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Programmatisch Neues im Pontifikat des Franziskus

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Die Kirche ist kein Selbstzweck, ihre Sakramente sind es nicht, selbst die Schönheiten, ihre Kunst sind es nicht, die Theologie und die Dogmen sind es schon gar nicht – und auch der Papst ist es nicht. Es gibt alles und alle in der Kirche, damit sie tut, wofür es sie gibt. Was das ist, dafür hat das Zweite Vatikanum fulminante Formulierungen gefunden. Eine lautet: Die Kirche ist das „allumfassende Sakrament des Heiles“, „welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“.[1] Alle und alles in der Kirche müssen sich daran messen lassen, ob sie dazu etwas beitragen. Auch der Papst.

 

Reaktionen auf demütigende Reichweitenverluste

Anders als man vielleicht auf den ersten medial gelenkten Blick meinen möchte, steht es mit dem Papsttum freilich seit Längerem nicht besonders gut. Denn seine konkrete neuzeitliche Organisationsidee ist in die Jahre gekommen. Diese Organisationsidee entwickelte sich in der frühen Neuzeit in einer merkwürdigen Gegenabhängigkeit zum Souveränitätsdenken des modernen Staates. Wie er begriff sich die katholische Kirche als in sich und aus sich heraus unabhängig, darin dem Staat ebenbürtig, durch ihr übernatürliches Gottesverhältnis ihm sogar überlegen.

Mit dieser Souveränitätsstrategie reagierte die katholische Kirche immer steiler auf eine ganze Kaskade demütigender Reichweitenverluste: auf die erfolgreiche Etablierung konkurrierender christlicher Kirchen in der Reformation, auf die Entmachtung durch den modernen, liberalen Staat in den bürgerlichen Revolutionen, auf das Aufkommen konkurrierender politischer Religionen im Kommunismus und in der völkischen Religiosität und schließlich noch auf die moderne Individualisierung des Religiösen im 20. Jahrhundert. Das Papsttum wurde zur Spitze und zum Zentrum dieser Strategie.

Diese Strategie arbeitete mit Inklusion durch Exklusion, das bedeutete sozialen wie heilsökonomischen Ausschluss der anderen bei interner Verdichtung der römischen Kirche. Lange war diese Strategie ziemlich erfolgreich. Nur funktioniert sie immer weniger, weil sich die Machtverhältnisse zwischen Individuum und religiösen Institutionen mittlerweile auch im katholischen Feld gewandelt haben. Auch die katholische Kirche verortet sich seit einiger Zeit nicht mehr allein normativ, sondern auch situativ.[2]

Im gewissen Sinne hängt seither das Papsttum in seiner neuzeitlichen Souveränitätsformatierung einigermaßen in der Luft, und man kann die medial globalisierte Charismatik Johannes Pauls II. und den Gelehrtenhabitus Benedikts XVI. als Versuche verstehen, genau damit auf eine sehr persönliche, also gerade nicht amtliche Weise umzugehen.

 

Franziskus übernimmt die Leitung der Kirche des Konzils

Nun hat das Zweite Vatikanum dem Volk Gottes und damit auch dem Papst einen neuen Ort zugewiesen. Dieser Ort ist nicht durch Exklusion und Erhabenheit, sondern durch Solidarität und Inklusion im Horizont des universalen Heilswillens Gottes definiert. Mit dem letzten Konzil hat die katholische Kirche anerkannt, dass es nicht mehr geht, in die Welt hineinzusprechen, sich im Übrigen aber als erhaben über sie zu glauben und sich ihren Freuden und Hoffnungen, ihrer Trauer und ihren Ängsten nicht auszusetzen.

Papst Franziskus übernimmt die Leitung der Kirche des Konzils. Er sagt dies auch ausdrücklich: „Das Zweite Vatikanische Konzil … hat beschlossen, der Zukunft mit einem modernen Geist ins Gesicht zu sehen und sich für die moderne Kultur zu öffnen. Die Konzilsväter wussten, dass Öffnung zur modernen Kultur religiöse Ökumene bedeutete und Dialog mit den Nichtglaubenden. Seitdem ist sehr wenig in diese Richtung getan worden. Ich habe die Demut und den Ehrgeiz, es tun zu wollen.“[3]

Für Franziskus ist das Zweite Vatikanum „eine neue Lektüre des Evangeliums im Licht der zeitgenössischen Kultur“.[4] Dieser Satz sprengt alle Diskussionen über eine Hermeneutik der Kontinuität oder Diskontinuität, denn er steht jenseits dieser Alternative und hält die entscheidende methodische Wende fest, die das Konzil gegenüber der Kirche der Neuzeit darstellt – eine Wende, die tief in das Betriebssystem von Theologie und Kirche eingreift: Die Kirche beurteilt nicht mehr von außen die Gegenwart, als ob sie nicht dazugehören würde. Stattdessen sind die Gegenwart und speziell die Armen und Ausgeschlossenen in ihr[5] der heilsgeschichtlich einzig mögliche Ort der Entdeckung von Sinn und Bedeutung des Evangeliums.

Genau diese Wende des Konzils ist mit Franziskus in Rom angekommen. Dieser Papst verkörpert mit dem, was er tut und sagt, die geistliche, praktische und theologische Herausforderung epochalen Ausmaßes, die das Konzil bedeutet. Er konfrontiert seine Kirche mit ihrem letzten Konzil.

 

Primat der Barmherzigkeit

Daraus folgt viel. Aus dem konziliaren Ansatz des Papstes folgt der situative Vorrang der Orthopraxie vor der Orthodoxie [das heißt des rechten Handelns vor der rechten Lehre, Anm. der Redaktion]. Franziskus begründet das Primat der Barmherzigkeit wie das Konzil im universalen Heilswillen Gottes. Damit bricht der Papst jede kirchliche Selbstbezüglichkeit auf – bekanntlich die Grundversuchung der katholischen Kirche. Im Handeln der Kirche geht es zuerst darum, jeden Menschen aus der Perspektive der Liebe Gottes anzuschauen, und sei dieser Mensch noch so weit entfernt von einem Leben nach kirchlichen Normen.

Der Ansatz des Papstes bedeutet auch die Verpflichtung der Kirche, sich an den Rändern und Grenzen ihrer selbst zu entdecken, weil sie dort ihre Aufgaben und durch diese zu sich selbst findet. Aus dem Ansatz des Papstes folgt zudem der Vorrang des Volk-Gottes-Charakters der Kirche vor ihren hierarchischen Stufungen. Hier trifft der Papst zielgenau wunde Punkte der jüngeren Kirchengeschichte: die defizitäre Synodalität der katholischen Kirche etwa oder auch das kontrollfixierte Verhältnis des Lehramts zur wissenschaftlichen Theologie.

Und es bedeutet, Gott im „sanften, leisen Säuseln“[6] des Elija zu finden, im immer offenen Raum von Sicherheit und Zweifel; damit schließt der Papst an die große spirituelle – und nicht nur dogmatische – Tradition der Kirche an.

 

Die „pastorale Umkehr“ hat das Papsttum erreicht

Dieser Papst verkörpert die „pastorale Umkehr“[7], die das Konzil bedeutet und die Franziskus in Evangelii gaudium auch genau so nennt. Mit ihm hat diese pastorale Umkehr das Papsttum endgültig erreicht. Darin ist Franziskus eine Hoffnung für seine Kirche.

Dieser Papst ist aber auch eine Hoffnung für die ganze Welt, denn er verkörpert die Zuversicht, etwas zu sagen zu haben, das sie über den ökonomisch wie kulturell zunehmend hegemonialen und in weiten Teilen der Welt eben nicht sozial eingehegten Kapitalismus und die fundamentalistischen Reaktionen auf ihn hinausführt. Und dabei auch nicht zurückführt in die „Absurdität“ eines „kirchlichen und gesellschaftlichen Konservativismus“, der meint, man könne die „Leere und Unbarmherzigkeit der kapitalistischen Kultur mit einer Rückkehr zu vormodernen Vorschreibungen und Identitätsmarkern … wieder auffüllen“.[8]

Niemand weiß, ob dieser Papst die Zeit, die Kraft, die Ressourcen, die Geschicktheit und die Bündnispartner hat, sein Programm durchzuhalten. Wenn er jesuitische Strategieintelligenz mit franziskanischer Optionsstärke verbindet, hat er eine Chance.


Rainer Bucher, geboren 1956 in Nürnberg, seit 2000 Vorstand des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Fakultät Katholische Theologie der Universität Graz (Österreich).

Der Text basiert auf einem Impulsreferat, das der Autor am 5. Dezember 2013 bei der Diskussionsveranstaltung „Zeichen, Worte – Taten? Wie verändert Papst Franziskus die Kirche und die Welt?“ vorgetragen hat. Der Themenabend zu Papst Franziskus eröffnete die Reihe „Die Politische Meinung im Gespräch“.

„Kapitalismuskritik, Kulturkritik und Reformen in der Kirche“ lauten die im Januar 2014 erschienenen und von Karlies Abmeier verfassten „Analysen & Argumente“ der Konrad-Adenauer-Stiftung zu „Evangelii Gaudium“, dem ersten Apostolischen Lehrschreiben von Papst Franziskus, siehe www.kas.de/wf/de/33.36580.


[1] II. Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes), Nr. 45.
[2] Siehe dazu: Rainer Bucher, Wenn nichts bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche, 2. Aufl., Würzburg 2012, S. 15–41.
[3] E. Scalfari, Interview mit Papst Franziskus, La Repubblica, 01.10.2013. Zitiert nach der Website des Radio Vatikan, http://de.radiovaticana.va/news/2013/10/01/%C3%BCberraschung:_papst-interview_mit_%E2%80%9Ela_repubblica%E2%80%9C/ted-733261 (20.12.2013).
[4] A. Spadaro, Das Interview mit Papst Franziskus. Freiburg i. Br./Basel/Wien 2013, 57.
[5] Siehe das Apostolische Schreiben „Evangelii gaudium“, Nr. 53 f.
[6] A. Spadaro, a. a. O., siehe En. 4, 59.
[7] Evangelii gaudium Nr. 27. Im spanischen Originaltext steht „conversión pastoral“. Dies wurde in der „Arbeitsübersetzung“ der ersten Tage auf der Website des Vatikans korrekt mit „pastorale Umkehr“ übersetzt, in der jetzt gültigen Übersetzung in „pastorale Neuausrichtung“ abgeschwächt. Maßgeblich ist der spanische Originaltext.
[8] Kurt Appel, „Ein neuer Blick auf Papst Franz“, in: Der Standard, 05.08.2013. Siehe dazu auch: Rainer Bucher, „Wie leben im hegemonialen Kapitalismus? Perspektiven des deutschen politischen Katholizismus“, in: Wort und Antwort 54 (2013), S. 149–156.

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