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Vereinigtes Königreich: Sicht auf Europa in Zeiten der Finanzkrise
Großbritannien wird allgemein nicht zu den EU-Mitgliedsstaaten gezählt, die zu den glühenden Verfechtern einer tieferen Integration der Europäischen Union gehören. Im Großen und Ganzen gilt das unabhängig von der jeweiligen Regierung. Allerdings hat sich die Euroskepsis innerhalb der konservativen Partei (Tories) in den langen Oppositionsjahren noch weiter ausgebreitet, als sie schon unter der Zeit von Margaret Thatcher ausgeprägt war. Vor diesem Hintergrund prägte das Europathema schon den britischen Wahlkampf im April dieses Jahr. Es wurde von der Labour Party und auch von den Liberaldemokraten davor gewarnt, die Tories zu wählen. Angesichts der Krise sei die konstruktive Zusammenarbeit der EU-Länder entscheidend. Nicht zuletzt durch den Austritt der Tories aus der Fraktionsgemeinschaft der größten Fraktion im EU-Parlament, der EVP (Europäische Volkspartei), hätten die Tories aber die letzten Freunde in Europa verloren. Sie würden somit keine Verbündeten haben, um Vorschläge innerhalb der EU mehrheitsfähig zu bekommen und britische Interessen zu wahren. Trotzdem erhielten die Konservativen bei den Parlamentswahl am 6. Mai 2010 in Großbritannien eine deutliche Mehrheit.
Das Wahlergebnis bestätigte allerdings die Befürchtungen, dass keine Partei eine absolute Mehrheit bekommen könnte. Es gab ein so genanntes „Hung Parliament“ und die Suche nach einer stabilen Regierung begann. Am Ende fand sich die einzig mögliche Koalition, die klare Mehrheitsverhältnisse sichert, eine Koalition aus der konservativen und der liberaldemokratischen Partei. Aber in der Europafrage könnten die Koalitionäre unterschiedlicher nicht sein. Denn anders als die Tories sind die Liberalen ausgesprochen europaorientiert. Somit könnten EU-Themen zum Sprengstoff für die Koalition werden. Genauso aber könnte dieses Bündnis helfen, eine pragmatische, lösungsorientierte Europapolitik seitens der britischen Regierung zu entwickeln.
Bis jetzt spricht vieles für den zweiten Fall. Anstelle des euroskeptischen Mark Francois, der bislang Europaminister im Schattenkabinett der Konservativen war, ernannte der britische Premier Cameron David Lidington, der als gemäßigt gilt. Cameron machte darüber hinaus von Beginn an deutlich, dass seine Regierung eine aktive Rolle auf der europäischen Bühne spielen wird. Er möchte auf konkreten politischen Feldern wie Klimaschutz und Entwicklungshilfe Fortschritte in der EU-Politik erreichen. Natürlich wird er auf britische Interessen achten – wie andere EU-Mitgliedsstaaten auch. Ein absolutes „NO“ gibt es dann, wenn Entscheidungsmacht von London nach Brüssel transferiert werden sollte. Nicht generell eine Vertragsänderung ist der springende Punkt, sondern die Frage der Verlagerung von Souveränität. Für so einen Fall ist zwingend die Abhaltung eines Referendums in die Koalitionsvereinbarung festgeschrieben worden.
Dass die Finanzkrise zum Handeln zwingt und man gemeinsam nach neuen Regeln suchen muss, die die Wiederholung solch einer Krise ausschließen, wird allerdings von der liberal-konservativen Koalition geteilt. So wird der Vorschlag einer Bankenabgabe zusammen mit Deutschland und Frankreich unterstützt, auch wenn die konkrete Ausgestaltung sich in den drei Ländern unterscheiden dürfte. Und auch der Debatte um eine bessere Bankenaufsicht ist man in Großbritannien aufgeschlossen gegenüber. Der neue Finanzminister Georg Osborne, der mit 39 Jahren einer der jüngsten Kabinettsmitglieder und der jüngste britische Finanzminister seit 120 Jahren ist, hat in seiner ersten Rede in der Londoner City am 16. Juni 2010 eine weitreichende Strukturreform der Aufsichtsbehörden angekündigt. Die volle Verantwortung für die Bankenaufsicht wird innerhalb der nächsten zwei Jahre auf die Bank of England zurückgehen. Die jetzige Finanzaufsichtsbehörde (FSA) wird abgewickelt. Sie hat in den Augen des Finanzministers in der Finanzkrise in schlimmer Weise versagt. Durch die künftige Konzentration der Aufsicht und Regulierung auf die Bank of England wird nach den Vorstellungen Osborne eine Institution in Großbritannien existieren, die den Gesamtüberblick über Verschuldung und Risiken hat und entsprechend rechtzeitig Gegenmaßnahmen vorschlagen und ergreifen kann.
Großbritannien gehört nicht der Euro-Zone an - ein Umstand, der im Zusammenhang mit der Griechenlandkrise und den nachfolgenden Entwicklungen nicht vergessen werden darf. Anfangs konnte man in politischen Kreisen Londons noch so etwas wie Schadenfreude, zumindest aber Genugtuung erleben, dass man dem Euro nicht beigetreten ist. Schon bald aber wurde klar, dass das Land kein Interesse an einem schwachen Euro haben kann. 55% der Exporte Großbritanniens gehen in die Euro-Zone. Das Rettungspaket für Griechenland wurde deshalb auch positiv begleitet – allerdings ohne Eigenbeteiligung. Es wurde keine Blockade vor die Griechenlandhilfe gelegt, aber die britische Regierung schloss aus, dass sie sich am Rettungspacket finanziell beteiligen wird. Das gleiche galt für den Euro-Rettungsschirm: ‚Großbritannien wird keinerlei Rolle spielen bei der Schaffung eines Funds, der strauchelnden Wirtschaften innerhalb der Eurozone helfen soll’, so der noch-Finanzminister Darling (Labour) nach der Nachtsitzung des EU-Finanzministerrates am 9. Mai 2010 .
In der Frage, ob die EU neue Institutionen benötigt, um die Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten besser überwachen und koordinieren zu können, nimmt Großbritannien erwartungsgemäß eine skeptische Haltung ein. Die Überlegungen des EU-Präsidenten Herman Van Rompuy, die Regierungen der 27 Mitgliedstaaten sollten vor der Abstimmung in ihren Parlamenten den Haushaltsentwurf Brüssel zur Überprüfung vorlegen, erfuhren eine klare Absage. David Cameron nutzte seine erstmalige Teilnahme am EU-Rat am 17. Juni 2010, um hervorzuheben, dass zuerst das britische Parlament den Haushaltsentwurf vorgelegt bekommt und niemand sonst. In der britischen Presse wird gewürdigt, dass sich der Prime Minister sicher auf dem europäischen Parkett bewegt und es schafft, britische Interessen zu wahren, ohne gleich die europäischen Partner zu verprellen. In dem konkreten Fall dürfte allerdings geholfen, dass Großbritannien nicht das einzige Land war, das Rompuys Vorschläge nicht teilte.
Nicht strittig ist dagegen die Notwendigkeit, alle Anstrengungen zu unternehmen, das Haushaltsdefizit und die Schuldenlast abzubauen. Die Konservativen haben bereits im britischen Wahlkampf darauf aufmerksam gemacht, dass Großbritannien mit einem Haushaltsdefizit von rund 180 Milliarden Euro im laufenden Haushalt ein vergleichbar großes Problem hat wie Griechenland. Die Gesamtverschuldung liegt mit rund 80% GDP dabei nicht in der selben Gefahrenszone. Trotz aller Unpopularität haben die Tories deshalb schon vor der Wahl Sparmaßnahmen schon für 2010 angekündigt. Labour hat stark dagegen argumentiert: Die beginnende Wirtschaftserholung würde dadurch aufs Spiel gesetzt und man riskiere eine „double dip recession“, wenn die Einschnitte zu früh und zu tief wären. Angesichts der dramatischen Bedrohung einiger EU-Mitgliedsländer, zahlungsunfähig zu werden, werden allerdings die Unterstützer einer strikteren Sparpolitik in Großbritannien lauter. Die Ansagen der Konservativen während des Wahlkampfes kommen nun der Regierung Cameron zugute. Sie muss sich nicht dem Vorwurf eines Wahlbetrugs aussetzen – mit Ausnahme vielleicht des liberalen Koalitionspartners, der vor der Wahl zu schnelles Sparen ebenfalls abgelehnt hatte. Finanzminister Osborne legte am 22. Juni 2010 einen Eil-Haushaltsentwurf („emergency budget“) vor, der als umfangreichster Sparhaushalt der jüngeren britischen Geschichte betitelt wird. Der Versuch, die Lasten des Sparens gleichmäßig zu verteilen, wird selbst in der gewohnheitsmäßig kritischen Presse gewürdigt. Am schwersten wiegt wohl auf den ersten Blick die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2,5% auf künftig 20% und die Erhöhung der Kapitalertragssteuer von 18% auf 28%. Aber eine Reihe von Einzelheiten ist noch nicht bekannt. So müssen die Ministerien in den nächsten vier Jahren 25% einsparen, ausgenommen sind nur der Gesundheits- und Entwicklungshilfebereich. Wie sich das konkret auswirken wird, bleibt abzuwarten. Ebenso, welche weiteren Einsparungen in den kommenden Jahren zu erwarten sind. Im Herbst wird die Regierung eine Übersicht über die öffentlichen Ausgaben und ihre mögliche Reduzierung vorlegen. Angestrebt werden dabei vor allem strukturelle Reformen.
Der britische Premierminister hat allerdings auch deutlich gemacht, dass alle Beteiligten sparen müssten – die EU eingeschlossen. Eine Erhöhung des EU-Haushaltes ist vor diesem Hintergrund nicht einzusehen. Die Haushaltsverhandlungen versprechen nicht leicht zu werden. Aber eine harte Auseinandersetzung in diesem Punkt und anderen künftigen konkreten Bereichen darf nicht missinterpretiert werden: Die jetzige Regierung Großbritanniens stellt das europäische Projekt nicht in Frage. Sie wird aber wie die Vorgängerregierungen darauf achten, dass die britische Politik vor allem durch britische Politiker bestimmt wird.