Viele Deutsche werfen uns Amerikanern vor, wir seien zu oberflächlich. Ich bin von diesem Pauschalurteil immer etwas irritiert, aber weil ich Amerikanerin bin, bin ich auch zu höflich, um darüber zu jammern.
Man muss sich immer wieder bewusst machen, dass die USA ein Einwandererland sind. Fast niemand kommt aus Amerika, irgendwann ist jeder nach Amerika gekommen – freiwillig oder nicht –, und unsere Oberflächlichkeit ist eine Überlebensstrategie. Wenn so viele verschiedene Leute aus so vielen verschiedenen Ländern und Kulturen mit so vielen verschiedenen Geschichten aufeinandertreffen, ist es einfach einfacher, nett zueinander zu sein. Wir Amerikaner sind von Natur aus Optimisten. Yes we can! Auch wenn wir nicht immer können.
Frag’ einen Amerikaner: „How you doing?“, und er antwortet immer: „Fine!“ Frag’ einen Deutschen: „Hey! Wie gehts?“, und er wird seinen Kopf schütteln, mit den Schultern zucken und ganz langsam ausatmen, bevor er sagt: „Tja ... MUSS.“ Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied in der Mentalität.
Man sieht die Unterschiede zwischen Deutschen und Amerikanern am allerbesten an unserer eigenen Oberfläche – an unserem Körper. Sind wir Amerikaner geboren mit einer besonderen DNA? Einer DNA, die sagt: „You’re gonna have a giant ass!“
Seit 1960 ist der Zahl übergewichtigen Amerikaner drastisch gestiegen – um mehr als vierzig Prozent –, heutzutage sind über 75 Prozent aller Amerikaner übergewichtig. Ist etwas im Wasser schuld daran? Oder dass unser Wasser eigentlich Coca-Cola heißt? Im Kühlschrank meiner Schwester stehen immer mehrere Fünf-Liter-Big Gulp-Flaschen parat, und in amerikanischen Kinos gibt es eine Bechergröße namens Tsunami – zwei Liter Cola für eine Person. Ich gehöre zur ersten Generation, die mit McDonald’s groß geworden ist – und ich meine GROSS! We’ve been super-sized und XXL-ed und essen Riesenportionen, die jeweils eine ganze, hart arbeitende Bauernfamilie ernähren könnte, aber statt unsere Kalorien durch Ernte-Arbeit auf den Feldern zu verbrennen, sitzen wir vor unseren Bildschirmen und spielen Farmville. Unser kollektiver fat ass passt nicht mehr in normale Sitze – the PATH train, die Pendlerzüge zwischen New York und New Jersey, werden 2012 zum ersten Mal verbreitert, von 44 Zentimetern auf 49,5 – weil die überwiegende Mehrheit der Hintern in New Jersey deutlich breiter als 44 Zentimeter ist.
Hier spannt sich nicht nur die Hose der Reisenden, sondern auch eine böse Brücke zwischen Pendlern in New Jersey und pummeligen Personen weltweit. Der jahrelange Überverzehr von refined carbohydrates (raffinierte Kohlenhydrate) – weißes Mehl, weißer Zucker –, kombiniert mit Toxic Stress – Krankheit, Scheidung, Abschied, Arbeitslosigkeit oder dem, was ich „Alltagsleben“ nenne – endet mindestens im Muffin Top, dem über den Gürtel quellenden, Rettungsring-artigen Bauchfett viel schlimmer kann es in Diabetes, Herzinfarkt oder Krebs enden. Raffinierte carbohydrates sind relativ neu in unserer Zivilisation – obwohl Chicken McNuggets, Nachos und Dunkin’ Donuts sehr lecker sind, erhöhen sie unsere Überlebenschancen in der Modernen Welt nicht.
Ich bin ein Carb-Junkie, ich gebe es zu. Ich bin begeistert von allem, was mit Mehl, Hefe und einem kleinen bisschen Liebe gemacht ist. Ich erinnere meine erste Pizza wie meinen ersten Kuss. Mein Vater war ein Barkeeper in der Maple Alleys Cocktail Lounge – der Kneipe einer Kegelbahn, in der Pizza und Bier die Renner waren. Er kam oft sehr spät und etwas besoffen nach Hause, brachte uns Kindern aber immer eine übriggebliebene Pizza als eine Art verbotene kulinarische Entschuldigung mit. Diese Frühstücks-Sünde war mein Einstieg in die verführerische Welt von Kohlenhydraten – ein verworrener Ort, an dem Liebe, Schuld und Köstlichkeit aufeinandertreffen, wo ich Trost und Ruhe fand. Mit vier entdeckte ich Spaghetti, mit acht Potato Chips.
Meine Mutter arbeitete in einem Supermarkt, und wir kamen immer vor ihr nach Hause. Mein Bruder überbrückte mir die Zeit zwischen Schulende und Abendbrot mit Fluffernutters – Sandwiches aus Wonder Bread – wolkenweiches, synthetisches weißes Toastbrot, das so weich und inhaltsleer ist, das man einen ganzen Laib in einer Hand zusammendrücken kann – beschmiert mit Erdnussbutter und Marshmallowcreme. Carbs und Zucker – so erlebte ich meinen ersten Vollrausch!
Es ging immer weiter – auf zu neuen Ufern! In New York habe ich Bagels und Knishes – jüdische Teigtaschen, gebacken oder frittiert – kennengelernt. Als ich im East Village wohnte, aß ich nur in Leshko’s Coffee Shop, einem ukrainischen Deli an der Avenue A – Pirogen, Blintzes, Blini – und ab und zu einen Teller Borschtsch. Auf meiner ersten Tournee in Europa dann Crumpets in London, Brioches in Toulon, bis ich schließlich nach Deutschland kam – dem ultimativen Ort für Carb Freaks: Spätzle, Maultaschen, Klöße, Bretzeln und über 300 Brotsorten!
Manchmal denke ich, meine wahre Verbindung zu den Deutschen ist unsere gemeinsame Vorliebe für Backwaren. Habt Ihr mal einen Deutschen ohne Brot erlebt? Schick’ einen Deutschen an einen atemberaubend schönen Ort, irgendwo auf diesem Planeten – Taj Mahal, Timbuktu, Tahiti –, er wird sagen: „Hier gibt es aber kein gutes Brot. Du kannst hier aber kein vernünftiges Brot kriegen... Es ist toll hier, aber was ich wirklich vermisse, ist wirklich gutes Brot.“ You gotta love that about the Germans – give ’em a piece of Pumpernickel and they’re happy. It’s so bodenständig!
Da treffen wir uns – die Deutschen und ich – auf der Kreuzung von Kohlenhydraten und Glück. Nach meinem ersten Besuch in einer Stuttgarter Bäckerei wollte ich sofort nach Schwaben umsiedeln – nur für den Morgenduft von frisch gebackenen Brötchen. Ich frage mich oft, warum nicht alle Deutschen dick sind, aber ich glaube, Eure Kohlenhydrate sind gute deutsche Kohlenhydrate. Sie haben höchstwahrscheinlich ein universelles Stiftung Warentest-Gütesiegel und enthalten immer etwas wie Dinkel oder Grünkern. Sie sind stramm und aktiv und sind an der frischen Luft aufgewachsen.
Nach 22 Jahren hier in Deutschland habe ich endlich das deutsche Glücksrezept entdeckt: Lüften. Lüften is the deutsche Antwort auf alles. Komm, wir lüften schnell! Komm, wir lüften fünf Minuten, dann wird alles wieder besser... Herrlich!
Komm, komm, wir schnappen ein bisschen frische Luft ... Luftschnappen! Das ist ein Tu-Wort! Das kennen wir überhaupt nicht in Amerika. Mir war das total fremd. Das erste Mal, als ich das Wort „Stoßlüften“ gehört habe, war ich schockiert. Stoßlüften!
Und, ihr seid die Weltmeister im Spazierengehen! Spazierengehen als Freizeitbeschäftigung – unglaublich! Sonntagnachmittag geht ganz Deutschland spazieren – egal wo, egal welches Wetter. Ich habe letzten Sommer an der Nordsee ganze Familien erlebt – Kopf bis Fuß in Jack-Wolfskin-Sympatexklamotten gekleidet – durch strömenden Regen auf Fahrrädern, um Luft zu schnappen. Wir haben bezahlt für diesen Scheiß-Urlaub, wir schnappen jetzt ein bisschen frische Luft! Kommt!
Nach über zwanzig Jahren hier in Deutschland bin auch ich bodenständiger geworden. Das muss der Einfluss dieses Landes sein, der Heimat von Birkenstock und Dr. Hauschka. Gerne stehe ich früh auf und mache Sport. Ich gehe morgens raus und mache Power Walking. Früher hieß das „Spazierengehen, wenn man pinkeln muss“, aber jetzt – auf Gutdeutsch – Power Walking. Als ich vorletzten Sonntag zu meiner Straßenecke kam, waren keine Autos in Sicht, aber sechs andere erwachsene Menschen standen stocksteif, fixiert auf die rote Ampel. Das verstehe ich überhaupt nicht. In New York geht man einfach über die Straße! You cross the fucking street! Ich habe meinen Mann gefragt: „What is going on with the Rote Ampel“, und er sagte – der gute Deutsche, der er ist: „You have to be a gute Vorbild for the Schulkinder.“
Das verstehe ich. Eine Woche später, sechs Uhr morgens, die gleiche rote Ampel, weit und breit keine Autos in Sicht, aber ein sehr hübscher, sechsjähriger Junge neben mir. Und ich habe gedacht: „I have to be a gute Vorbild, I have to be a gute Vorbild“, so I grabbed him by the hand, ran across the street as fast as I could and said: „Don’t waste your time, life’s too short!“
Die Mischung machts. Jede achte Ehe, die in 2010 Deutschland geschlossen wurde, ist bi-national – ich meine das nicht sexuell, ich meine das geografisch.
Mit der Ausnahme von Heidi Klum und Seal scheint es ein richtiges Erfolgsrezept zu sein. Ich bin auch ein Teil eines solchen Paares und habe viel von meinem Bremer Mann gelernt. Amerikanerinnen lieben die Standhaftigkeit und Klarheit ihrer deutschen Männer. Sie haben eine unwiderstehliche Ruhe, die jederzeit ausstrahlt: „Guten Tag, let’s have children and a Bausparvertrag.“ We love that! Sie sind auch sehr hilfreich, wenn wir uns mal wieder etwas übernommen haben mit unserer I-can-have-it-all-Business-Fitness-KinderKultur-Sexbomb-Hausfrau-Get-Up-And Go-Manier. Sie bleiben bei uns und trösten uns mit einem einfachen „Schritt für Schritt“.
Da treffen wir uns wieder – auf der Kreuzung von Optimismus und Bodenständigkeit, wo ich zuhause bin.
Gayle Tufts, geboren 1960 in Brockton, Massachusetts (USA), amerikanische Autorin, Sängerin, Performerin und Entertainerin mit festem Wohnsitz in Berlin.