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Raul Hilbergs „The Destruction of the European Jews“

by Hildegard Mohr

Holocaustforschung als Beitrag zur Erinnerungskultur

In der neu errichteten „International School for Holocaust Studies“ veranstaltete die Gedenk- und Forschungsstätte Yad VaShem gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung ein Symposium, das sich mit der Frage beschäftigte, wie die Holocaustforschung zur Erinnerungskultur im Blick auf die Shoah beitragen kann. Anlass war die von Yad VaShem geförderte Übersetzung des Buches „The Destruction of the European Jews“ des Historikers Raul Hilberg ins Hebräische und der hebräischen Publikation des Buches in Israel.

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Raul Hilberg (1926-2009) war ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler und Historiker, der 1939 als 13-jähriger Österreich verlassen musste. Er emigrierte in die USA und gilt heute als einer der bedeutendsten Holocaust-Forscher. Während seines Dienstes in der US-Armee war er unter anderem beim „War Documentation Department“ tätig, das die Akten der Nazis und ihrer Kollaborateure zur Vorbereitung der Nürnberger Prozesse sichtete.

Er begann 1948 mit seiner Magisterarbeit und besprach auch schon seine geplante Dissertation „The Destruction of European Jewry“ mit dem Politikwissenschaftler Franz Leopold Neumann. Zunächst wollte Neumann ihn gar nicht als Doktoranden annehmen und erklärte, die geplante Arbeit werde Hilbergs „akademisches Begräbnis“ werden. Hilbergs Doktorvater nahm vor allem an jenem Teil der Untersuchung Anstoß, der sich mit jüdischer Mitwirkung am Vernichtungsprozess beschäftigte. Diese Kritik sollte Hilberg über lange Jahre seines Lebens verfolgen und blieb Diskussionsgegenstand für viele Shoah-Forscher. Von Beginn an war das Werk vor allem mit der Kritik konfrontiert, Hilberg bewerte zum einen die Rolle der Judenräte zu negativ und widme der Bedeutung des jüdischen Widerstands nicht genügend Aufmerksamkeit. Hilberg hatte sich jedoch von Anfang an auf deutsche Akten gestützt – es sollte nicht ein Buch über die jüdischen Opfer werden, sondern über die Vernichtungsbürokratie der Täter.

Avner Shalev, Direktor der Holocaust-Gedenkstätte Yad VaShem, Jerusalem, betonte nach einer kurzen Einführung in das Buch, wie sehr sich der Blick auf die Zeugen und die Zeugnisse nach Erscheinen des Buches verändert habe. Er hob hervor, dass das Verständnis des Unterschiedes zwischen der Shoah und anderen Völkermorden durch Hilbergs Buch eine neue Dimension angenommen habe.

Viele der Referenten, die bei diesem Symposium zu Wort kommen sollten, hatten Hilberg noch persönlich gekannt und konnten daher ihren wissenschaftlichen Redebeiträgen durch persönliche Erinnerungen und Anekdoten eine berührende Seite zufügen, die ihre Darlegungen zum Forschungsstand eindrucksvoll ergänzten. Das Symposium bot auch durch Ausschnitte aus Video-Interviews mit Hilberg lebendiges Anschauungsmaterial; so wurde der Autor selbst dem Publikum präsent.

Dr. David Silberklang, Moderator der ersten Sitzung, erinnerte an eine Konferenz in YadVashem, bei der Hilberg zugegen war und die entscheidend zur weiteren Entwicklung der Forschungsarbeiten über den Holocaust beigetragen habe. Er stellte zwei Forscher vor, die sich in besonderer Weise mit Hilbergs Ausführungen beschäftigen:

Für Prof. Dan Michman, Yad VaShem und Bar-Ilan Universität, Tel Aviv, war Hilbergs Buch der entscheidende Durchbruch in der Forschungsliteratur über den Holocaust als eines eigenständigen, von anderen historischen Ereignissen abgrenzbaren Vorgangs. Er beschrieb Hilbergs Herangehensweise an das Thema Shoah und die Systematik des Modells, nach dem Hilberg die historische Entwicklung ab 1933 bis hin zur Vernichtung der Juden gliederte. Die seit den 1970er Jahren üblich gewordene Bezeichnung „Holocaust“ als Inbegriff der Vernichtung der europäischen Juden sei damals noch nicht bekannt gewesen. Man habe, um dem Völkermord einen Namen zu geben, zum Beispiel das hebräische „Churban“ (Katastrophe, Zerstörung, Niedergang) benutzt.

Hilberg habe den Schwerpunkt seiner Forschung auf die Arbeitsorganisation der Nationalsozialisten gelegt und in einem Vier-Stufen-Modell den Radikalisierungsprozess von der Ausgrenzung ab 1933 über die Gettoisierung bis hin zum organisierten Massenmord durch die Bürokratie der Täter analysiert. Deshalb nähmen Himmler und Eichmann einen wesentlich größeren Teil der Aufmerksamkeit in Hilbergs Buch ein als zum Beispiel Hitler selbst. Dadurch werde die entscheidende Verantwortung Hitkers nicht gemindert. Es sei Hilberg lediglich darum gegangen zu zeigen, wie die Möglichkeiten der Bürokratie in einem unvergleichlichen Apparat der Vernichtung genutzt wurden; Hitler habe sich für Einzelfragen der organisatorischen Durchführung nicht interessiert. Zitat Hilberg von 1983: „Aber was 1941 begann, war kein im Voraus geplanter, von einem Amt zentral organisierter Vernichtungsvorgang. Es gab keine Pläne und kein Budget für diese Vernichtungsmaßnahmen. Sie erfolgten Schritt für Schritt, einer nach dem anderen. Dies geschah daher nicht etwa durch die Ausführung eines Planes, sondern durch ein unglaubliches Zusammentreffen der Absichten, ein übereinstimmendes Gedankenlesen einer weit ausgreifenden Bürokratie.“

Prof. Dina Porat beleuchtete in ihrem Beitrag Hilbergs Auffassung von der Rolle der „Judenräte“ – einer von den Tätern erfundenen Einrichtung, die im Zusammenhang mit dem Gettoisierungsprozess Bedeutung erlangen sollte. Diese jüdischen Selbstverwaltungsorgane, von der deutschen Besatzung als Befehlsempfänger zwangsweise geschaffen, waren zunächst der deutschen Zivilverwaltung gegenüber verantwortlich, später den SS- und Polizeikräften. In der Praxis kam diesen „Judenräten“ vor und während der Gettoisierung etwa die Aufgabe zu, Mannschaften für Zwangsarbeitseinsätze zusammenzustellen, die Auslieferung der verbleibenden Vermögenswerte der jüdischen Bevölkerung zu organisieren, und schließlich sogar, im Zuge der Auflösung der Ghettos ab dem Jahr 1942, lokale Maßnahmen zur Unterstützung der Deportation in die verschiedenen Vernichtungslager zu ergreifen. Hilberg wurde vielfach vorgeworfen, dass er die Judenräte als Teil des Vernichtungsapparates gesehen und somit den Opfern eine gewisse Mitschuld an der Entwicklung der Ereignisse gegeben habe.

Prof. Porat arbeitete in ihrem Vortrag den Unterschied zwischen Hilbergs theoretischen Ansätzen (Strategien, Politik, psychologischer Kampf in den Ghettos) und der Wirklichkeit des täglichen Lebens an diesen Orten heraus. So konnten Ghettos laut Porat auch eine Zeitlang mit der in ihnen durch die Opfer gelebten Kultur und Erziehung als Orte der Wahrung menschlicher Würde betrachtet werden.

Die zweite Sitzung war dem Aspekt der Holocaust-Forschung in Deutschland und Israel vor dem Hintergrund der Arbeiten Hilbergs gewidmet.

Prof. Michael Wildt von der Humboldt-Universität Berlin gab nach einem kurzen Abriss zur Vita Hilbergs einen Überblick des Weges von Hilberg hin zum Holocaust Forscher. Er beschrieb die Einflüsse, die Hilberg zu diesem Thema führten, und seine Arbeit in den Archiven. Herausragend für Wildt war Hilbergs Erkenntnis, dass ohne systematische Einarbeitung in die Gedankenwelt und Aufzeichnungen der Täter ein volles Verständnis ihrer Taten unmöglich sei. Wildt berichtete von der Leidenschaft Hilbergs für Archive und Dokumente und die Akribie, mit der er sich durch eine unvorstellbar große Materialfülle arbeitete. Die Auseinandersetzung Hilbergs mit der Sprache der Täter habe in nicht geringem Maße zum Einblick in die Abgründe des Bösen beigetragen. Ein Beispiel: Wie kann das neutrale englische Wort „protocol“ die Konnotationen des deutschen Wortes „Niederschrift“ deutlich machen?

Wildt beschrieb auch die verschiedenen Hindernisse, die es bis zur Herausgabe des Buches und darüber hinaus zu überwinden galt. Hilberts Aufzeichnungen fanden anfangs kaum Interesse, dafür um so mehr Kritik. Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ wurde weit mehr beachtet, obwohl Arendt Hilberg sogar erwähnte. Den fast lebenslangen Disput und das Unverständnis, ja sogar eine gewisse Feindseligkeit zwischen beiden analysierte Wildt ausführlich. So wurden erst in späten Jahren Hilbergs Bemühungen für eine streng historische Betrachtung honoriert – eine Methodik, die Arendt nie wichtig genug war. Sie gab der politikwissenschaftlich-philosophischen Betrachtung den Vorzug und drängte in der öffentlichen Wahrnehmung Hilberg an den Rand, was dieser verbittert mit der Zerstörung seines Lebenswerkes durch Hannah Arendt beschrieb: „Sie kehrt immer wieder wie ein Geist zurück…“ Bis ins Alter sei Hilberg mit dieser Enttäuschung nur schlecht zurecht gekommen.

Das Referat Prof. Yehuda Bauers war eine Hommage an Hilberg, eine ganz persönliche Darstellung der gemeinsam mit ihm verbrachten Stunden. Bauer ließ dabei auch kleine Streitigkeiten nicht außer Acht. Er berichtete von endlosen Gesprächen zur eigenen Frage nach dem „Warum“ des Holocaust und Hilberts Entgegnung mit dem „Wer und Wie“ – Fragen, an denen beide Historiker sich lebenslänglich aufrieben und in deren Beantwortung sie sich oft uneinig blieben, ohne dass darunter ihre tiefe Freundschaft gelitten hätte.

In der letzten Sitzung gab Dr .Roni Stauber einen Einblick in die Entstehung der Holocaustforschung. Als Grundlage diente ihm die Begegnung Hilbergs mit Philip Friedman. Dieser war Holocaustüberlebender und leitete bis zur deutschen Besetzung Polens eine Zweigstelle des „Institute for Jewish History“ Instituts in Warschau. Er emigrierte nach dem Krieg in die USA und veröffentlichte die ersten historischen Werke zum Holocaust aus der Opferperspektive. Jacob Robinson, Gründer des Instituts, und Friedman veröffentlichten 1960 das erste regelmäßige Journal zum Holocaust, gefolgt von umfassenden Bibliographien. Diese Sammlungen vornehmlich jüdischer Holocaustliteratur gelten als Grundlagenwerke für die Holocauststudien, die seit 1967 als spezieller Forschungszweig entstanden sind. Dabei spielen Zeugnisse der Opfer eine ebenso entscheidende Rolle wie Zeugnisse der Täter. Hier unterschieden sich Hilberg und Friedmann in ihren Ansätzen. Stauber verstand es, das Publikum mit der Beschreibung und der unterschiedlichen Herangehensweise der beiden Historiker an ein derart schwieriges Thema in seinen Bann zu ziehen.

Der vorletzte Beitrag erklärte die Geschichte der Entstehung der hebräischen Übersetzung und den langen Weg dorthin. Dr. Bella Guttermann war verantwortliche Projektleiterin in Yad VaShem; sie stand in regelmäßigem Kontakt mit Hilberg und nach seinem Tode mit seiner Frau. Guttermanns Erinnerungen ergaben ein buntes und bewegendes Bild ihrer ganz persönlichen Eindrücke während der Arbeit mit Hilberg an der Übersetzung. Sie verstand es, Hilbergs akribisches Ringen um Schrift, Seitengröße, Photos, Korrekturen etc. humorvoll zu schildern, und zitierte aus Briefwechseln während der langjährigen Arbeitsphasen, in denen Hilberg über 150 Seiten mit Korrekturwünschen an Yad VaShem sandte – zahlreiche davon allein zu Aussehen und Erstellung des Inhaltsverzeichnisses.

Den Abschlussvortrag hielt als besonderer Gast Hilbergs Tochter Deborah Hilberg. Sie brachte den Zuhörern den Menschen Hilberg aus familiärer Perspektive nahe und ließ das Publikum teilhaben an zutiefst persönlichen Erinnerungen, Anekdoten aus der Kindheit, Gesprächen und Fragen aus der Teenagerzeit und dem fast philosophischen Gedankenaustausch mit ihrem Vater zum Thema Holocaust, dem Bösen und dem menschlichen Dasein angesichts solchen Leids.

Ganz natürlich war es, daraufhin Raul Hilberg selbst die Schlussworte zu überlassen. In einem Video aus dem Jahre 2004, das während eines Interviews in Yad VaShem aufgezeichnet wurde, sagte Hilberg abschließend: „There was no banality in this evil“ – Es gab keine Banalität in diesem Bösen!

Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist sich ihres Auftrages bewusst, die Relevanz historischer Ereignisse für die heutige Generation begreifbar zu machen. Ein Zitat einer leitenden Mitarbeiterin aus der Schule für Holocaust-Studien macht deutlich, was verantwortlicher Umgang mit Geschichte im Blick auf die Zukunft an einem Ort wie Yad VaShem bedeutet: „Empathisches Geschichtslernen heißt: Geschichte wird von Menschen gemacht. Jeder Einzelne trägt mit seinen Entscheidungen die Geschichte ein Stück weiter, jeder Einzelne prägt mit seinen Entscheidungen unsere Gegenwart.“

Hildegard Mohr

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