mit dem kulturellen Horizont der Union zu tun und mit ihrer ästhetischen „Verstaubtheit“, die sie wie einen düsteren Schatten konservativen Selbsthasses seit den Umbrüchen der Studentenrebellion mit sich herumträgt. Wer die Städte verstehen will, muss die Kultur der Gegenwart verstehen.
Er sollte ab und an in jenen Büchern und Zeitschriften blättern, auf jenen Websites surfen, auf denen sich trendige Schlaumeier und ihre Nachplapperer orientieren. Und er sollte dies nicht müssen, sondern irgendwie wollen. Eine authentische Neugier auf diese Welten hilft. Im Netz kann jedermann aufregende Blogs und Seiten studieren, um Sound, Temperatur und Geschwindigkeit kultureller Taktgeber zu analysieren.
Einst nur in den hintersten Winkeln unwirtlicher Szeneviertel zu inspizierendes Spezialwissen kann dank der umfassenden Digitalisierung aller Kulturströmungen im gemütlichen, (klein)bürgerlichen Reihenhaus gefahrlos studiert werden. Die Avantgarde und die Hipster sind längst ein offenes Buch.
Doch Kultur für die Union, das heißt oft genug: Leslie Mandoki von Dschinghis Khan und Merkel-Freund Volker Schlöndorff begrüßen sich im Konrad-Adenauer-Haus bei einem Gläschen Wein und Häppchen.
Seit Jahren schon bemüht sich die Union um die Großstädter – mit unglaublichem Misserfolg. Der bislang einzige Triumph war ein Ablenkungsmanöver. Dass Ole von Beust in einer modernen Großstadt wie Hamburg die absolute Mehrheit erringen konnte, war ganz seiner Person und seinem unzweifelhaft unspießigen Lebenswandel geschuldet.
Ole von Beust war als fast offener Schwuler mit entsprechendem Ausgehverhalten ein authentischer Vertreter jener Diversität, die in Großstädten selbstverständlich und im Zweifelsfall sympathisch wirkt. Doch schon die Bestellung des Nachfolgers Ahlhaus demonstrierte allen Hamburgern, wie unsensibel die CDU dem Wesen des Citoyens gegenübersteht.
Im Adenauerhaus hat man verstanden, dass in den Städten die Zukunft auch der nichturbanen Landesteile zu dechiffrieren ist, was Wertewandel und Lebensstil betrifft. Diese Einsicht ist löblich, das Instrumentarium, mit dem man sich der Wirklichkeit annähert, trägt jedoch das spätere Scheitern schon in sich. Nicht in Arbeitsgruppen und nicht mit dem sicher lobenswerten Kulturprogramm in der Konrad-Adenauer-Stiftung erreicht man den nichtländlichen Wähler. Wie Städte die Vorhut der ruralen Gegenden sind, so ist die Boheme die Vorhut des Urbanen. Selten haben es Mode und Kunst so gut mit den Bürgerlichen gemeint, selten hat das „bürgerliche“ Lager so stumpf all seine Möglichkeiten ignoriert.
Wo beginnen? Vielleicht mit einem Blick auf den Modeblog des „Sartorialist“ aus New York, der die globale Stil-Elite als ein stilistisch neokonservatives Kollektiv von adretten Individuen präsentiert, bei denen sich Leistung wieder lohnt, vor dem Spiegel und im Job. Denn nur wer fleißig ist und kompetent, verdient genug Geld, um sich Anzüge maßschneidern zu lassen und Pferdelederschuhe gleich dazu. Dort würden sie beobachten können, wie die Kinder ihrer Wähler (oder ehemaligen Wähler) heute in die Gymnasien in Bad Homburg, Dahlem, Starnberg oder Harvestehude gehen. Sie würden entdecken, wie akkurat die Hemden sitzen und Frisuren, und schließlich müssten sie verstehen, dass es in dieser Welt selten chicer war, konservativ zu sein – und sich eben nicht als ewig zu spät Kommender den allzu Zeitgeistigen anzubiedern.
Engagierte Unionisten könnten erforschen, wie Geschmack und Authentizität eine seelenvolle Verbindung eingehen, um den öffentlichen Raum zu einem Ort von Zivilisiertheit und Anstand werden zu lassen, wie sich das „bürgerliche“ Politiker wohl gar nicht mehr zu sagen trauen.
Gerade in jenem Augenblick, wo die Streber von der Jungen Union ihre Krawatten ausziehen, werden die Binder von afrikanischen Stylisten und skandinavischen Elektromusikern wieder umgebunden. In jenem Moment, in dem die CDU nach links rutscht und die FDP irgendwie hinterher, geben der Kapitalismus und sein schönstes Kind, der Luxus, in den Avantgarden der großen Städten den unbezweifelten Maßstab ab.
Seit Florian Illies’ Generation Golf und dem 1999 erschienenen Jugendmanifest „Tristesse Royale“ war die kulturelle Avantgarde nicht mehr einfach links, sondern für die Bürgerlichen zum Greifen nahe. Die bürgerlichen Parteien haben die Chance nicht genutzt. Sie haben sich nicht einmal dafür interessiert.
Das Zukunftsthema der digitalen Bohème ist Netzkompetenz. Bis auf Generalsekretär Peter Tauber und Kanzleramtsminister Peter Altmaier traut man den Unionisten da wenig zu. Sie wirken, wie der Social-Media-Chef der Welt-Gruppe Martin Hoffmann erklärt, „unsexy. Die Grünen machen das besser. Bis auf die Facebook-Seite von Angela Merkel, die funktioniert.“ Das Internet ist eine paradiesisch freiheitliche Spielwiese. Sie bietet sich sozusagen an als Identitätslabor der Parteien. Die Union könnte da ein wenig zuversichtlicher experimentieren. Anpassung an den Zeitgeist wäre dabei fatal. Nichts ist peinlicher als eine Organisation, die sich eine Hipster-Travestie auferlegt.
Das Gute ist: Die Union steht bei vielen lebensweltlichen und kulturellen Baustellen am Anfang. Sie hat wenig zu verlieren. Sie kann einfach loslegen und ein zentrales Zukunftsthema nicht länger der Linken überlassen. Aber das weiß die Partei seit gut einem Jahrzehnt. Und passiert ist bislang zu wenig. Irgendwann könnte sich das furchtbar rächen.
Ulf Poschardt, geboren 1967 in Nürnberg, stellvertretender Chefredakteur der „Welt“-Gruppe.