Stellen Sie sich ein Land vor, in dem jedes Jahr die Landwirtschaft um rund fünf Prozent wächst, wo sich die Erträge pro Hektar in den letzten zwanzig Jahren verdreifacht haben. Sie denken an Brasilien oder Indien? Falsch! Das Land heißt Äthiopien. Wer hätte das gedacht, insbesondere in Deutschland, wo Äthiopien seit der Hungerkatastrophe 1984 und der folgenden internationalen Musikerinitiative Band Aid als Prototyp eines humanitären Krisenherdes betrachtet wird? Tatsächlich ist Äthiopien eines von zahlreichen Beispielen, die belegen, warum die UN-Initiative „Zero Hunger“ – eine Welt ohne Hunger – keine Illusion sein muss.
Wenn wir an Afrika denken, denken wir an Krisen. Bisweilen aus gutem Grund, wie es gerade in diesen Tagen das UN World Food Programme erlebt: Die Vereinten Nationen müssen 2014 bereits mit drei großen sogenannten Level-3-Krisen kämpfen, dem höchsten Notstandslevel humanitärer Krisen. Neben der Syrienkrise ereignen sich zwei dieser Katastrophen im Herzen Afrikas – im Südsudan und in der Zentralafrikanischen Republik. Diese sind nur Symptome eines langfristigen Trends, der aber weit über Afrika hinausreicht. Die Anzahl der Krisen und der Bedarf an humanitärer Hilfe liegt heute per anno rund viermal so hoch wie noch vor zehn Jahren. Dies hat vielfältige Ursachen, vor allem aber hat die Zahl der Konflikte und der klimabedingten Desaster dramatisch zugenommen. Allein die Anzahl der Stürme und Dürren, die heute täglich eine Region der Erde treffen, hat sich pro Jahr verdrei- bis vervierfacht.
Bei allen Schreckensmeldungen gibt es aber auch gute Nachrichten: Wir haben heute eine viel bessere Expertise, viel bessere Werkzeuge und viel bessere wirtschaftliche Anreize, den Hunger zu besiegen – auch in Afrika. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller charakterisiert zutreffend: „Afrika ist ein Kontinent der großen Chancen und der großen Risiken.“ Was ist also zu tun, um die Chancen zu nutzen? Der aktuelle Global Food Policy Report des führenden Internationalen Forschungsinstituts für Agrar- und Ernährungspolitik (IFPRI) belegt große Erfolge im Kampf gegen Hunger in Afrika: Nicht nur Äthiopien, auch Länder wie Ruanda, Nigeria, Guinea, Mosambik, Angola haben in den letzten Jahren substanzielle Erfolge erzielt und dazu beigetragen, dass heute weniger als ein Drittel der 842 Millionen hungernden Menschen weltweit in Afrika lebt. Auch ihre Beispiele ermutigen IFPRI zu der These: „Zero Hunger ist möglich bis 2025“.
Was Hunger kostet
Dennoch ist nicht zu verkennen, dass sich die afrikanischen Fortschritte zuletzt teilweise verlangsamt haben. Dies liegt zum einen an der dramatisch gestiegenen Anzahl externer Schocks, wie Dürren und Konflikte, aber auch an einem zugleich viel fragileren Welternährungssystems als noch vor nur zehn Jahren: Eine rapide wachsende Nachfrage nach Nahrungsmitteln, die Nutzung globaler Ernten für andere Zwecke wie Bioenergie, Kosmetika, Viehfutter und eine sehr ineffiziente Fleischproduktion haben zu boomenden Preisen und Nahrungsmittelspekulation in ungeahnten Dimensionen beigetragen. Zugleich werden in wenigen Hotspots des Bevölkerungswachstums – nicht zuletzt in Äthiopien – die großen Agrarerfolge durch die rasant wachsende Zahl der Menschen zum Teil wieder nivelliert.
Gleichwohl ist es ein breiter Konsens, dass die internationale Staatengemeinschaft und die Regierungen vor Ort diese Risiken meistern oder teils sogar nutzen könnten, zum Beispiel mit Blick auf die hohen Nahrungsmittelpreise weltweit. Drei von vier Hungernden in der Welt sind Bauern, Viehhalter, Landarbeiter. Sie alle könnten als Produzenten vom Preisboom profitieren – wenn sie dazu befähigt würden. Der ökonomische Gewinn für ihre heimischen Volkswirtschaften wäre zugleich immens: Weltweit verursacht Hunger ökonomische Kosten in Höhe von schätzungsweise 3,5 Billionen US-Dollar pro Jahr. Die Studien-Serie Cost of Hunger des WFP – der größten humanitären Organisation weltweit, die den Hunger in 75 Entwicklungsländern bekämpft – belegt für zahlreiche Länder: Wenn es ihnen gelingt, den Hunger zu besiegen, steigt ihr Bruttosozialprodukt pro Jahr um bis zu sechzehn Prozent. Zero Hunger ist also auch eine riesige wirtschaftliche Chance.
Land für Frauen
Die afrikanischen Regierungen haben zugesagt, das Problem selbst prioritär zu lösen. Dazu müssten sie beispielsweise eigene Verpflichtungen einhalten, wie die Zusage der Maputo-Deklaration 2003, mindestens zehn Prozent der öffentlichen Budgets in die Entwicklung der ländlichen Räume zu investieren. Ganze dreizehn Staaten haben dieses Ziel bisher erreicht. Auch bei vielen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen gibt es großen Handlungsbedarf: Kleinbauern brauchen verlässliche Landrechte, um zu investieren. Landraub durch große Investoren, „der Kolonialismus der heutigen Zeit“ (Dirk Niebel), muss verhindert, die UN-Leitlinien für eine nachhaltige Landnutzung müssen umgesetzt werden. Auch die massive Benachteiligung von Frauen hat drastische Auswirkungen: Wenn Frauen in Entwicklungsländern nur denselben – oft bescheidenen – Zugang zu landwirtschaftlichen Ressourcen hätten wie Männer, würden schon heute 100 bis150 Millionen Menschen weniger hungern.
Die internationale Staatengemeinschaft muss ihr Wissen und ihre Expertise viel stärker nutzen und operationalisieren. Dazu zählen Frühwarnsysteme, die heute Ernährungskrisen viele Monate zuvor voraussagen können, oft aber zu keinerlei Reaktion führen; dazu zählen sogenannte Preparedness-Maßnahmen, welche die Folgen und Opferzahlen akuter Desaster wie Stürme und Überschwemmungen durch eine koordinierte Katastrophenvorsorge minimieren können; dazu gehören auch gezielte kurze Interventionen, die verhindern, dass schwelende Krisen zu Katastrophen werden.
Was das konkret bedeutet, haben zwei jüngste Fälle verdeutlicht: Die Krise am Horn von Afrika 2011 führte auch aufgrund einer viel zu späten Reaktion der Staatengemeinschaft zu einer dramatischen Hungersnot in Somalia. Dagegen zeigte sich in der Sahel-Krise 2012 in Westafrika, dass aus dem Desaster am Horn von Afrika Lehren gezogen worden waren: Als erneut die Frühwarnsysteme Alarm schlugen, reagierte insbesondere Deutschland schnell und stellte sofortige Hilfe bereit. Dies befähigte sowohl Regierungen vor Ort als auch Hilfsorganisationen, die Krise einzudämmen, bevor sie zu einer Hungerkatastrophe eskalieren konnte.
Cash for work, food for work
Neue Instrumente im Kampf gegen den Hunger ermöglichen es hierbei, eine lange klaffende Lücke der internationalen Hilfe zu schließen: Gerade in Zeiten drastisch zunehmender Krisen und stagnierender Ressourcen ist es wichtiger denn je, Nothilfe und Entwicklungshilfe – wann immer möglich – zu verknüpfen. Dies erlauben zum Beispiel Cash for Work- und Food for Work-Programme, wie die Sahel-Krise demonstrierte: Millionen von Westafrikanern war es trotz dramatischer Dürre und längst aufgebrauchter Vorräte möglich, dank konditionierter Geld- und Nahrungstransfers in ihren Dörfern und auf ihren Feldern zu bleiben. Im Gegenzug arbeiteten sie an Projekten, die die „Widerstandsfähigkeit“ (Resilience) ihrer Gemeinden gegen künftige Krisen erhöhten. So entstanden neue Bewässerungssysteme, neue Dämme und Brunnen oder neue Straßen zu lokalen Märkten. Eine Landflucht von Millionen Bauern und der dauerhafte Verlust ihrer Existenzgrundlage konnte verhindert werden.
Insbesondere die deutsche Bundesregierung hat in diesem Bereich der Vorsorge und der Widerstandsfähigkeit gegen Krisen wichtige Initiativen gestartet: Das Auswärtige Amt hat eine strategische Partnerschaft mit dem WFP initiiert, um die internationalen Kapazitäten auf diesem Feld zu verbessern. Das Entwicklungsministerium hat eine Resilience Learning Initiative ins Leben gerufen, damit Organisationen wie die Welthungerhilfe, CARE und WFP ihre Expertise international einbringen und Modellbeispiele austauschen können.
Syrienkrise verschlingt die Mittel
Probleme der Welternährung und der Landwirtschaft sind nur langfristig zu lösen und eignen sich nicht als Wahlkampfthemen. Von wichtigen Erfolgen, wie der verhinderten Hungerkatastrophe im Sahel, wird die Weltöffentlichkeit gerade aufgrund ihres glücklichen Ausgangs nie erfahren. Umso größeren Respekt verdient die Bundesregierung für ihre Entscheidung, den Kampf gegen den Hunger zu einer Priorität zu machen und hierfür künftig eine Milliarde Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen. Dabei sollen die Mittel für die humanitäre Hilfe im Budget 2014 noch einmal erhöht werden, um einem gefährlichen Nullsummenspiel entgegenzuwirken: Katastrophen wie in Syrien, die Krise mit dem größten Hilfsbedarf aller Zeiten, drohen dafür zu sorgen, dass für weniger bekannte Hotspots, etwa in Afrika, kaum noch Hilfsgelder bleiben.
Diese Initiativen könnten zu Ecksteinen werden für Zero Hunger in Afrika und darüber hinaus, wenn ihr Ansatz darauf abzielt, keine neuen isolierten Projekte zu etablieren, sondern vorhandene und innovative Programme zu integrieren, Nothilfe und Entwicklungshilfe weiter zu vernetzen und sowohl von der Expertise bilateraler NGOs wie auch multilateraler Organisationen zu profitieren. Gelingt es auch anderen Geberstaaten und den afrikanischen Regierungen, einen solchen Weg zu beschreiten, könnte sich künftig niemand mehr über Fakten wie diesen wundern: dass WFP 2013 so viele Nahrungsmittel in Äthiopien ankaufen konnte wie in keinem anderen Entwicklungsland, mit einem Rekordanteil von Kleinbauern.
Ralf Südhoff, geboren 1968 in Hamburg, Leiter des UN World Food Programme (WFP) für Deutschland, Österreich und die deutschsprachige Schweiz.