So beschreibt Oksana Khmelnytska, eine ausgebildete Psychotherapeutin, ihre Arbeit. Seit dem Maidan ist sie als Projektleiterin der Nichtregierungsorganistation (NRO) “Ukrainian Professional Association of Overcoming the Consequences of Traumatic Events“ (USOCTE) tätig, einem psychologischen Krisendienst für Menschen, die direkt oder indirekt von den Folgen des Krieges in der Ostukraine betroffen sind. Bei ihren Patienten handelt es sich oft um Binnenflüchtlinge (IDPs), ehemalige Soldaten, Anwohner der Frontlinie, um Mütter oder Frauen von verwundeten oder verstorbenen Soldaten. Traumatherapie ist ein von Frauen dominierter Beruf in der Ukraine geworden, obwohl vor dem Krieg nur wenige Psychologen generell auf dem Gebiet der Traumatherapie ausgebildet waren. Die NGO beschäftigt 50 Frauen und vier Männer im Osten des Landes und arbeitet mit mobilen Hilfstrupps in Gebieten der Ostukraine sowie in Kiew und anderen ukrainischen Städten, wo Binnenflüchtlinge leben.[i]
Die Rolle der Frauen in der Ukraine ist vielseitig, während immer noch Stereotypen vom post-sowjetischen patriarchalen Familienbild bestehen, gibt es zunehmend westlich-orientierte, selbstständige und engagierte Frauen. Diese werden als positive Katalysatoren für sozialen und politischen Wandel wahrgenommen.[ii] Wie hat sich die Rolle der Frauen seit den in der Ukraine „Revolution der Würde“ genannten Protesten von 2014 und dem Konflikt in der Ostukraine also gewandelt?
Frauen in der ukrainischen Politik und Gesellschaft
Die Parlamentsabgeordnete Switlana Zalischtschuk stellt fest, dass sich zwar die Geschlechtergleichstellung mit dem Wachstum der ukrainischen Zivilgesellschaft seit dem Maidan 2014 positiv entwickelt habe, betont jedoch gleichzeitig, dass sich trotzdem noch sehr viel verbessern müsste. Nur 12% der Abgeordneten der Werchowna Rada sind weiblich, das sind nur halb so viele wie im EU-Durchschnitt von 25,8%. Damit liegt die Ukraine nur auf Rang 145 von 190 Ländern.[iii] Der Anteil von Frauen am Arbeitsmarkt ist mit 55.7% deutlich geringer als der von Männern, welcher bei 69.0% liegt. Obwohl die Ukraine alle wichtigen internationalen Abkommen über die Gleich-berechtigung von Männern und Frauen unterzeichnet hat, ist die Umsetzung dieser Abkommen nicht automatisch gewährleistet.
Eine leicht positive Entwicklung zeichnet sich dennoch seit der „Revolution der Würde“ ab. Schon die verschiedenen Rollen der Frauen in den Revolutionen 2004 und 2014 zeugen von einer neuen Akzeptanz der Frau in der ukrainischen Gesellschaft. Während der orangenen Revolution 2004 nahmen weibliche Demonstrantinnen überwiegend eine Art “Mutterrolle” ein und kümmerten sich um die Nahrungsversorgung der Demonstranten. Während der „Revolution der Würde“ hingegen spielten Frauen auch eine aktivere Rolle in den Verteidigungsgruppen und in der medizinischen Notfallversorgung, oder sorgten als Journalistinnen und Fotografinnen für Transparenz und Aufklärung. Obwohl die orangene Revolution bereits erste Gesetzesinitiativen zur Verbesserung der Frauenrechte hervorgebracht hatte, wurden diese 2010 vom Janukowytsch-Regime wieder zurückgefahren. Mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens im Jahr 2014 bekannte sich die neue ukrainische Regierung offiziell zu der Verpflichtung, gleiche Bedingungen für Männer und Frauen in den Bereichen Arbeit, Bildung, Ausbildung, Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen. Aktuell gibt es außerdem ein Vorhaben der Regierung, in jedem Ministerium einen Posten für Genderpolitik zu schaffen. Die rechtlichen Grundlagen für eine Gleichberechtigung und größere politische Partizipation sind vorhanden und bereits seit langem auch in der ukrainischen Verfassung verankert, allerdings müssen diese auch umgesetzt werden.
Gründe für den besonders niedrigen Frauenanteil in politischen Führungspositionen (12.5 % im Ministerkabinett und 16.7% in höchsten Regierungspositionen) liegen in den patriarchalischen Rollenbildern, aber auch in schwerfälligen Systemstrukturen und in fehlendem politischen Willen.[iv] Zu den Defiziten des Systems gehören zudem die Schwäche des Rechtsstaatsprinzips und die geringe institutionelle Unterstützung der Gleichberechtigung von Geschlechtern. Der Freedom-House Report aus dem Jahr 2017 zeigt, dass die fehlende Umsetzung von Gesetzen maßgebend für die schleppende Verbesserung sind: Obwohl das 2015 verabschiedete Gesetz über lokale Wahlen eine Frauenquote von 30% auf den Parteilisten vorsieht, wird die Einhaltung nicht konsequent verfolgt und Parteien, die sich nicht an die Quote halten, werden strafrechtlich nicht belangt.[v]
Auch wenn starke, weibliche Persönlichkeiten, wie beispielsweise die Vize-Premierministerin für Euro-Atlantische Integration Iwanna Klympusch-Tsindsatse, die Vize-Parlamentspräsidentinnen Iryna Heraschtschenko und Oxana Syroiid oder die Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Hanna Hopko, seit der „Revolution der Würde“ wichtige politische Positionen eingenommen haben, ist es bis zur wirklichen Gleich-berechtigung in Politik und Gesellschaft in der Ukraine noch ein weiter Weg.
Frauen und der Konflikt in der Ukraine
Obwohl Frauen also nur einen geringen Anteil der politischen und gesellschaftlichen Elite des Landes ausmachen, sind sie die größten Opfer des Konflikts in der Ostukraine und ihre Stimme wird oft nicht gehört. Laut den Vereinten Nationen (VN) handelt es sich bei 58 % der Binnenflüchtlinge um Frauen, und 74% der älteren Menschen, die vom Konflikt betroffen sind, sind weiblich. Im ganzen Land leiden 22% der Frauen zwischen 15-49 Jahren unter physischer oder psychischer Gewalt, die Dunkelziffer ist wahrscheinlich deutlich höher. Seit dem Ausbruch des Krieges haben Gewalt gegen und sexueller Missbrauch von Frauen zugenommen.[vi]
Frauen sind jedoch nicht nur Opfer, sondern auch aktive Akteure. In den militärischen Streitkräften der Ukraine gibt es ca. 25.000 Frauen also etwa 22 Prozent, nach Angaben des Verteidigungsministeriums (in Deutschland nur 12%). In diesem Jahr hat auch eine rein weibliche Truppe an der Militärparade der Feierlichkeiten der ukrainischen Unabhängigkeit teilgenommen. In der Zivilgesellschaft sind meistens die Frauen aktiv und leiten zahlreiche NROs, die sich für die Opfer des Konfliktes einsetzen. Obgleich vor allem Frauen eine wichtige Rolle in dem Konflikt einnehmen und zugleich unter diesem am meisten Leid tragen, sind ihre Stimmen und Interessen auf der internationalen Ebene der Konfliktbewältigung kaum vertreten. Die Trilaterale Kontaktgruppe zur Überwachung der Minsk-Abkommen und deren Arbeitsgruppen beispielsweise sind klar männerdominiert, bis auf die neue junge Vertreterin der „Donetzker Volkrepublik“ Natalja Nikonorowa nehmen an ihnen hauptsächlich männliche Vertreter teil. In der Arbeitsgruppe Humanitäres gibt es einen höheren Frauenanteil, beispielsweise die ukrainische Beauftragte Irina Heraschtschenko, die zugleich sehr einflussreich sei, so ein Diplomat der als Teil der OSZE-Delegation an den Treffen in Minsk teilnimmt.
Der Nationale Aktionsplan und Defizite in der Umsetzung
Die Vize-Premierministerin für Euro-Atlantische Integration, Ivanna Klympusch-Tsintsadze betonte in ihrer Rede vom 13. März diesen Jahres bei der 62. Sitzung der Frauenrechtskommission der VN vor allem die prekäre Lage der Frauen in ländlichen Regionen. „Die Ukraine hat verstanden, dass nachhaltige Entwicklung nur durch umfassende Mitwirkungsmöglichkeiten für Frauen möglich ist“, so die Vize-Premierministerin.[vii] Im Jahr 2014 verabschiedete die Regierung von Präsident Petro Poroschenko einen „Nationalen Aktionsplan (NAP)“ der die Resolution 1325 des Sicherheitsrats der VN zur Miteinbeziehung von Frauen in Frieden und Sicherheit gewährleisten soll. Durch die Verabschiedung der internationalen Konventionen für Frauenrechte und durch den NAP wurden folgende Prioritäten gesetzt: Auswirkungen des Krieges auf Institutionen und Versorgungsleistungen für Frauen zu beobachten, Kapazitätsaufbau für die Implementierung zur Gewährleistung und Sensibilität und Rehabilitation für Opfer von sexueller Gewalt zu unterstützen, das Bewusstsein in den Konfliktzonen zu erhöhen sowie die Umsetzung des NAP zu überwachen.[viii] Doch auch hier bewerten Experten die Umsetzung dieser Prioritäten als mangelhaft.
Laut einer Studie der “Justice for Peace in Donbas Coalition” hat sich gender-basierte Gewalt zwischen 2014 und 2016 deutlich erhöht. In einer qualitativen Studie wurden von 2014 bis 2016 276 Interviews mit Opfern und Augenzeugen durchgeführt, wodurch mindestens 206 Opfer identifiziert wurden (92 Männer und 114 Frauen).[ix] Der Großteil dieser Fälle fand in illegalen Haftanstalten in der Ostukraine statt und schloss folgende Gewalttaten mit ein: Vergewaltigung oder Drohung mit derselben, unmenschliche Behandlung (z.B.: kein Zugang zu regelmäßiger Körperhygiene oder frischer Luft), Verstümmelung oder Penetrierung von Geschlechtsteilen mit Strom oder Hitze, Zwang zur Prostitution oder Menschenhandel. Auch vor dem Missbrauch schwangerer Frauen wurde kein Halt gemacht, was zur Folge hatte, das eine Frau ihr Kind verlor. Unter den Tätern waren sowohl Mitglieder der ukrainischen Armee, als auch Soldaten der sogenannten “Volksrepubliken”, wobei letztere eine deutlich höhere Zahl aufwiesen; In 84 Interviews wurden Separatisten als Täter identifiziert und in 11 ukrainische Soldaten. Das große Problem sei die fehlende Meldung und Verurteilung der Straftaten, so die Studie. Gender-basierte Gewalt wird in Statistiken oft nicht mitaufgenommen, da diese nur standardisierte Fälle von Vergewaltigung oder Raub verzeichnen, außerdem variierten Statistiken der verschiedenen Behörden stark.
Auch die häusliche Gewalt gegen Frauen hat infolge des gewaltsamen Konflikts in der Ostukraine nachweislich zugenommen. Die Rückkehr von traumatisierten Soldaten, die Tabuisierung des Themas und geringe Informationsmöglichkeit sowie die fehlenden staatlichen Einrichtungen zur Traumatherapie sind Gründe dafür. Laut den VN haben 22% der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren in der Ukraine mindestens eine Form körperlicher oder sexueller Gewalt erfahren, 90% der Fälle von geschlechterspezifischer Gewalt richten sich gegen Frauen, jedoch werden nur 30% der Fälle von Gewalttaten angezeigt, aufgrund der Tabuisierung und drohender Stigmatisierungen der Opfer. Im Vergleich dazu gab in der Europäischen Union sogar jede dritte Frau an, seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren zu haben.[x]
Die wirklichen Zahlen von Gewalt gegen Frauen und gender-basierter Gewalt sind also schwer auszumachen. Vor diesem Hintergrund, wird es allzu deutlich, dass auch der ukrainische Staat in der Information, Bildung und Reform des Gesundheitssystems bezüglich mentaler Gesundheit noch viel zu tun hat. Die NRO von Oksana setzt sich für eine Verbesserung dieser Defizite ein und möchte die Ausbildung von Trauma-Therapeuten reformieren und die schlechte Versorgungslage mit Psychologen und Fachärzten für mentale Gesundheit verbessern. Um dies zu erreichen, arbeitet sie derzeit in der Untergruppe für mentale Gesundheit mit dem Gesundheitsministerium zusammen.
Fazit
Die Rolle der Frauen in der Ukraine ist also differenziert zu betrachten: einerseits sind sie die größeren Opfer des Konflikts und gleichzeitig tragen zahlreiche Frauen aktiv zum sozialen und politischen Wandel im Land bei; andererseits haben sie nur geringe politische Verantwortung. Dass es einen NAP zur Umsetzung der internationalen Verpflichtungen zu Gleichberechtigung gibt sowie Gender-Beauftragte in den Ministerien, ist lobenswert aber wie so oft scheitert es an der Umsetzung.
Vor dem Hintergrund, dass erst im September diesen Jahres der Friedensnobelpreis an Nadia Murad und Denis Mukwege ging, zwei Personen die gegen sexuelle Gewalt als Kriegswaffe kämpfen, sollte das Thema auch bei der Ukraine mitgedacht werden.
[i] Die NGO “Ukrainian Professional Association of Overcoming the Consequences of Traumatic Events“ (USOCTE) hat ca. 340 Mitglieder in der Ukraine und wird unter anderem von Brot für die Welt und Malteser unterstützt. Mehr Informationen unter http://psyservice.org
[ii] U.S. Civil Society Working Group on Women, Peace, and Security: Policybrief 01.06.2017 https://www.usip.org/sites/default/files/us-cswg-policy-brief-building-gender-equality-in-ukraine.pdf
[iii] United Nations Ukraine: Gender Equality, unter http://www.un.org.ua/en/resident-coordinator-system/gender-equality
[iv] United Nations in Ukraine 2017 NATIONAL BASELINE REPORT «Sustainable Development Goals: Ukraine»
15. 09.2017. http://www.un.org.ua/images/SDGs_NationalReportEN_Web.pdf
[v] Home Office United Kingdom, The Independent Advisory Group on Country Information: Country Policy and Information Note Ukraine: Gender-based violence Mai 2018. https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/706570/Ukraine_-_Women_Fearing_GBV_-_CPIN_-_v2.0.pdf
[vi] Iryna Slavinska, Viktoriya Yermolayeva: Marta Havryshko: In the ATO zone, women are often sexually abused by soldiers, but refuse to speak out, Euromaidanpress 05.07.2017. http://euromaidanpress.com/2017/07/05/110622/
[vii] Permanent Mission of Ukraine to the United Nations in New York: Statement 13.03.2018. https://ukraineun.org/en/press-center/305-statement-by-ms-ivanna-klympush-tsintsadze-deputy-prime-minister-for-european-and-euro-atlantic-integration-of-ukraine-at-the-62nd-session-of-the-un-commission-on-the-status-of-women/
[viii] United Nations Security Council Resolution 1325 (2000), https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N00/720/18/PDF/N0072018.pdf?OpenElement und NAP https://www.peacewomen.org/sites/default/files/Ukraine_NAP.pdf
[ix] Coalition "Justice for Peace in Donbas" Unspoken pain: Gender-based violence in the conflict zone of Eastern Ukraine, 01.02.2017. https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Unspoken-Pain-web.pdf
[x] United Nations in Ukraine 2017 NATIONAL BASELINE REPORT «Sustainable Development Goals: Ukraine»
15. 09.2017. http://www.un.org.ua/images/SDGs_NationalReportEN_Web.pdf