Etwa 90 Prozent der jungen Europäer zwischen 18 und 35 Jahre sind schon einmal Zeugen digitaler Gewalt geworden. Digitale Gewalt hat viele Gesichter und ist mehr als nur ein Hasskommentar in den sozialen Netzwerken. Neben Beleidigungen, Vergewaltigungs- und Morddrohungen sind Verleumdungen, DickPics, die Veröffentlichung privater Informationen oder die Verbreitung manipulierten Bildmaterials an der Tagesordnung. Der technische Fortschritt führt zu immer neuen Spielarten. Heutzutage kann man problemlos beliebig viele Profile unter Pseudonym anlegen, um Menschen auf mehreren Kanälen gleichzeitig zu drangsalieren. Gesichter lassen sich im Handumdrehen auf nackte Körper und sogar in Videos von Hardcorepornographie montieren. Ist die Privatanschrift einmal veröffentlicht (sog. “Doxxing”), bleibt sie womöglich für immer abrufbar. Inhalte verbreiten sich über soziale Netzwerke in Sekundenschnelle und sind auf dem Smartphone jederzeit einsehbar. Digitale Gewalt in all ihren Ausprägungen ist zum ständigen Dauerrauschen geworden. Oft sind es keine zufälligen Angriffe, sondern gezielte Hasskampagnen, um insbesondere politisch engagierte Menschen aus dem öffentlichen Diskurs heraus zu drängen. Das hat massive Auswirkungen auf die Betroffenen und auf die Mitlesenden – und auch auf unsere Demokratie: Immer mehr Menschen ziehen sich aus Angst vor digitaler Gewalt aus öffentlichen Debatten im Netz zurück oder äußern ihre Meinung seltener. Laut einer europaweiten Umfrage von HateAid sind das bereits 52 Prozent der Frauen und 43 Prozent der Männer.
Vor allem betroffen von digitaler Gewalt: Frauen und marginalisierte Gruppen. Angriffe gegen sie sind oft sehr drastisch und persönlich. Frauen werden meist körperlich und sexualisiert attackiert, was besonders intim und schambehaftet ist. Eine gleichberechtigte Teilhabe am Meinungsaustausch und der Meinungsbildung im Sinne unserer demokratischen Grundwerte wird so erschwert oder ist kaum mehr noch möglich.
Rechtlich betrachtet sind Vorfälle digitaler Gewalt meist Verletzungen des Persönlichkeitsrechts und in vielen Fällen auch Straftaten. Angesichts der weitreichenden Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft sollte die Durchsetzung geltenden Rechts im Internet zentrales Anliegen unseres Rechtsstaats sein. Denn obwohl das Internet kein rechtsfreier Raum ist, ist es noch immer ein weitgehend rechtsdurchsetzungsfreier.
Die Strafverfolgung digitaler Gewaltdelikte ist deutschlandweit defizitär. Zum einen ist ein gesellschaftlicher Gewöhnungseffekt eingetreten, und: Internetnutzende sind sich der Strafbarkeit oft gar nicht bewusst. Dass das Versenden von DickPics als Verbreitung pornographischer Inhalte gemäß § 184 StGB strafbar ist, ist ebenso wenig bekannt, wie die Tatsache, dass sexualisierte Beschimpfungen häufig Beleidigungen gemäß § 185 StGB sind. Viele Betroffene sind rund um die Uhr digitaler Gewalt ausgesetzt. Und wer gesteht sich schon ein, tagtäglich Opfer oder Zeug*in von Straftaten zu sein? Viele Betroffene haben aber auch erlebt, dass die Strafverfolgungsbehörden selbst dann, wenn sie Anzeige erstatten, oft untätig bleiben. Ihr Vertrauen in die Wehrhaftigkeit des Rechtsstaats im Internet und in staatliche Institutionen ist nachhaltig geschwächt. Sie resignieren.
„Viele Betroffene haben aber auch erlebt, dass die Strafverfolgungsbehörden selbst dann, wenn sie Anzeige erstatten, oft untätig bleiben. Ihr Vertrauen in die Wehrhaftigkeit des Rechtsstaats im Internet und in staatliche Institutionen ist nachhaltig geschwächt. Sie resignieren.“
Josephine Ballon
Im Bund und in den Ländern zeichnet sich inzwischen in Sachen Strafverfolgung ein positiver Trend ab. Mehr und mehr Bundesländer richten bei den Staatsanwaltschaften spezialisierte Stellen ein. Strafbarkeitslücken, wie die Androhung einer Vergewaltigung oder das sogenannte “Doxxing”, wurden geschlossen. Und doch scheitert die Strafverfolgung noch zu oft daran, Täter*innen zu identifizieren, oder Strafverfahren werden mangels Verfolgungswürdigkeit einstellt. Oder die Anzeigeerstattung ist an unzumutbar hohe Hürden geknüpft. Auch die Möglichkeiten, digitale Gewalt online anzuzeigen, sind ausbaufähig: So kann man immer noch nicht in allen Bundesländern, digitale Beweismittel in Form von Screenshots hochladen. Für viele Taten im digitalen Raum ist heute noch ein Strafantrag erforderlich, der handschriftlich unterschrieben und auf Papier eingereicht werden muss. Eine Strafanzeige wird so unverhältnismäßig aufwendig. Da digitale Gewalt für die Wenigsten ein einmaliges, sondern ein regelmäßig wiederkehrendes Ereignis ist, grenzen solche Verfahren an eine Zumutung. Auch die Möglichkeiten des Zeugenschutzes werden oft nicht ausgeschöpft. So wird den Betroffenen die Angabe ihrer Privatanschrift abverlangt, was viele aus Angst vor anonymen und potenziell extremistischen Täter*innen ablehnen. Es ist das erklärte Ziel der Strafverfolgungsbehörden der Hasskriminalität im Internet strafrechtlich beizukommen. Doch dafür braucht es die Anzeigen aus der Zivilgesellschaft. Und deshalb ist es unabdingbar, den Betroffenen entgegenzukommen und gangbare Wege zu schaffen, Hasskommentare oder –nachrichten anzuzeigen – und zwar unter zumutbaren Bedingungen. Benötigt werden einheitliche elektronische Anzeigeformulare, über die Strafanträge formwirksam erstattet und Screenshots hochgeladen werden können. Unerlässlich – ein konsequenter Zeugenschutz! Betroffene sollten bereits bei der Anzeigeerstattung – egal ob online oder auf der Polizeidienststelle – verpflichtend darauf hingewiesen werden, dass sie statt ihrer Privatanschrift auch eine Erreichbarkeitsanschrift angeben können.
Eine zivilrechtliche Durchsetzung ihrer Rechte ziehen viele Betroffene nicht in Betracht. Und das obwohl sie sogar einen größeren Mehrwert bieten könnte als eine Strafverfolgung. Zivilrechtlich kann – anders als im Strafverfahren – eine umfangreiche Entfernung von Inhalten erwirkt werden, die sich sogar auf die Zukunft erstreckt und so Wiederholungen unterbindet. Die langen Verfahrenslaufzeiten und hohe Kostenrisiken schrecken viele jedoch ab.
Das Bundesministerium der Justiz hat kürzlich ein Eckpunktepapier für das geplante Gesetz gegen digitale Gewalt veröffentlicht. Viele der Vorschläge gehen in die richtige Richtung. So sollen die Ansprüche Betroffener ausgeweitet werden, von Plattformen und Anbietern von Internetzugangsdiensten Informationen über die Accountinhaberdaten von Täter*innen zu erhalten – um diese identifizieren zu können. Vorgesehen ist auch die Einrichtung einer zustellungsbevollmächtigten Stelle im Inland. Sie würde Betroffenen mühselige Auslandskorrespondenz ersparen, um ihre Rechte gegenüber den Plattformen durchzusetzen. Die Plattformen haben in der Regel ihren Sitz in Irland, was die Hürden bei der Rechtsdurchsetzung nur erhöht. Das ist einer der Gründe, warum Betroffene eine Rechtsdurchsetzung gegen die Plattformen nur selten in Betracht ziehen. Sie empfinden sie als „David gegen Goliath“-Situation, und glauben, den Plattformen und ihrer willkürlichen Moderationspraxis schutzlos ausgeliefert zu sein.
Eine Umfrage von HateAid in drei europäischen Ländern hat gezeigt, dass nur 27 Prozent der Internetnutzenden schon einmal digitale Gewalt in sozialen Netzwerken gemeldet hatten. 36 Prozent von ihnen wussten nicht, was mit ihrer Meldung geschehen ist. 25 Prozent derer, die noch nie etwas gemeldet hatten, hätten auch nicht gewusst, wie man das macht.
„Beim Kurznachrichtendienst Twitter haben sich die Vorfälle von antisemitischen und rassistischen Hasskommentaren seit 2022 mehr als verdoppelt.“
Josephine Ballon
Derzeit gibt es wenig Anlass zur Zuversicht: Aktuelle Entwicklungen in den sozialen Netzwerken zeigen, dass die digitale Gewalt eher zunimmt. Beim Kurznachrichtendienst Twitter haben sich die Vorfälle von antisemitischen und rassistischen Hasskommentaren seit 2022 mehr als verdoppelt. Ende August tritt in der Europäischen Union der Digital Services Act in Kraft. Wie gut er der Probleme Herr wird, wird maßgeblich davon abhängen, wie konsequent er durchgesetzt wird. Die Mühlen der Gesetzgebung und der behördlichen Aufsicht mahlen jedoch langsam. Solange im Netz Hass und Gewalt nahezu unwidersprochen neben Katzenvideos und Selfies stehen, ist dort weder die Meinungsfreiheit noch die gleichberechtigte Teilhabe gewährleistet. Dass es nicht so bleibt, muss Priorität aller demokratischen Institutionen sein.
HateAid
Josephine Ballon ist Rechtsanwältin und unterstützt seit November 2019 HateAid als Head of Legal.
Josephine Ballon setzt sich dafür ein, die rechtlichen Voraussetzungen für Betroffene von digitaler Gewalt, die bisher weitgehend schutzlos gestellt sind, zu verbessern. Frau Ballon war mehrfach als Sachverständige u.a. Rechtsausschuss und im Ausschuss für digitale Agenda des Deutschen Bundestages, sowie im europäischen Parlament geladen und nahm dort zu Fragen der Strafverfolgung von Hasskriminalität im Internet, geschlechtsspezifischer digitaler Gewalt und der Plattformregulierung Stellung.
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