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Kann direkte Demokratie funktionieren?

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Die Forderung nach direktdemokratischen Elementen als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie ist legitim. Sie finden bereits in vielen Bereichen in Deutschland Anwendung. Allerdings ist es in einem modernen Flächenstaat mit Millionen Wahlberechtigten sehr schwierig bis unmöglich, alle zu treffenden Entscheidungen permanent von allen abstimmen zu lassen. Dies käme einer Vollversammlungsdemokratie, wie sie von Linksextremisten, besonders Autonomen, gefordert wird, gleich. Von ihnen ist sie als bewusster Gegenentwurf zum demokratischen Verfassungsstaat gemeint und mit seinen Grundwerten nicht kompatibel.

Als direkte Demokratie bezeichnet man zum einen eine Herrschaftsform, bei der alle Gewalt direkt vom Volk ausgeübt wird, und zum anderen beschreibt man damit ein Entscheidungsverfahren, bei dem über bestimmte Sachfragen direkt abgestimmt wird. Als beschlossen gilt ein Antrag dann, wenn er die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Die wohl bekannteste Form zur Ausübung von direkter Demokratie in Deutschland ist das Volksbegehren oder der Bürgerbescheid.

Die wesentlichen Stärken der direkten Demokratie liegen in ihrer Integrations- und Legitimationskraft. Dadurch, dass jeder bei allem mitentscheiden kann, entsteht ein sehr hohes Maß an Transparenz und Akzeptanz der getroffenen Beschlüsse oder Gesetze. Die umfassende Beteiligung aller Wahlberechtigten an allen Entscheidungen hat jedoch ihren Preis: Bevor eine Mehrheit für einen Beschluss zustande kommt, vergeht sehr viel Zeit. In vielen Situationen des alltäglichen Lebens ist aber genau diese Zeit nicht vorhanden. Bei unvorhergesehenen Naturkatastrophen, wie Hochwassern oder Unwettern, bei politischen Unruhen in Partnerstaaten, bei verseuchten Lebensmitteln oder in terroristischen Bedrohungslagen muss schnell und unbürokratisch reagiert werden, um Menschenleben zu schützen. In solchen Situationen taugt die direkte Demokratie zum Treffen von Entscheidungen nicht. Und eben dieser Umstand ist Ausdruck ihrer größten Schwäche – sie ist unflexibel. Hinzu kommt ein hohes Maß an Ineffizienz. Denn häufig ist die Wahlbeteiligung bei demokratischen Abstimmungen sehr gering, was es schwierig macht, einen „Allgemeinwillen“ (siehe auch Mehrheit und „Wahrheit“: Gibt es einen vorbestimmten Allgemeinwillen?) zu erkennen. Zudem können in einem direktdemokratischen System relativ kleine, aber gut organisierte Gruppen unverhältnismäßig viel Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Was die Frage aufwirft, wie demokratisch Entscheidungen tatsächlich sind, wenn die Mehrheit der Bevölkerung nicht darüber abgestimmt hat.

In modernen Staaten kann direkte Demokratie als Herrschaftsform kein Ersatz für eine demokratisch legitimierte Volksvertretung, das Parlament, sein. Allerdings können direktdemokratisch getroffene Beschlüsse die Arbeit von Verwaltungen und Parlamenten hervorragend unterstützen. Deshalb gibt es auf Kommunal- und Landesebene verschiedene Möglichkeiten, sich direktdemokratisch einzubringen. Eine Form sind beispielsweise Bürgerentscheide, die häufig bei umstrittenen Bauprojekten angewandt werden. Beispielsweise entschieden sich die Bürger Helgolands per Bürgerentscheid 2011 gegen eine künstliche Inselvergrößerung und setzten ihre Meinung damit gegen den Willen der Inselverwaltung durch. In einer kleinen 1.200-Einwohner-Gemeinde wie Helgoland kann direkte Demokratie demnach durchaus funktionieren. Allerdings dauerte es fast drei Jahre, bis es zu einer endgültigen Entscheidung kam. Wenn auf der Insel 12.000 oder gar 120.000 Menschen lebten, hätte der Entscheidungsprozess vermutlich sogar noch länger gedauert. Denn je mehr Menschen sich zu einem Sachverhalt äußern, desto mehr Meinungen werden entstehen. Am Ende kann sich jedoch nur ein Standpunkt durchsetzen. Diese vielen unterschiedlichen Meinungen aufeinander abzustimmen und einen beschlussfähigen Kompromiss zu finden ist sehr aufwendig und langwierig.

Wenn der Deutsche Bundestag dieses Verfahren bei allen 150 Gesetzen, die durchschnittlich pro Jahr verabschiedet werden, anwenden würde, wäre er praktisch handlungsunfähig. Die Folgen für unsere Gesellschaft wären verheerend. Denn ohne neue Gesetze verliert Deutschland seine Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit. Daher ist es sinnvoll, Interessen ab einer gewissen Bevölkerungsgröße zu bündeln und Entscheidungen zu delegieren. Eine effiziente Form dies zu tun, ist die Wahl von Volksvertretern (z.B. Abgeordneten), also die parlamentarische Demokratie.

– Christoph Bernstiel

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