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Die Muslimbruderschaft

Ideologie und Struktur

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Die Entwicklung des Islamismus ist in besonderer Weise verknüpft mit der Muslimbruderschaft (MB). Mit ihrer auf die Islamisierung von Staat und Gesellschaft abzielenden Ideologie war die MB weltweit vorbildgebend für andere im Laufe des 20. Jahrhunderts entstandene islamistische Bewegungen. Zudem gilt die MB als die älteste und weltweit am stärksten vernetzte islamistische Organisation. Von Ägypten ausgehend gelang es der MB in allen Ländern, in denen Muslime und Musliminnen leben, auch in Deutschland, Organisationsstrukturen zu etablieren. Ihre Anhänger, die Muslimbrüder, erheben ihre Interpretation des Islam zu einer Ideologie mit Universal- und Absolutheitsanspruch, die den menschengemachten Gesetzen übergeordnet ist und jedes staatliche Handeln dem vermeintlich göttlichen Willen unterwirft.

Die MB ist eine hierarchisch strukturierte Organisation. Sie besteht aus einer beratenden Versammlung (Schura), einer Generalversammlung und einem Exekutivrat. An der Spitze der Organisation steht ein gewählter Repräsentant – „Allgemeiner Führer“ (murshid 'amm) genannt. Seit dem 16. Januar 2010 ist Mohammed Badi der „Allgemeine Führer“ der MB. Nach dem Sturz des islamistischen Präsidenten und Muslimbruders Mohammed Mursi durch das ägyptische Militär am 3. Juli 2013 wurde der gesamte Führungskader der MB verhaftet. Einigen Führungsmitgliedern der MB wurden langjährige Haftstrafen und bislang noch nicht ausgeführte Todesstrafen verhängt.

In Ägypten wird die Anzahl der aktiven Mitglieder der MB aktuell auf ca. eine Million und in Deutschland auf ca. 1.450 Anhänger geschätzt. Nach eigenen Angaben ist die Organisation heute in mehr als 70 Ländern vertreten. In Europa existiert seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Netzwerk von Verbänden, Instituten und Schulen, welche die Ideologie der MB verbreiten. Die ausländischen Zweige der MB sind zwar ideologisch mit der Mutterorganisation in Ägypten eng verbunden, handeln jedoch in weiten Teilen eigenständig. Darüber hinaus sind zahlreiche islamistische Organisationen aus der MB hervorgegangen, wie beispielsweise die palästinensische Hamas, die tunesische Ennahda, die libysche „Partei für Gerechtigkeit und Aufbau“ sowie die im Sudan von 1986 bis 2019  regierende „Nationale Kongresspartei“. In Tunesien war die islamistische Ennahda-Partei seit dem Volksaufstand von 2011 an jeder Regierung beteiligt und bildete die stärkste Kraft im Parlament. Als Reaktion auf Korruptionsvorwürfe und Regierungsversagen entließ der tunesische Präsident Kais Saied Ende Juli 2021 die von Ennahda angeführte Regierung und setzte das Parlament aus. Damit wurde die MB auch in Tunesien vorerst von der Macht ausgeschlossen. 

Den politischen und historischen Hintergrund der Entstehung der MB bildeten die Erfahrungen des europäischen Vordringens in den Nahen Osten und Nordafrika ab Ende des 19. Jahrhunderts. Muslime und Musliminnen erkannten damals, dass die Europäer und Europäerinnen offenkundig auf allen Gebieten – sei es Wissenschaft, Technik, Militär oder Verwaltung – viel weiter vorangeschritten waren als die eigenen Gesellschaften. Die Ohnmacht der Muslime und Musliminnen gegenüber den europäischen Invasoren und Invasorinnen wurde meistens darauf zurückgeführt, dass die Muslime und Musliminnen die Vorschriften des Islam preisgegeben und damit eine der wichtigsten Quellen ihrer Stärke verloren hatten. So wurde eine breit angelegte Debatte angestoßen, die bis heute andauert. Im Mittelpunkt dieser Diskussion steht die Frage, wie die Rückständigkeit muslimisch geprägter Gesellschaften überwunden werden kann. „Islam ist die Lösung!“ lautete Hasan al-Bannas Antwort. Nach der Auffassung von Hasan al-Banna (1906–1949), dem Begründer der MB, ist der Islam eine untrennbare Einheit von Politik und Religion. Denn der Islam beinhalte ein allumfassendes System, das sich auf jeden Lebensbereich beziehe und Lösungswege für alle politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Probleme anbiete. Al-Banna sprach erstmals von der „islamischen Ordnung“ (nizam islami). Demzufolge sei der Islam ein völlig auf sich selbst beruhendes, totales System, das auf Koran sowie Sunna (Prophetentradition) basiere und zu jeder Zeit, an jedem Ort anwendbar sei. Damit wollte al-Banna zum Ausdruck bringen, dass der Islam ein allumfassendes System sei, das keiner europäischen Ideologien und Werte bedürfe. Bei all den feindseligen Gefühlen, die al-Banna den europäischen Kolonialmächten entgegenbrachte, war er jedoch der Überzeugung, dass sich die Muslime und Musliminnen dem europäischen Fortschritt auf wissenschaftlichem und technologischem Gebiet nicht verschließen dürften, ja hier sogar einiges nachzuholen hätten, um mit den dynamischen Entwicklungen in Europa Schritt halten zu können. Deshalb forderte er, die europäischen Errungenschaften, wie etwa die Naturwissenschaften und Technologien, bedenkenlos zu übernehmen, solange sie nicht gegen islamische Grundprinzipien verstoßen.

In Ägypten erlebte die Mutterorganisation der MB zwar eine sehr wechselvolle Geschichte, die sich auch auf ihre ideologischen Wandlungsprozesse auswirkte. Trotzdem besitzen die ideologischen Grundsätze, die Hasan al-Banna einst festlegte, vor allem sein Paradigma „Islam ist die Lösung!“, bis heute Kontinuität. Als al-Banna im März 1928 mit sechs Arbeitern in der Stadt Ismailiya am Suez-Kanal die „Gemeinschaft der Muslimbrüder“ (Muslimbruderschaft) gründete, legte er mit ihnen den Eid ab, als „Soldaten der Botschaft des Islam zu dienen“. Bis heute muss jedes MB-Mitglied diesen Eid leisten. Als Symbol wählten die Muslimbrüder einen von zwei Schwertern beschützten Koran, unter dem das Anfangswort eines koranischen Jihad-Verses steht. Bis heute ist dies das Symbol der MB. An ihrem Slogan – „Gott ist unser Ziel, der Gesandte unser Vorbild, der Koran unsere Verfassung, Jihad unser Weg, der Tod auf dem Weg Gottes unser höchstes Trachten“ – hat sich seit ihrer Gründung ebenfalls nichts geändert.

Das Ziel der Etablierung einer auf der eigenen Interpretation des Islam basierenden Staats- und Gesellschaftsordnung verfolgten die Muslimbrüder auch nach al-Bannas Tod – notfalls auch mit gewaltsamen Erhebungen gegen die jeweilige Staatsmacht. So verübten sie Attentate und verfügten über einen geheimen bewaffneten Flügel. Zwischen 1948 und 1950 sowie ab 1954 war die Organisation in Ägypten verboten. Seit den 1970er Jahren formuliert die MB den Verzicht von Gewalt zur Umsetzung ihrer Ziele. Ausgenommen davon sei jedoch der Widerstand gegen „Besatzer“, worunter die MB vor allem Israel versteht. Der Gewaltverzicht der MB führte zur Entstehung von militanten Abspaltungen und jihadistischen Splittergruppen, die teilweise 1989 in der Terrororganisation al-Qaida aufgingen. Trotz Parteiverbot konnten sich die Muslimbrüder ab den 1980er Jahren bis 2010 als unabhängige Kandidaten an Wahlen beteiligen und waren dementsprechend im ägyptischen Parlament vertreten. Erst nach dem Volksaufstand vom 25. Januar 2011 und dem erzwungenen Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Mubarak am 11. Februar 2011 wurden die Muslimbrüder offiziell als politische Kraft anerkannt und durften eine Partei gründen. Die Wahlen im selben Jahr boten der MB die historische Chance, ihre gesellschaftliche und politische Macht im eigenen Land auszubauen. Ihre „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ gewann etwa 40 Prozent der Sitze im Parlament. Zwischen Juni 2012 und Juli 2013 stellte die MB mit Mohammed Mursi auch den Staatspräsidenten. Nach Massenprotesten wurde Mursi am 3. Juli 2013 gestürzt und die „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ per Gerichtsurteil aufgelöst. Die dadurch ausgelösten Unruhen und Gewaltausschreitungen lieferten den Anlass, die MB per Gerichtsbeschluss am 23. September 2013 zu verbieten. Seit dem 25. Dezember 2013 wird die MB von der ägyptischen Regierung als Terrororganisation eingestuft. Aufgrund der schlechten Haftbedingungen und der mutmaßlich ausbleibenden medizinischen Versorgung verstarb Mohammed Mursi am 17. Juni 2019 während einer gerichtlichen Anhörung in Kairo.  

– Aladdin Sarhan

 

 

Lesetipps

  • Gudrun Krämer, Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden 1999.
  • Richard Paul Mitchell, The Society of the Muslim Brothers, London 1993.
  • Annette Ranko, Die Muslimbruderschaft - Porträt einer mächtigen Verbindung, Berlin 2014.

 

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Felix Neumann

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